Gemäßigten Schrittes lief Elisabeth durch die Stadt. Sich nur nichts anmerken lassen. Obwohl, wer sollte ihr schon etwas antun, oder wissen, was sie eben im Haus des Baders getan hatte? Außerdem war es Notwehr und der Hurensohn von Bader hatte es nicht anders verdient. Jahrelang hatte sich Elisabeth von ihm drangsalieren lassen, ja sogar vergewaltigt wurde sie. Irgendwann musste dies einmal ein Ende haben, damit sie nicht an der Schmach und dem Elend zugrunde ging.
Nach und nach beruhigte sich die Frau, ihr Herz schlug wieder normal, auch ihr Atem kam nicht mehr so stoßweise wie noch vor ein paar Minuten. Trotzdem schaute sie sich immer wieder um, ob ihr wohl dennoch jemand folgte. Doch sie konnte niemanden entdecken, der dies tun, den sie kennen könnte oder sich auffällig benahm. In der Stadt wimmelte es nur so von wildfremden Leuten aus aller Herren Länder, die die Straßen und Gassen verstopften. Im oberen Schloss fand derzeit ein Turnier statt, das Unmengen von Leuten anzog, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Daher hatte es Elisabeth auch leicht, unerkannt aus der Stadt zu kommen. Niemand, nicht mal die Wachen, die an solchen Tagen ein Augenmerk auf jeden hatten, nahmen die Flüchtende zur Kenntnis.
Nachdem Elisabeth einige Meilen gelaufen war, wurde sie unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Sie war sich nicht sicher, wo sie sich genau befand. In der Ferne konnte sie einen Wald erkennen. Bald würde es dunkel werden und sich musste dringend eine Möglichkeit finden, wo sie die Nacht verbringen konnte. Es war als Frau zu gefährlich, während dieser Zeit allein unterwegs zu sein. Zu viel Gesindel trieb sich herum, das ihr etwas antun könnte. Sie hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich ausreichend zu verteidigen. Das kleine Messer, das sie bei sich hatte, war gerade mal dazu zu verwenden, sich die Fingernägel zu säubern.
Schnurstracks lief Elisabeth weiter, immer auf den Wald zu. Sie hoffte, dort in einem Gebüsch unterkommen zu können. Dort wäre sie einigermaßen sicher. Doch je näher sie dem Wald kam, desto unsicherer wurde sie. Was, wenn sie dort nichts fände? Oder, oder, oder… die Gedanken schwirrten wie wilde Hummeln in ihrem Kopf herum. Aber dann, die Frau atmete erleichtert auf. Sie konnte ihren Augen kaum trauen. Da schmiegte sich ein kleines Häuschen am Waldrand zwischen die Bäume. Von Weitem konnte man es kaum erkennen, aber beim Näherkommen, sah Elisabeth aus der Esse eine dünne Rauchschwade.
„Es ist jemand zu Hause“, sprach die Frau zu sich selbst und ging frohen Schrittes auf das Häuschen zu. Ein kleiner Zaun trennte einen Garten vom Weg. Beete waren angelegt, sogar ein paar Blümchen säumten den kleinen Pfad, der vom Gatter zur Haustür führte.
Als sich Elisabeth dem Zaun näherte, kam ein großer Hund ums Haus gerannt und kläffte sie aufgeregt an. „Ist ja gut, ich tu dir nichts“, versuchte die Frau den Hund zu beschwichtigen, doch der wurde immer wilder und konnte sich gar nicht beruhigen.
„Hasso, wirst du wohl still sein!“, hörte Elisabeth aus dem Inneren des Hauses eine resolut klingende Frauenstimme rufen.
„Ach, Hasso heißt du also“, murmelte Elisabeth und trat näher.
Nun knurrte der Hund drohend. Dann bellte er noch lauter. Aber Elisabeth ließ sich nicht beeindrucken. „Hasso… hol dein Frauchen“, sprach sie dem Hund gut zu. Hasso bellte und bellte.
„Herrgott Sakrament noch mal! Dieser verfluchte Köter!“, hörte sie nun wieder die Frauenstimme, dieses Mal sichtlich genervt von dem Gebell. Die Tür wurde aufgerissen und die Hausherrin trat heraus. „Wirst du wohl still sein!“, schimpfte sie mit dem Tier. „Ach… wir haben Besuch, na so was“, stieß sie aus, als sie Elisabeth am Gatter stehen sah. Sie tätschelte dem Hund den Kopf, der sich das gerne gefallen ließ. Dann schickte sie das Tier hinters Haus. Doch es wollte partout nicht von ihrer Seite weichen. Die Frau ergriff einen kleinen Knüppel, der neben der Tür lag und warf ihn weit von sich. Der Hund hechelte hinterher, fing ihn und legte sich dann an die Hausecke, wo er genüsslich daran herumkaute, dabei aber die Besucherin nicht aus den Augen ließ.
