Anfang März 1765
Friedrich Heinrich von Einsiedel war ratlos und mit seinem Latein am Ende. Er hatte angenommen, ein paar Tage im Kellerverlies würden bei Elisabeth Scheffler ausreichen, um sie zum Reden zu bringen. Doch seine Menschenkenntnis hatte ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Mädchen war eine harte Nuss, die nicht zu knacken war. Natürlich hätte er sie auspeitschen lassen können, um ihre Zunge zu lösen. Aber sie war schwanger. Friedrich Heinrich wollte lieber kein Risiko eingehen, sie könnte aufgrund der Leibstrafe das Kind und dadurch womöglich sogar ihr eigenes Leben verlieren.
Von Einsiedel war kein Herr, der seine Untertanen auf Biegen und Brechen zum Gehorsam zwang. Dass er jedoch gerade bei einer Frau an seine Grenzen stieß, nagte arg an seinem Selbstbewusstsein.
Kurz vor den Weihnachtstagen 1764 hatte er Elisabeth ein Bett in der Mägdekammer zugewiesen. Sie bekam Kost und Logis, musste aber alle Arbeiten ausführen, die ihr aufgetragen wurden. Außerdem durfte sie das Anwesen des Rittergutes nicht verlassen. Mutter und Vater durften sie besuchen, ansonsten war jeglicher Kontakt mit der Außenwelt verboten. Friedrich Heinrich wollte damit vermeiden, dass das Mädchen flüchten oder Kontakt mit dem Vater des Kindes aufnehmen konnte. Bisher konnte er immer noch nicht in Erfahrung bringen, wer der Mann war. Elisabeth schwieg wie ein Grab. Auch ihre Eltern, die anfangs mit Engelszungen, später auch mit dem nötigen Ernst, auf das Mädchen einredeten, konnten keinen Erfolg vermelden.
Normalerweise hätte von Einsiedel das Mädchen strenger bestrafen müssen. Doch es graute ihn, eine schwangere Frau auspeitschen zu lassen und danach zu verstoßen. Von Johann hatte er erfahren, dass der Vater des Kindes ein verheirateter Mann war. Die Strafe für solch ein Vergehen war hoch, für die Frau und auch für den Mann.
Er hätte sie gerne mit seinem Sekretär vermählt. Als Johann eines Tages zu ihm kam und um die Erlaubnis bat, um Elisabeth zu freien, fiel er aus allen Wolken. Aber auch Johann hatte keinen Erfolg. Elisabeth lehnte ihn ab und beschimpfte ihn.
Laut der Hebamme Ursel, die von Einsiedel für Elisabeth rufen ließ, konnte es sich nur noch um Tage handeln, bis die junge Frau niederkam. Ursel kümmerte sich um alle schwangeren Frauen, aber auch um die Wöchnerinnen und deren neugeborenen Kinder. Auch Elisabeth wurde von ihr gründlich untersucht. Sie stellte Fragen, wischte aber auch Ängste weg wie Staub von einer Kommode. Doch leider misslang es auch der Hebamme, wie so vielen vor ihr, den Namen des Vaters aus Elisabeth heraus zu kitzeln.
Eines Tages besprach von Einsiedel mit seinem Sekretär die bevorstehenden Reparaturen am Zaun um den Park des Anwesens. Von Einsiedel musste herausfinden, wie es um seine Finanzen stand, denn Geld leihen, um die Reparatur zu finanzieren, wollte er nicht.
Johann war gut im Bilde über das Hab und Gut seines Herrn. Daher nahm von Einsiedel gerne den Rat des jungen Mannes an.
„Was meint Er“, sagte von Einsiedel zu Johann, „was mag ein neuer Zaun kosten? Der Gärtner hat festgestellt, dass der alte Zaun um den Park einige arge Schwachstellen aufweist. Wild, vor allem Schweine, sind eingedrungen und haben immensen Schaden angerichtet. Wir müssen das unbedingt so bald wie möglich in Ordnung bringen, wenn unser schöner Park nicht ganz den Schweinen zum Opfer fallen soll.“
„Ich werde mich darum kümmern“, versprach Johann sogleich. „Wir könnten im Wald hinter der Mühle Bäume fällen und diese für den Bau eines Zaunes verwenden. Das wäre billiger als in der Sägemühle zu kaufen“, schlug er vor. Er hatte aber noch etwas anders auf dem Herzen, über das er mit seinem Dienstherrn besprechen wollte. Er wusste nur noch nicht, wie er am besten anfangen sollte.
