Gedankenverloren lief Eva Maria durch die Dämmerung in Richtung Braunshain. Es war windig geworden und es regnete ein wenig. Doch der jungen Frau machte dies nichts aus. Im Gegenteil. Es kühlte ihr aufgewühltes Gemüt etwas ab.
Der Weg führte an Lumpzig vorbei, auch an der kleinen Kirche, wo sie und ihre Eltern heilige Messe besuchten, wie es gottgefällige Leute sonntags immer taten. Obwohl die Schumanns, somit auch Eva Maria evangelisch waren, legten sie Wert darauf, regelmäßig in der Kirche zu beten und einem Gottesdienst beizuwohnen. Die Kirche war aber auch der Ort, wo die Frauen aus dem Dorf über sie tratschten als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, als über andere Leute zu labern. Das ging Eva Maria ungemein auf den Nerv.
Nach dem Gespräch mit ihren Eltern wusste Eva Maria nun, dass das Gerede der Leute keine üble Nachrede war. Sie war ein Bastard, den seine Mutter weggeworfen hatte wie einen alten zerfetzten Lumpen. Sie sog heftig die Luft ein. War sie deshalb ein schlechterer Mensch? War sie nicht genauso gottesfürchtig wie ihr Nachbar, wie der Pfarrer, der die Messe las, ihr Vater und ihre Stiefmutter? Nein! Eva Maria streckte ihre Brust heraus. Wäre sie ein Mann gewesen, würde sie jetzt ihre Muskeln spielen lassen. Doch sie war eine Frau, ohne Rechte, ohne Aussicht darauf, jeweils eine gute Partie machen zu können. Sie würde ewig nur eine Magd sein können. Oder die unverheiratete Tante, die den Verwandten auf der Tasche lag und als alte Jungfer zu Grabe getragen werden würde. Dabei würde sie so gerne eine ehrbare Ehefrau sein mit einem Haufen Kinder am Rockzipfel. So kam für sie nur ein niedererer Knecht in Frage, dem ihre Herkunft einerlei war. Dabei war sie genauso gut oder schlecht wie jeder andere auch.
Die junge Frau beschleunigte ihren Schritt. Am liebsten hätte sie ihren Frust herausgeschrien. Doch mitten im Dorf konnte sie dies nicht tun. Ihr Geschrei würde die Leute aus ihren Häusern locken, die mit den Fingern auf sie zeigen und die sie verhöhnen würden. Dabei konnte sie gar nichts dafür, dass sie die Tochter einer gemeinen Dirne war. Verächtlich verzog sie das Gesicht. Auch wenn ihr Vater das Wort Dirne ungern hörte, ihr war es egal. Sie verstand nicht, wie eine Mutter ihr Kind einfach aussetzen konnte, wie ihre es getan hatte. Sie glaubte, das konnte sie ihr nie verzeihen. Kennenlernen wollte sie sie auch nicht. Mit solch einer Person wollte sie nichts zu tun haben.
Andererseits, schoss es Eva Maria durch den Kopf. Warum in aller Welt beklagte sie sich wie ein nörgelndes Gör, das seinen Willen nicht bekam? Sie hatte es doch gut getroffen mit ihrem Vater, der Stiefmutter und den Großeltern, die sie alle vergötterten und sie behütet aufwachsen ließen. Ihnen sollte sie dankbar sein. Wer weiß, was gewesen wäre, hätte ihre Mutter sie an einer anderen Stelle ausgesetzt und nicht vor dem Hoftor ihres Vaters. Wer weiß, ob sie jetzt noch am Leben wäre oder in welch einer unheimlichen Umgebung sie sonst hätte aufwachsen müssen. Sie konnte sich glücklich schätzen und sollte nicht mit ihrem Schicksal hadern.
Mit diesen Gedanken setzte Eva Maria ihren Weg beschwingt fort. Schon bald stand sie bei den Schefflers vor der Tür und begehrte um Einlass.
„Evchen, meine Kleine, was tust du denn hier? Und auch noch zu dieser späten Stunde bei diesem regnerischen Wetter“, wurde sie von ihrer Großmutter Franziska Scheffler begrüßt. Franziska nannte Eva Maria immer noch Evchen, obwohl sie längst den Kinderschuhen entwachsen und im heiratsfähigen Alter war.
