Am Tag von Elisabeths Verschwinden
„Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ein Mensch kann doch nicht einfach so spurlos verschwinden!“, donnerte Friedrich Heinrich von Einsiedel aufgebracht. Mit großen Schritten durchmaß er sein Kontor und wütete. Er konnte es sich beileibe nicht vorstellen, wie diese Elisabeth, die Tochter des Böttchers Scheffler, ohne jedwede Spur verschwinden konnte. Dabei war sie hochschwanger und bewegte sich nur noch sehr behäbig vom Fleck. Erst gestern am Nachmittag hatte er das Mädchen gesehen, als sie in der Küche saß und Gemüse putzte. Zu etwas anderem war sie derzeit nicht zu gebrauchen. Schwerer Arbeiten wollte von Einsiedel in ihrem Zustand auch nicht mehr zumuten.
Johann Leonhard Kellner, der Sekretär des Rittergutbesitzers, zog den Kopf ein. Auch er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie Elisabeth unbemerkt entkommen konnte. Die junge Frau stand unter ständiger Beobachtung und konnte keinen Schritt tun, ohne penibel bewacht zu werden. Nicht einmal den Weg zum Abtritt durfte sie allein bewältigen. Das Gebrüll seines Dienstherrn hallte in Johanns Ohren. Vor einer halben Stunde erschien die besorgte Mutter der Vermissten im Kontor und meldete die Abwesenheit ihrer Tochter Elisabeth.
Von Einsiedel setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um Elisabeth aufzuspüren. Er bestellte die drei Mägde, die mit der Schwangeren eine Kammer teilten, in sein Kontor, um diese zu befragen. Eben standen diese betreten neben der Tür und wagten es nicht, ihren Herrn anzuschauen, der mit sie mit lauter Stimme tadelte. Franziska, Elisabeths Mutter stand tränenüberströmt daneben und rang besorgt die Hände.
„Ihr wollt mir doch wohl nicht weismachen wollen, ihr hättet nichts bemerkt!“, fuhr von Einsiedel die Mägde an. Zwei von ihnen zogen verängstigt die Köpfe ein.
Nur Barbara, die Sprecherin der Drei, trat mutig vor. „Herr, wir sind gestern Abend alle gemeinsam zu Bett gegangen. Der Tag war lang und voller Arbeit, wir waren müde und schliefen sofort ein. Auch Elisabeth klagte über Erschöpfung“, berichtete sie. „Wir wachten erst heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang auf. Da war Elisabeths Bett bereits leer. Wir nahmen an, sie wäre schon in der Küche, um ihrer Mutter bei der Arbeit zu helfen. Elisabeth stand meist lange vor uns auf, um einige Zeit mit ihrer Mutter verbringen zu können. Daher schöpften wir auch keinen Verdacht. Aber als wir in die Küche kamen, war Franziska allein und Elisabeth nicht auffindbar.“ Agnes und Ella, die beiden anderen Mägde nickten bei jedem Wort zustimmend. Franziska schniefte leise und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Von Einsiedel wandte sich nun an die weinende Frau. „Hat Sie Ihrem Ehemann bereits um Auskunft gebeten?“, fragte er.
„Martin begab sich auf meine Bitte hin sofort zu ihm“, erwiderte Franziska. „Aber auch dort war Elisabeth nicht. Sie war, seit sie hier im Rittergut leben musste, kein einziges Mal bei uns zu Hause. Wie Ihr befohlen habt, war es ihr verboten, das Rittergut ohne Begleitung zu verlassen.“ Franziska rang verzweifelt die Hände. „Mein armes Kind“, jammerte sie. „So kurz vor der Niederkunft, ganz allein auf sich gestellt. Wenn das Kindchen nun kommen will…“
„Nun beruhige Sie sich“, versuchte von Einsiedel die Frau zu beschwichtigen. „Ich werde sofort Suchtrupps aussenden. Sehr weit wird sie in ihrem Zustand nicht gekommen sein.“ Noch wusste niemand, dass es Elisabeth wirklich geschafft hatte, sich unerkannt weit zu entfernen.
Der Rittergutsbesitzer wandte sich an seinen Sekretär. „Gehe Er zu den Stallknechten. Sie sollen sofort ausschwärmen und jeden Dorfbewohner, aber auch Reisende, befragen. Jeden Stein sollen sie umkrempeln, hinter jede Hecke, in jede Scheune und hinter jedes Gebüsch schauen“, befahl er ihm.
Doch auch die Knechte kamen, wie alle anderen, die sich an der Suche beteiligt hatten, am Abend unverrichteter Dinge zurück. Niemand hatte Elisabeth gesehen. Sie blieb wie vom Erdboden verschluckt, verschollen.