Friedrich Heinrich kannte seinen Sekretär seit vielen Jahren. So erkannte er auch, dass ihm etwas unter den Nägeln brannte. „Johann, was ist los?“, fragte er den jungen Mann unverblümt.
„Was soll los sein?“, kam anstatt einer Antwort von Johann.
„Ich sehe es doch an Seiner Nasenspitze an! Also heraus mit der Sprache und keine Scheu!“
Johann wurde rot, begann aber doch zu sprechen. „Die Elisabeth geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Es ist bedauerlich, dass sie mein Werben abgelehnt hat. Ich hätte sie gerne zur Frau genommen.“
„Das finde ich auch“, erwiderte von Einsiedel. „Ihr wäret ein schönes Paar. Aber so…“ Er schüttelte den Kopf.
„Was soll nun geschehen?“, wollte Johann wissen.
„Sobald das Kind geboren ist, muss Elisabeth uns verlassen. Das Kind muss sie mitnehmen. Ich kann es nicht dulden, dass eine Ehebrecherin weiterhin unter meinem Dach lebt.“
„Aber Herr! Ich bitte Euch, Gnade walten zu lassen.“ Johann sprang auf und rang die Hände.
„Es tut mir leid, meine Gnade wurde bis aufs Äußerste ausgereizt. Elisabeth blieb stur, obwohl wir ihr jedwede Hilfe angeboten haben, so wie sie mir im Gegenzug nur den Namen des Vaters nennen sollte. Nur durch Ihn…“, er sah Johann an, „konnte ich erfahren, der Vater ist ein verheirateter Mann. Trotz dieses Wissens bestrafte ich sie nicht für diesen Fehltritt. Meine Geduld hat nun ein Ende.“
„Herr von Einsiedel, ich bitte Euch“, versuchte Johann es noch einmal.
„Schweig Er!“, knurrte von Einsiedel seinen Sekretär an. „Mein letztes Wort ist bereits gesprochen. Meine Entscheidung steht fest: Elisabeth und ihr Kind müssen uns verlassen.“
„Könnte nicht wenigstens das Kind hierbleiben. Wir finden bestimmt eine Amme, die sich dessen annimmt?“, versuchte Johann einzulenken.
„Welche Frau würde das Kind eines Ehebrechers an ihrem Busen nähren? Johann, werde Er wach! Es gibt nichts mehr, was wir für diese arme Seele tun können. Und nun schweige Er über diese Sache. Ich will nichts mehr davon hören.“
Elisabeth, die eben vor der Tür des Kontors von Herrn Einsiedel putzte, hörte die erregten Stimmen, die aus dem Kontor drangen. Sie erkannte Johanns Stimme und auch die des Herrn. Die beiden schienen aufgeregt miteinander zu diskutieren. Neugierig war Elisabeth zwar nicht, aber als sie ihren Namen hörte, war es um sie geschehen. Sie schlich sich näher und drückte ihr Ohr an das Holz der Tür. Ihr Atem ging schwer vor Aufregung. Was mochten die beiden Herren nur über sie sprechen. Sie, die nur eine geduldete Person im Rittergut war.
„Oh mein Gott“, Elisabeth hätte am liebsten laut aufgeschrien, als sie erfuhr, ihre Tage hier waren gezählt. Sie wusste von der Hebamme, die Geburt ihres Kindes stand kurz bevor. In einigen Tagen wäre sie Mutter, und dann müsste sie hier weg. Ohne Dach über dem Kopf, mit einem Neugeborenen. Wohin sollte sie sich nur wenden? Sie hatte genug gehört, um zu wissen, auch ihre Eltern durften sie nicht aufnehmen. Der Herr duldete keine Ehebrecher auf seinem Lehen.