„Großmama“, stieß Eva Maria aus und fiel der Frau um den Hals.
„Wie? Was? Kindchen!“, stotterte Franziska ergriffen. „Du weißt es. Aber warum? Wer hat es dir erzählt?“ Sie hätte zwar am liebsten geleugnet, aber jetzt, wo Eva Maria sie mit Großmutter angesprochen hatte, wusste sie, abstreiten wäre sinnlos.
„Meine Eltern haben es mir endlich gesagt, nachdem ich sie darauf angesprochen habe“, platzte Eva Maria heraus. „Ich konnte dieses Gerede im Dorf hinter meinem Rücken nicht mehr ertragen und bin dem auf den Grund gegangen.“
„Ach Kindchen“, seufzte Franziska. „Aber komm erstmal in die gute Stube. Dein Großvater ist heute mal nicht im Wirtshaus, sondern zu Hause. Er sitzt vor dem Kamin und wärmt sich die Füße. Du weißt schon, das Zipperlein des Alters plagt ihn arg in der letzten Zeit.“ Sie griff nach Eva Marias Hand und ging ihr voraus.
„Georg, schau mal, wer da ist“, kündigte Franziska den Besuch an.
Der alte Mann quälte sich aus seinem Sessel und blickte Eva Maria erfreut entgegen. „Mein Kind“, begrüßte auch er sie.
„Großpapa“, erwiderte die junge Frau, was dazu führte, dass der als Großvater Betitelte erstaunt die Augen aufriss.
„Sie weiß es“, schnitt ihm seine Gattin das Wort ab. „Aber nun komm an den Tisch. Lass uns reden. Ich glaube, wir haben viel aufzuholen“, bat sie Eva Maria sich zu setzen. Sie lief in die Küche und kam wenig später mit heißem Gewürzwein wieder. „Das wird dir guttun. Bei dem Wetter und um diese Tageszeit noch hierherkommen. Kind, ich muss dich schelten. Du wirst dich erkälten.“ Franziska stellte die Becher ab und setzte sich zu Ehemann und Enkeltochter. Der Duft des heißen Getränks verbreitete sich im Raum. Es roch nach Zimt und Nelken. Im Kamin brannte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme.
Einige Zeit starrten die Drei in ihre Becher. Keiner sagte ein Wort, als würde jeder darauf warten, dass der andere zu reden begann.
„Jetzt, da du es weißt, können wir dir nun auch alles berichten“, durchbrach Georg die Stille. Er konnte es nicht ertragen, seine Enkeltochter so verdrossen am Tisch sitzen zu sehen. Obwohl er sich anfangs sträubte, sie anzuerkennen, war sie ihm sehr ans Herz gewachsen. Er liebte sie über alles, so wie früher seine verloren gegangene Tochter.
„Du sprichst mit meiner Zunge“, erwiderte Franziska, die froh war, dass ihr Gatte sich endlich dazu durchgerungen hatte und das Wort als erster ergriff.
„Wenn ich deine scharfe Zunge hätte, dann hättest du nichts zu lachen, Frau“, neckte Georg sein Weib.
„Ach hör auf!“, schimpfte Franziska grinsend. „Lass uns lieber von deiner Mutter Elisabeth sprechen.“ Sie dachte nach. „Wie lange ist sie nun fort?“, fragte sie.
„Sechszehn Jahre“, antwortete Georg. „Genauso alt bist du, Evchen.“ Er lächelte seine Enkelin an.
„Ja, schon so lange ist es her, dass unser Kind verschwand“, sagte Franziska. „Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Mein Herz blutet immer noch, wenn ich daran denke, wo unsere Tochter wohl gelandet sein könnte. Lebt sie noch, geht es ihr gut? Alles Fragen, die uns wohl nie beantwortet werden.“
„Sie war unser einziges Kind“, sprach Georg weiter. „Das Letzte und Jüngste, das uns noch verblieben ist, nach den vielen Kindern, die uns verstorben sind.“
„Wie viele Geschwister hatte meine Mutter?“, wollte Eva Maria wissen.