Neugierig schaute die Frau zu Elisabeth, die ihrerseits die Hausherrin genauso anschaute. „Willkommen, Fremde“, ließ diese endlich verlauten. „Was führt Euch hierher in diese Einöde?“, fragte sie noch.
„Ich suche für diese Nacht ein Dach über dem Kopf, es wird bald dunkel werden und weit und breit sehe ich hier nichts, wo ich unterkommen könnte“, erwiderte Elisabeth. „Ich bin heute schon sehr weit gegangen und bin sichtlich erschöpft“, gab sie zu.
„Mein Heim ist zwar klein, aber für eine Nacht wird es schon gehen“, entgegnete die Frau. „Kommt doch herein“, lud sie Elisabeth dann ein und öffnete das Gartentor, damit die Besucherin eintreten konnte.
Ängstlich schaute Elisabeth zum Hund, der nun neben der Haustür lag und sie argwöhnisch beäugte.
„Habt keine Furcht, Hasso tut nichts“, beruhigte die Hausherrin Elisabeth. „Mein Name ist Griseldis“, stellte sie sich dann vor, woraufhin auch Elisabeth ihren Namen nannte. Sie bedankte sich überschwänglich für die Gastfreundschaft.
Doch Griseldis winkte nur ab, es wäre doch selbstverständlich, einer ermüdeten Wanderin einen Schlafplatz anzubieten, wenn diese so höflich darum gebeten habe. Sie führte die Besucherin in die Hütte und bot ihr dort einen Platz an dem großen Tisch an, der mitten im einzigen Raum des Hauses stand.
„Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet“, sagte Griseldis wie nebenher, während die am Herd stand und dort das Feuer schürte.
„Ich komme aus Greiz und möchte ins Altenburgische“, antwortete Elisabeth wahrheitsgemäß. Sie dachte sich, die Wahrheit zu sagen, wäre der beste Weg, das Vertrauen der Frau zu erlangen.
„Was möchtet Ihr dort?“, hakte Griseldis nach.
„Meine Tochter und meine Eltern leben dort. Sie warten auf mich“, erwiderte Elisabeth. Das allerdings entsprach nicht ganz der Wahrheit, da sie nicht wusste, ob all ihre Lieben noch am Leben waren und sie auch wirklich sehnsüchtig erwarteten.
„Das ist noch ein langer Weg bis dorthin“, stellte Griseldis fest. „Wart Ihr lange fort?“, wollte sie noch wissen.
„Sechszehn Jahre“, gab Elisabeth zu.
„So lange“, staunte Griseldis. „Wie alt ist Eure Tochter?“
„Sechszehn Jahre ist sie geworden, letzten Monat“, erklärte Elisabeth nun.
„Oh“, machte Griseldis nun. „Ihr habt das Kind nicht aufwachsen sehen?“
„Nein, leider nicht. Ich floh kurz nach der Geburt und überließ die Kleine dem Vater.“ Elisabeth seufzte leise. Ihr Herz schmerzte, als sie an den Morgen denken musste, kalt und unwirtlich und sie das gerade geborene Mädchen vor dem Hoftor den Vaters ablegte. „Ich wusste mir nicht anders zu helfen. Das Kind ist ein Bankert und der Vater“, Elisabeth stockte und seufzte erneut. „Der Vater ließ mich fallen, behauptete sogar, es wäre nicht sein Kind, ich hätte mit einem anderen Mann gehurt. Dabei war er damals der erste und einzige Mann, der mir beiwohnte.“ Ein weiteres Klagen entfleuchte aus Elisabeths Mund. „Dabei hätte ich das Kind so gerne aufwachsen sehen, hätte es bei mir gehabt, es geliebt und sorgsam umhegt. Doch meine Scham und die Schande, die ich meinen Eltern antat, war zu groß. Und nun? Sechszehn Jahre sind vergangen, meine Tochter ist eine erwachsene Frau. Vielleicht ist sie sogar schon verheiratet und hat selbst schon ein Kind. Ich muss es unbedingt wissen, was mit ihr geschehen ist, ob sie noch lebt, einfach alles.“ Elisabeth redete und redete, nahm kein Blatt vor den Mund und ließ nichts aus. Die ganzen Jahre hatte sie geschwiegen, kein einziges Wort über ihre Vergangenheit verlauten lassen. Aber nun fiel alles von ihr ab, sie redete sich alles, was sich angestaut hatte, vom Herzen.