Es kostete sie alle Kraft, nicht zusammenzubrechen und ihre Arbeit fortzusetzen, als wäre nichts geschehen. Herr von Einsiedel mochte keinen Müßiggang und legte stets Wert darauf, dass seine Bediensteten fleißig ihrer Arbeit nachgingen. In den letzten beiden Monaten hatte sie nicht nur einmal mit ansehen müssen, wie er Müßiggänger bestrafte. Die Peitsche saß locker.
Am Abend, als bereits alle in ihren Betten lagen und schliefen, schlich sich Elisabeth nach draußen. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie musste zu Hans. Noch immer hatte sie die Hoffnung, er entscheidet sich für sie. Gerade jetzt, wo sie kurz vor der Niederkunft stand, wäre es eine große Hilfe, ihn an ihrer Seite zu wissen. Seit er sie bei ihrem letzten Treffen davongejagte, hatte sie den Müllermeister nicht mehr gesehen. Somit entzog es sich auch ihrer Kenntnis, ob er seine Meinung geändert hatte.
Elisabeth wusste zwar nicht, ob und wann sie Hans antreffen würde. Daher musste sie auf gut Glück losziehen. Bis zur Mühle war es nicht weit. Eine gute halbe Stunde zu Fuß benötigte sie. Sie trug sich schwer an ihrem hochschwangeren Leib und kam deshalb nur sehr langsam voran. Außerdem ängstigte sie sich, von den Bediensteten des Rittergutes oder Leuten aus dem Dorf ertappt zu werden.
Als sie an der Mühle ankam, war dort bereits alles dunkel. Elisabeth war ermattet und hätte sich am liebsten irgendwo zur Ruhe gelegt. Doch ihr Vorhaben, den Müller abzupassen und zur Rede zu stellen, ließ sie die Müdigkeit vergessen.
Hans Schumann und dessen Familie schien schon zu schlafen. Ein Hund bellte, dass Elisabeth es vorzog, in dem kleinen Schuppen am Fuße der Mühle auf Hans zu warten. Schlimmer wäre es, die Familie wurde vom Gebell ihres Hofhundes wach und würde nachschauen, wer sich zu dieser späten Stunde herumtrieb. So konnte es gut möglich sein, dass sie entdeckt wurde. Das wollte sie keinesfalls riskieren.
Die Nacht verging nur langsam. Elisabeth fror erbärmlich. Ihr Umhang schützte sie kaum vor der Kälte. Die Mühle stand an der höchsten Stelle der Umgebung. So zog der Wind auch dementsprechend heftig um die Ecken. Der Wind strich um den Korpus, es knirschte und quietschte an allen Ecken und Enden. Die junge Frau bekam es mit der Angst zu tun. Es war ihr unheimlich, sich hier allein im Dunkeln aufzuhalten. Der Schuppen bot leider nur wenig Schutz. Die Bretter der Wände waren nur nachlässig zusammengefügt und ließen auch dort den Wind hindurchpfeifen. Trotzdem harrte sie aus bis der Morgen graute.
Wie sie es angenommen hatte, verließ der Müller als erster das Haus. Noch verschlafen begab er sich zur Mühle, um dort nach dem Rechten zu schauen. Im Winter und im Frühjahr gab es nur wenig zu tun. Diese Zeit wurde meist genutzt, um Reparaturarbeiten durchzuführen. Trotz der Jahreszeit ließ es sich Hans nicht nehmen, jeden Morgen zuerst zur Mühle zu gehen.
Elisabeth spähte durch einen Spalt nach draußen. Sie sah den Mann näherkommen. Noch hatte er die Besucherin nicht entdeckt. Als Hans die Treppe hinauf gehen wollte, kroch Elisabeth aus ihrem Versteck und hielt ihn auf.
„Hans, warte“, rief sie leise, dass er sie kaum hören konnte.
Doch der Müller hatte ein gutes Gehör. Er vernahm das leise Rufen und sah sich um. Da entdeckte er Elisabeth, die auf ihn zukam. Sie bewegte sich nur langsam, ja fast steif, als hätte sie die Nacht im Freien verbracht. Ihr Leib war stark angewachsen. Hans wusste, sie musste kurz vor der Niederkunft stehen.