„Sie hatte noch drei Brüder und zwei Schwestern. Alle sind an einem Fieber gestorben, das vor vielen Jahren hier grassierte. Obwohl Elisabeth auch sehr krank geworden war, überlebte sie wie durch ein Wunder.“ Franziska wischte sich eine Träne aus dem Auge, ob der vielen Kinder, die sie zum Gottesacker tragen und begraben mussten. „Ja, uns blieb nur Elisabeth. Wir hüteten sie wie einen Augapfel. Sie war unser Stern, unsere Sonne bei schlechtem Wetter. Nie machte sie uns Probleme, bis sie Hans Schumann kennenlernte… Damals war sie so alt wie du es jetzt bist.“ Die Großmutter schniefte erneut, riss sich aber zusammen. Tränen zu vergießen, verbesserte die Misere auch nicht.
„Hans Schumann war ihr Verderben“, setzte der Großvater die Rede seiner Frau fort. Noch immer zürnte er dem Müllermeister etwas. Nachdem er aber gesehen hatte, wie liebevoll der sich um das Kind kümmerte, war sein Groll Hochachtung gewichen. Georg hatte seinen Frieden mit dem umtriebigen Müller gemacht. „Leider hat sie uns nie verraten, wer wirklich dein Vater war. Auch harte Strafen führten zu keinem Erfolg, ihre Zunge zu lockern. Herr von Einsiedel, der damalige Oberhofmeister des Ritterguts, ließ sie sogar einsperren. Elisabeths Lippen blieben trotzdem verschlossen. Wir erfuhren es erst, nachdem du geboren warst und Elisabeth verschwunden war. Dein Vater und Christina, deine Stiefmutter, standen eines Tages mit einem Neugeborenen vor der Tür und behaupteten, wir wäre seine Großeltern. Der Säugling warst du… winzig wie ein Püppchen und zuckersüß.“ Georg räusperte sich verlegen. „Obwohl ich mich sträubte, verliebte ich mich sofort in dich.“
„Was?“, Franziska fuhr hoch. „Warum sagtest du nie etwas?“
„Ich wollte mir nicht die Blöße geben, mich zu einem Bastardkind zu bekennen, was du sofort getan hast, ohne nachzudenken.“ Er wurde rot und räusperte sich noch einmal. „Du spürtest wohl instinktiv, dass Evchen unsere Enkeltochter war, was ich nicht wahrhaben wollte. Aber dann sah ich die Ähnlichkeiten zwischen Elisabeth und ihr und mir wurde klar, die Schumanns hatten Recht.“
„Wir Frauen ticken nun mal anders als die groben Klötze, die Männer manchmal sind“, frotzelte Franziska.
„Du hast es mich nie merken lassen“, warf Eva Maria ein.
„Nein, natürlich nicht. Ich hätte es sonst mit meinem Weib zu tun bekommen“, meinte Georg darauf.
„Die hölzerne Teigrolle hätte deine Platte poliert“, scherzte Franziska und alle lachten.
„Und ihr habt nie wieder etwas von meiner Mutter gehört?“, setzte Eva Maria das Gespräch fort.
Die beiden Alten verneinten. „Wir haben auch gesucht, aber niemand hatte Elisabeth gesehen.“ Franziska schaute traurig. „Anfangs hatte ich noch Hoffnung, Georg ebenso. Aber je mehr Zeit verging und kein Lebenszeichen kam, gaben wir die Hoffnung auf. So leid es uns auch tut, unsere Tochter wird wohl tot sein.“
Eva Maria schaute traurig. Bisher dachte sie nur Schlechtes von ihrer Mutter, aber nun hatte sie ihre Meinung über sie geändert. Sie hätte sie nun doch gerne kennengelernt hätte, es war wohl zu spät dafür. „Dann soll es wohl so sein“, meinte sie daraufhin seufzend. „Aber warum hat mir niemand reinen Wein eingeschenkt? Irgendwann war ich alt genug, um es zu verstehen.“
Franziska zuckte nur mit den Schultern. „Die Schumanns wollten es so. Sie wollten dich damit nicht belasten.“ Sie griff über den Tisch nach Eva Marias Hand und drückte diese liebevoll. „Und nun? Wie soll es weitergehen?“, wollte die Großmutter wissen und sah ihre Enkelin fragend an.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Eva Maria. „Noch nicht…“