Griseldis hörte aufmerksam zu. Nicht ein einziges Mal unterbrach sie die fremde Frau, die ihr gegenüber am Tisch saß und frei von der Leber weg zu ihr sprach. Sie spürte, wie gut es Elisabeth tat, endlich sprechen zu können.
„Es tut mir leid, Euch mit meiner Misere belästigt zu haben“, versuchte sich Elisabeth zu entschuldigen, als sie geendet hatte. „Ihr habt ganz bestimmt Eure eigenen Sorgen, dass Ihr Euch nicht noch meine anhören müsst.“
„Lasst mal gut sein“, erwiderte Griseldis, die Elisabeth nur zu gut verstand. „Auch ich habe meine Last zu tragen“, erklärte sie. „Deshalb lebe ich hier draußen, weit ab von den Menschen. Ich kann es nicht mehr ertragen, unter vielen Leuten zu leben.“ Dann erzählte sie von ihrem Leben, der Not, in der sie sich vor nicht allzu langer Zeit befunden hatte, als ihr Gemahl verstarb und sie von seiner Familie beschuldigt wurde, ihn aus Habgier getötet zu haben. Zum Glück konnte sie alle Beschuldigungen von sich weisen. Doch seitdem konnte sie keinen einzigen Menschen mehr in ihrer Nähe dulden und lebte nun als Einsiedlerin in dieser kleinen Hütte am Waldesrand. Hier konnte sie in sich gehen und ihr eigenes Leben so führen, wie sie es wollte. Keine Schwiegermutter konnte ihr Vorschriften machen, kein Schwiegervater sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. All diese Quengeleien hatte sie hinter sich gelassen.
Der Abend wurde lang. Die beiden Frauen saßen noch bis spät in der Nacht im Kerzenschein beisammen und redeten sich ihre Last von der Seele. Sie erkannten, sie waren sich ähnlich, hatten ähnliche Erfahrungen gemacht und mussten mit der Last leben, die sie zu tragen hatten. Erst sehr spät legten sie sich nieder. Elisabeth in Griseldis Bett, und die Hausherrin auf einem Strohsack am Herd. Das erste Mal seit sehr langer Zeit konnte Elisabeth ruhig schlafen, ohne Angst haben zu müssen, auch nachts unsanft vom Bader geweckt zu werden, der wieder einmal seine Gelüste an ihr stillen wollte.
Am nächsten Morgen bereitete Griseldis ein einfaches Frühstück für ihren Gast. Die beiden Frauen saßen sich beim Essen gegenüber und plauderten miteinander. Sie waren wie gute Freundinnen zu einem vertrauten Du übergegangen. Keine störte sich daran, wie selbstverständlich kam es über ihre Lippen.
Doch nach dem Frühstück musste Elisabeth aufbrechen. „Mein Weg ist noch weit“, erklärte sie Griseldis, die die Zeit mit Elisabeth sehr genossen hatte. „Ich möchte heute so weit wie möglich kommen und morgen vielleicht schon werde ich im Altenburgischen sein und wahrscheinlich auch schon im Haus meiner Eltern.“ Die Freundin hatte ihr die Richtung erklärt, in die sie sich wenden musste, um zum Ziel zu kommen. Dabei konnte sie gut größere Ortschaften umgehen, aber auch in kleinen Schenken übernachten, falls das Wetter nicht halten sollte, was es versprach. Elisabeth war frohen Mutes, bald in ihrer Heimat angekommen zu sein.
„Ich wünsche dir alles erdenklich Gute“, sagte Griseldis und umarmte ihre neue Kameradin. „Klopfe ruhig an meine Tür, falls du wieder einmal in der Gegend sein solltest. Meine Tür steht für dich und die deinen immer offen.“
„Ich danke dir herzlich“, erwiderte Elisabeth und umfasste zärtlich Griseldis Hand. Sie gab ihr zum Abschied noch einen Kuss auf die Wange, strich Hasso über den Kopf, der ihr daraufhin aufgeregt hechelnd die Hand ableckte. Dann packte sie beherzt ihr Bündel und machte sich auf den Weg. Als Elisabeth in den Wald einbog, drehte sie sich ein letztes Mal um und sah Griseldis am Gatter stehen. Sie blickte ihr nach und winkte ihr zu. Elisabeth winkte zurück, dann setzte sie ihren Weg fort… immer in Richtung Heimat.