„Was willst du?“, fragte er sie barsch, als sie herangekommen war.
„Du musst mir helfen“, erwiderte Elisabeth.
„Warum sollte ich das tun?“, wollte Hans wissen.
„Du bist der Vater meines Kindes, ich bitte dich, um das Heil des Ungeborenen“, Elisabeth bettelte fast.
Hans aber sah sie nur erzürnt an. „Ich habe dir schon einmal gesagt, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Wer weiß, mit wem du noch Unzucht getrieben hast. Und nun weißt du nicht weiter und wendest dich an mich. Ich soll dir helfen? Niemals!“
„Aber Hans, ich bitte dich“, flehte Elisabeth. „Sieh mich doch an. Wo soll ich hin in meinem Zustand? Niemand hilft mir. Ich lebe wie eine Aussätzige.“
„Was geht mich das an? Verschwinde aus meinen Augen. Wo komme ich denn hin, einer Metze meine Dienste anzubieten?“
„Bitte, Hans!“ Elisabeth liefen nun die Tränen. Sie schluchzte herzerweichend. Hans aber ließ sich nicht erweichen.
„Verschwinde. Sonst jage ich den Hund auf dich!“, drohte er ihr zornig und pfiff auch schon nach seinem Hofhund. Schwanzwedelnd kam der näher und wartete auf die Befehle seines Herrchens.
Elisabeth wusste von Erzählungen, das Tier des Müllers war scharf und beschützte sein Herrchen mit seinem Leben. So floh Elisabeth lieber, als sich zerfleischen zu lassen.
Weinend entfernte sich die junge Frau. Sie wusste nicht, wohin sie nun gehen sollte. Zurück ins Rittergut wollte sie nicht. Dort hatte man ihre Abwesenheit bestimmt schon bemerkt. Ihren Eltern war es ebenfalls verboten worden, sie wieder aufzunehmen. Die Nächte waren noch kalt. Eigentlich keine gute Zeit, unter freiem Himmel zu übernachten. Des Weiteren hatte sie versäumt, Proviant mitzunehmen. Doch nun war es zu spät. Sie war allein und besaß nur das, was sie am Leibe trug. Wie sollte sie in dieser Misere ein Kind aufziehen? Lieber würde sie sterben, als zum Rittergut zurückzukehren und dort den Herrn von Einsiedel zu bitten, sie weiter in seine Dienste zu nehmen. Der Herr war zwar streng, aber gut. Nie hatte sie böse Zungen über ihn reden hören. Es war ihre einzige Möglichkeit, ihrem Kind das Überleben zu sichern.
Langsam entfernte sich Elisabeth. Sie spürte, wie ihr der Müller nachschaute, drehte sich aber nicht um. Obwohl jede Faser in ihr sich danach verzehrte, den Kerl anzuschauen und ihm ihr Leid ins Gesicht zu schreien. Immerhin war er derjenige, der sie in diese unmögliche Lage gebracht hatte. Während er weiterhin den braven und frommen Ehemann spielte, war sie eine geächtete Person geworden, mit der sich niemand mehr abgeben wollte. Sie war wie eine Aussätzige, die jeder mied.
Schwer setzte Elisabeth einen Fuß vor den anderen. Ihr Ziel war ihr immer noch unbekannt. Sie ging zum nahen Wald, der von der Mühle aus leicht zu erreichen war. Ein kleiner Pfad führte dorthin. Der Wald war groß, teilweise standen die hohen Bäume so dicht, dass nicht einmal das Sonnenlicht auf den Waldboden traf. Dort wollte sie sich eine kleine Höhle suchen, wo sie wenigstens geschützt übernachten konnte.
Auf dem Weg zum Wald durchfuhr Elisabeth plötzlich ein scharfer Schmerz. Er zog sich vom Rücken bis nach vorn in ihren Bauch. In regelmäßigen Abständen kehrte er zurück. Das Kind drückte nach unten. Elisabeth wusste, was das bedeutete. Das Kind wollte geboren werden.
