„Oh mein Gott, wer macht denn so etwas Entsetzliches?“ Bestürzt starrte Christina auf den am Boden liegenden Säugling. Ein einfaches Tuch schützte diesen nur wenig vor der morgendlichen Kälte. Das Gesicht des Kindes hatte sich bereits rot verfärbt, so sehr schrie es.
Christina wäre keine liebende Mutter, wenn ihr die Not des Kleinen nicht sofort zu Herzen gehen würde. „Komm her, du Winzling“, flüsterte sie ergriffen und barg das Kind an ihrer Brust. Sofort verstummte das Geschrei und strahlend blaue Augen sahen sie neugierig an. „Wer bist du denn?“, schienen sie sagen zu wollen.
„Gehen wir ins Warme, du bist ja unterkühlt.“ Christina schüttelte zum wiederholten Male den Kopf über so viel Skrupellosigkeit, ein Neugeborenes einfach wie ein Stück Müll wegzuwerfen. Schnell ging sie ins Haus, wo sie das Kind auf der Ofenbank auf einem Sitzkissen ablegte. Noch war der Ofen kalt, der für eine wohlige Wärme sorgen würde.
Nachdem Christina das Feuer im Herd entzündet hatte, wandte sie sich erneut dem Kind zu. Sie wickelte es aus dem Tuch und begutachtete den schmächtigen Körper. Es war ein Mädchen. Die Nabelschnur war noch nicht getrocknet, was daraus schließen ließ, dass das Kind nur wenige Stunden alt war. Außerdem schien sie nicht ordnungsgemäß abgebunden und getrennt worden zu sein, wie es erfahrene Hebammen taten. Hatte die Mutter des Kindes es womöglich völlig allein entbunden? Wenn doch, wer war die Mutter des winzigen Würmchens.
Kopfschüttelnd nahm Christina die Kleine erneut in die Armbeuge und wiegte es hin und her. Dann besann sie sich. Das Mädchen brauchte Kleidung. Die Müllerin erinnerte sich, dass sie für eine Nachbarin, die bald entbinden sollte, als Taufgeschenk Hemdchen genäht hatte. Sie suchte die winzigen Kleidungsstücke aus der Truhe im Wohnzimmer heraus. Sie passten dem Findelkind wie angegossen.
„Du bist heute aber schnell fertig mit dem Versorgen und Melken der Kühe“, sagte Hans zu seiner Frau, nachdem er die Küche betreten hatte. Hans sah müde aus, wie nach einer durchzechten oder schlaflosen Nacht. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab und seine Augen waren noch klein vor Müdigkeit. Doch das sollte sich von einem auf den anderen Moment ändern. „Ha, was ist das denn?“, fragte er erstaunt, als er das kleine Mädchen auf der Ofenbank erblickte.
„Die Kleine lag vor unserem Hoftor und schrie sich die Lunge aus dem Leib“, erwiderte Christina mit Tränen in den Augen. Jetzt, wo Hans zu ihr getreten war, konnte sie den Kummer über so viel Skrupellosigkeit nicht mehr unterdrücken.
„Gott soll die Metze bestrafen, die so etwas getan hat“, schimpfte Hans wie ein Rohrspecht. Dass der Säugling sein Kind sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Woher sollte er auch wissen, dass seine heimliche Buhle bereits entbunden hatte.
„Was sollen wir mit dem Kind tun?“, fragte Christina.
„Wir gehen nachher zum Herrn von Einsiedel oder den Pfarrer und fragen nach“, entgegnete ihr Ehegespons.
Das Kind begann zu greinen. Anfangs verzerrte es nur den kleinen Mund, aber dann begann ein mörderisches Geschrei, was ganz und gar nicht zu der zarten Gestalt passte. Liebevoll nahm Christina das Mädchen in den Arm. Suchend bewegte die Kleine den Kopf hin und her. Als sie Christinas Finger erwischte, saugte sie voller Inbrunst daran. Christina lachte. „Daher weht der Wind also“, meinte sie darauf. „Wir sollten wohl eine der Ziegen melken.“
Sie wand sich an Hans, der inzwischen am Tisch saß und auf sein Frühstück wartete. „Gehe bitte und melke eine der Ziegen“, bat sie ihn. „Die Kleine ist hungrig und ich habe, wie du weißt, keine Muttermilch für sie.“
Hans tat wie ihm befohlen, währenddessen Christina so gut es ging, ihn sein Frühstück bereitete. Schon bald kehrte der Müller mit einem Becher warmer Ziegenmilch zurück. Christina holte ein sauberes Tuch aus der Truhe. Sie tauchte einen Zipfel davon in die Milch und legte ihn an die Lippen des Kindes. Erst reagierte die Kleine nicht darauf, aber als Christina das Tuch vorsichtig auswrang und einige Tropfen der Milch die Lippen des Kindes benetzten, sog es gierig daran. Schmatzend und wohlig grummelnd nuckelte es am Tuch. Es dauerte nicht lange und es war satt.