Einen Tag nach Elisabeths Verschwinden
Die Sonne schob sich langsam am Firmament entlang. Wie von Geisterhand gezogen, erhob sie sich über dem Morgennebel, der in dicken Schwaden, über den der Mühle angrenzenden Feldern lag. Es versprach ein schöner und sonniger Tag zu werden. Obwohl es nachts und morgens noch sehr kalt war, konnte man den kommenden Frühling bereits erahnen. Die ersten Krokusse streckten ihre Köpfchen in die Höhe, Vögel zwitscherten vor den Kammerfenstern und weckten die Bewohner des kleinen Mühlenanwesens.
Christina streckte und dehnte sich. Sie gähnte, schlug die Augen auf und blickte hinüber zu ihrem Ehemann, der neben ihr noch tief und fest schlief. Hans lag fest in eine Decke gewickelt an ihrer Seite. Nur sein dunkler, von ein paar grauen Strähnen durchzogener Schopf schaute heraus. Die Frau musste lächeln, als sie an die Jahre denken musste, die sie bisher gemeinsam verbracht hatten. Vor dreizehn Jahren hatten sie sich das Jawort gegeben. Für beide war es die zweite Ehe, beide waren verwitwet zeitig verwitwet und suchten nach einem neuen Partner.
Hans brachte zwei Mädchen mit in die Ehe. Eva Maria, inzwischen 20 Jahre alt und die um drei Jahre jüngere Christina. Die Mädchen waren klein gewesen, als sich Christina ihrer annahm. Noch waren die Kinder verstört vom plötzlichen Tod ihrer Mutter und beäugten argwöhnisch die neue Frau an der Seite ihres Vaters. Christina hatte es anfangs schwer, das Vertrauen der Kinder zu erringen. Doch sie gab nicht auf.
Auch ihr Hans war ein guter Vater. Aufopfernd kümmerte er sich um seine verwaisten Kinder. Obwohl er seiner Aufgabe gut nachkam, war er froh, als Christina seinem Werben nachgab und mit ihm vor den Traualtar trat. Die Kinder brauchten eine Mutter, in Christina fanden sie eine.
Erneut lächelte Christina, als sie an die damalige Zeit zurückdenken musste. Es war keine Liebesheirat, die sie eingingen. Jedoch im Laufe der Zeit war aus dem Zweckverbund Liebe geworden. So war es jedenfalls bei Christina. Obwohl sie sich nie sicher war, ob ihr Gatte ihr auch treu war – sie hörte die Leute öfters munkeln, er würde den unverheirateten Frauen im Dorf schöne Augen machen – vertraute sie ihm. Ihr fiel zwar auch öfters auf, dass er noch sehr spät in die Schenke ging und erst spätnachts, manchmal auch erst im Morgengrauen, zurückkehrte. Doch sie machte daraus kein Spektakel. Männer gingen halt ab und an mal in die Schenke, um sich zu betrinken. Ihr verstorbener Mann tat dasselbe. Es war also nichts neues für sie.
Christina wäre gerne noch länger liegengeblieben. Doch das Tagwerk musste vollbracht werden. Von allein erledigte es sich nicht. Sie schlüpfte aus dem Bett und mit ihren nackten Füßen in die mit Schaffell gefütterten Pantoffeln. Fröstelnd nahm sie ihr Schultertuch und legte es sich um. Obwohl durch ihre Schlafkammer die Esse aus der Küche führte, war es so früh am Morgen im Zimmer kalt. Erst wenn das Feuer im Küchenofen brannte, wurde es hier oben angenehm. Trotzdem ging Christina zum Fenster und öffnete den Laden. Kalte Luft kam herein und machte sie vollends wach. Ihr Blick glitt hinaus, hinüber zur Mühle, deren mächtiger Korpus majestätisch in den Himmel ragte. Nur die Flügel ragten noch höher hinaus. Sie wusste, die Mühle war von weit her zu sehen. Darauf war sie stolz.
Im Osten sah sie die Sonne aufgehen. Diese ließ die Nebelschleier über den Feldern in einem mystischen Licht erstrahlen. Der Waldrand viel weiter hinten brach schwarz hervor. Von hier aus sah es aus wie ein Höllenschlund, der sich auftat, um alles zu verschlingen.
Christina schaute hinunter in den Garten. Bald würden dort Unmengen von Frühlingsblumen blühen. Sie freute sich bereits auf die gelb leuchtenden Narzissen und später im Jahr die Rosen. Zwiebeln und Kohl würden dann in Reih und Glied stehen, wachsen und gedeihen, um im Herbst geerntet zu werden und ihre Vorratskammer zu füllen. Dieses Jahr würde sie zum ersten Mal Kartoffeln anbauen. Christina hatte von dieser Wunderknolle gehört und wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Ob diese wirklich so schmeckte, wie sie von reisenden Händlern gehört hatte? Einer der Reisenden hatte ihr einige Knollen verkauft und ihr erklärt, wie sie diese zu verarbeiten hatte. Er schwärmte davon, sie gekocht mit Butter, Salz und fetter Wurst zu genießen. Oder auch mit Quark und Kräutern. Mit Zwiebeln und Speck in Schmalz gebraten, wären sie ebenfalls sehr schmackhaft und würden lange satt machen.