„Aber doch nicht jetzt! Und auch nicht hier!“, keuchte sie verzweifelt, nachdem eine Wehe beendet war. So schnell es ging, versuchte sie zum Wald zu gelangen. Sie flehte darum, die schützende Zuflucht rechtzeitig erreichen zu können. Mitten auf dem Weg wollte sie ihr Kind nicht zur Welt kommen lassen. Nur, wer sollte ihr jetzt behilflich sein? Niemand wusste, dass sie hier war. Nur der Müller hatte Kenntnis davon. Doch der interessierte sich nicht für sie. Bis zur Hebamme war es zu weit. Die wohnte in einem Häuschen am Waldrand von Braunshain. Viel zu weit für Elisabeth.
So schleppte sich die junge Frau mit letzter Kraft in das Wäldchen. Sie kannte dort aus ihrer Kinderzeit eine kleine Höhle. Wahrscheinlich war es einmal ein großer Dachsbau. Dort hatten sie oft gespielt. Sie betete darum, die Höhle unbewohnt vorzufinden. Elisabeth schlug sich durch das dichte Gebüsch. Immer wieder musste sie stehenbleiben, um die nächste Wehe zu verarbeiten. Sie spürte, nicht mehr lange und das Kind war auf der Welt. Mit letzter Kraft erreichte sie die Höhle. Hastig holte sie Laub zusammen, auf dem sie sich betten konnte. Es war nass, aber es war besser als auf dem blanken Boden zu liegen.
So verbrachte sie den Tag voller Schmerzen. Niemand stand ihr in ihrer Not bei. Gänzlich auf sich allein gestellt, versuchte sie, sich auf die Geburt vorzubereiten. Wasser hatte sie keines, auch keine sauberen Tücher, in das sie das Kind wickeln konnte, nachdem es geboren worden war. So legte sie ihr Schultertuch bereit. Ihr Umhang diente ihr als Unterlage für sich. Damit wurde er zwar mit ihrem Blut beschmutzt, doch etwas anderes hatte Elisabeth nicht.
Im Laufe des Tages wurde der Schmerz stärker. Von einer Wehe wurde sie so sehr überwältigt, dass sie annahm, es zerreißt sie. Sie ging in die Hocke und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wurzeln eines Baumes, die bis in die Höhle hinunter reichten. Ihre Beine spreizte sie dabei so weit es ging. Heftig hechelnd und immer wieder pressend, schob sie ihr Kind aus sich heraus. Sie wollte vor Schmerz schreien, hatte aber Angst, jemand könnte durch ihre Schreie auf sie aufmerksam werden. So biss sie sich die Lippen wund. Außer einem heftigen Keuchen war nichts zu hören. Dann endlich, sie presste ein letztes Mal und das Kind flutschte, begleitet von einem Schwall Fruchtwasser aus ihrem Leib.
Elisabeths Kräfte waren am Ende. Sie rutschte, mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, zu Boden. Zwischen ihren Schenkeln lag das neugeborene Kind, das noch mit der Nabelschnur mit ihr verbunden war. Sie nahm es auf, damit es nicht auf dem kalten Boden liegen musste und trennte mit ihren Zähnen die Nabelschnur ab.
„Ein Mädchen“, wisperte Elisabeth verzückt, als sie das winzige Wesen betrachtete. Mutterliebe durchflutete sie, aber auch gleichzeitig unendlicher Schmerz. Wie sollte sie die Kleine ernähren? Sie großziehen, ohne Vater und ohne Hilfe? Elisabeth wusste sich keinen Rat.
Ob es wohl besser wäre, die Kleine sterben zu lassen oder sie hier im Wald zu lassen, damit die Tiere dem kurzen Leben ein Ende setzten? Nein, das konnte sie nicht tun! Das Kind war ihres, in ihrem Leib herangereift zu einem richtigen, wenn auch noch winzigen Menschen. Es sollte die Möglichkeit haben, groß zu werden, zu heiraten, einen Mann zu lieben und vielleicht auch selbst Kinder zu bekommen. Das wollte sie dem Winzling nicht vorenthalten. Das Leben war schön, auch wenn es Elisabeth in den letzten Monaten sehr zugesetzt hatte. Sie musste das Leben des Kindes retten. Ihres war vergeudet. Um sie würde niemand weinen.
Die Kleine begann zu jammern. Sie schien zu frieren. Elisabeth hatte nichts anderes als ihr Tuch und ihren Umhang. So wickelte sie das Mädchen in ihr Tuch. Noch war es klein genug, um hineinzupassen.
Ermattet und unendlich müde schob Elisabeth das von ihrem Fruchtwasser und Blut besudelte Laub beiseite und breitete ihren Umhang aus. Eigentlich müsste sie noch hinausgehen und den Mutterkuchen vergraben, doch dafür war sie zu müde. Sie legte sich erschöpft auf ihren Umhang, um sich ein wenig ausruhen zu können. Dabei presste ihr Kind an sich, um es zu wärmen. Die Kleine schien Hunger zu haben, denn sofort suchte sie die Mutterbrust. Gierig griff sie nach der Brustwarze und saugte genüsslich daran. Elisabeth war erleichtert, das Kind konnte leben, es trank und würde sich bestimmt auch gut entwickeln. Nur für sich sah sie keine Zukunft. Sie überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Darüber schlief sie ein.
Als Elisabeth wach wurde, war es bereits mitten in der Nacht. Sie erschrak sich, wie dunkel es in ihrer Höhle war. Ihr Neugeborenes schlief an ihre Brust geschmiegt. Oder war es bereits gestorben? Voller Angst horchte Elisabeth am Brustkorb des Kindes. Ihre Sorge war unberechtigt. Die Brust des Kindes hob und senkte sich regelmäßig. Erleichtert hörte sie, wie das kleine Herz regelmäßig pochte.
Erneut überkam Elisabeth Kummer. Das Problem war immer noch nicht gelöst. Sich allein durchzubringen, würde ihr gelingen. Aber das Kind? Sie überlegte lange. Dann kam sie zu einem Entschluss.
Inzwischen war die Nacht weit vorangeschritten. Bald müsste der Morgen grauen. Elisabeth musste sich beeilen, wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte. Sie stand auf und wickelte das Kind frisch in ihr Tuch. Die Kleine sollte auf dem Weg zur Mühle nicht frieren.
Elisabeth machte sich auf den Weg. Der Mond schien nur schwach, aber sie kannte sich aus. Schon bald erreichte sie das Tor des Mühlengehöfts. Hineingehen wollte sie nicht, zu sehr ängstigte sie sich vor dem Hund des Müllers.
Die junge Frau war sich ihrer Sache sicher. Wenn der Müller sich schon nicht um sie kümmern wollte, sollte er wenigstens ihr Kind in seine Obhut nehmen. Elisabeth war es weh ums Herz. Erst am gestrigen Tag hatte sie die Kleine auf die Welt gebracht und nun wollte sie das Kind bereits weggeben. Sie wusste, sie konnte sich nicht um ihr Neugeborenes kümmern. Sie musste es zurücklassen. Auch für sich selber sah sie keinen Ausweg mehr. Sie war in einer Zwickmühle. Was war ihr Leben noch wert? Nichts, das wusste sie. Keiner würde sie aufnehmen. Sie wäre Freiwild für marodierende Banden, würde geschlagen, auch vergewaltigt oder im schlimmsten Fall sogar ermordet werden. Elisabeth war ohne Hoffnung. Ein letztes Mal küsste sie ihr Kind, dem sie noch keinen Namen gegeben hatte. Dann legte sie es am Hoftor ab, zupfte das Tuch zurecht, in das die Kleine gewickelt war. Danach drehte sie sich um und ging zur Mühle hinüber.
Mehrmals blickte sie zurück, als wolle sie ihre Entscheidung ungeschehen machen. Aber dann besann sie sich und setzte ihren Weg fort. Den Schuppen am Fuße der Mühle fand sie unverschlossen. Sie schlüpfte hinein und sah neben der Tür ein Seil am Haken. Sie nahm es und ging wieder ihrer Wege. Ihr Ziel war der Wald und die Höhle, wo sie ihr Kind geboren hatte. Sie wusste, es war besser so. Ihr Kind würde einen Vater haben, zwar keine Mutter, aber vielleicht eine liebende Stiefmutter.