Auf der großen Wiese in Richtung Kleintauscha stand die kleine Schafherde der Schumanns und zupfte das Gras des vergangenen Jahres. Die Tiere waren genügsam und fanden jeden noch so kleinen zurückgebliebenen Halm. Die Tiere gaben jedes Jahr genügend Wolle, aus der Christine warme Wäsche für ihren Gatten, aber auch für die Mädchen und sich strickte.
Im Stall standen zwei Kühe und warteten darauf, gemolken zu werden. Die Frau hörte das leise Muhen der Tiere bis nach oben. Auch die Hühner waren bereits wach. Der Hahn machte ein Spektakel, als wolle er die Menschen mahnen, sich an ihre Verpflichtungen zu erinnern.
Schnell zog sich Christina an. Sie flocht ihr langes Haar zu einem Zopf und setzte sich ihre Haube auf. Dann machte sie sich an die Arbeit. Zuerst wollte sie die Tiere versorgen, danach das Frühmahl für die Familie richten.
Als Christina die Tür zum Stall öffnete, kamen ihr die Hühner laut gackernd entgegen. Der Hahn stolzierte mit majestätisch erhobenem Kopf hinter der Hühnerschar in den Hof. Dort stürzten sich die Tiere auf das von Christina hingeworfene Korn und pickten es emsig vom Boden auf.
Die Frau nahm einen Eimer und drängte sich zwischen die beiden Kühe. Die beiden hatten im letzten Jahr zwei kräftige Kälber geboren und gaben gut Milch. Die meiste davon verarbeitete Christina zu Butter und Käse.
Auch die einzige Ziege hatte vor Kurzem geworfen. Zwei kleine, noch auf staksigen Beinen stehende Zicklein saugten gierig am prallen Euter des Muttertiers. Sobald es warm genug war, sollten die Ziegen mit den Schafen auf die Weide. Noch war es für die empfindlichen Tiere auch tagsüber zu kalt. Die überschüssige Ziegenmilch trank die Müllerfamilie meist selbst oder mischten sie den Schweinen ins Futter. Jetzt aber, wo die Ziege Kleine hatte, vermied es Christina, sie zu melken. Noch gab es keine Schweine im Stall. Erst um Ostern wollte der Müllermeister wieder zwei Ferkel holen, um sie bis zum Herbst zu mästen.
Während Christina die beiden Kühe molk, summte sie leise ein Lied. Die Katze, die sonst in der Mühle Mäuse jagte, strich schnurrend um die Beine der Kühe und wartete geduldig darauf, etwas von der köstlichen, noch körperwarmen Milch zu ergattern. Christina machte sich den Spaß, das anhängliche Fellwesen mit einem Strahl Milch zu bespritzen. Erst suchte das Tier mit einem ärgerlichen Miauen das Weite. Aber dann schleckte es sich genüsslich die Milch aus dem Fell.
Mit einem Mal vernahm Christina einen eigentümlich klingenden Ton. Sie hörte auf zu melken und horchte gespannt. Das Geräusch erinnerte sie an kleine, neugeborene Katzen, die hungrig nach der Mutter riefen. Hatte das Tier, von ihr unbemerkt, Nachwuchs zur Welt gebracht? Christina hatte bisher immer bemerkt, wenn ihre Katze tragend war. Sollte sie diesmal die Trächtigkeit übersehen haben? „Das Mistvieh hat bestimmt irgendwo einen Wurf versteckt“, dachte Christina und nahm sich vor, die Katzenkinder später zu suchen. Zuerst wollte sie die Kühe fertig melken.
Als Christina den schweren Eimer mit Milch über den Hof schleppte, hörte sie erneut das Maunzen. „Das gibt es doch nicht“, schimpfte sie leise und stellte den Eimer ab. „Die Katze wird ihre Kleinen doch nicht hier draußen versteckt haben. Das sieht ihr gar nicht ähnlich“, machte Christina Selbstgespräche. Aufmerksam ging sie den Geräuschen nach. Sie führten sie zum Hoftor. „Das gibt es doch nicht!“, murmelte Christina erneut. Sie öffnete das Tor und trat hinaus. Jetzt erst sah sie die Ursache des Mauzens. Eingewickelt in ein wollenes Tuch lag dort ein Bündel, das sich bewegte. Sie ging neugierig näher. Erschrocken stieß sie einen Schrei aus. Was sie dort sah, war ein winziges Kind, das aus Leibeskräften schrie.