„Wir sollten uns eine Amme besorgen. Ich weiß in Tauscha die Frau des Hofschmiedemeisters, die vor einigen Wochen entbunden hat und deren Kind erst vor einigen Tagen verstorben ist. Höchstwahrscheinlich hat sie noch Milch“, sagte Christina, nachdem sie die Kleine auf einem Kissen gebettet hatte, wo sie selig und mit vollem Bauch schlummerte.
„Warten wir erst einmal ab, was Herr von Einsiedel oder der Pfarrer dazu sagen. Vielleicht haben sie eine andere Lösung. Notfalls müssen wir das Kind ins Waisenhaus in die Stadt bringen“, erwiderte Hans.
„Ins Waisenhaus? Aber Hans, auf keinen Fall!“, empörte sich Christina. „Das arme Würmchen hat besseres als ein Waisenhaus verdient, wo seine Mutter es schon schmählich allein gelassen hat.“ Tränen traten in Christinas Augen. Sie begann zu schluchzen. „Wollen wir es nicht behalten. Bitte. Du weißt, wie sehr ich mir noch etwas Kleines wünsche und wir bisher umsonst dafür gebetet haben.“
„Ein fremdes Balg willst du großziehen und die Mutter ungeschoren davonkommen lassen?“, schimpfte Hans. „Weib, welch abstruse Einfälle hast du?“
„Das Kind kann doch nichts für seine Mutter“, schluchzte Christina herzerweichend.
„Wir müssen trotzdem zum Rittergut und den Fund melden. Der Herr sollte zumindest davon Kenntnis haben.“ Hans trat zu seiner Frau und sah sie streng an. „Keine Widerrede, Weib. Es muss sein, ob du willst oder nicht. Ich bestehe darauf, dass du mich begleitest.“
„Ich verstehe schon, das gebe ich zu. Kannst du dein Herz nicht für so etwas Kleines erweichen?“, wollte Christina wissen.
„Ach, liebste Christina. Ich weiß doch, wie sehr du dir noch ein Kind wünschst. Ich würde unheimlich gerne noch einmal Vater werden, unser Kind lieben und großwerden sehen. Aber Gott wollte bisher nicht, dass wir noch einmal Eltern werden. Aber wir haben bereits erwachsene Kinder von unseren verstorbenen Ehegatten und Enkelkinder. Daran können wir uns jetzt erfreuen. In unserem Alter nochmals von vorn beginnen, also ich weiß nicht.“
„Dann sehe es doch als Gottes Fügung“, sagte Christina darauf. „Vielleicht wollte es Gott sogar, dass die Kleine hier vor unserem Tor ausgesetzt wurde. Stell dir vor, die Mutter hätte es draußen im Wald liegenlassen. Wilde Tiere hätten ihm den Garaus gemacht. Ich mag gar nicht dran denken, was alles hätte passieren können.“
„Beruhige dich doch. Wir können nun mal nichts an der Unvernunft der Mutter ändern. Lass uns frühstücken und dann zum Rittergutsbesitzer gehen. Dann sehen wir weiter.“
Die Worte ihres Ehemannes ließen Christina hoffen, das Findelkind behalten zu können.
„Ich wusste gar nicht, dass du Nachwuchs erwartet hast“, begrüßte Friedrich Heinrich von Einsiedel seinen Müller und dessen Frau. Er bot seinen Besuchern einen Platz vor seinem großen Schreibtisch an und nahm selbst auf seinem Stuhl Platz.
„Herr, es ist nicht unser Kind“, erwiderte Hans Schumann.
Von Einsiedel sah Hans fragend an.
„Meine liebe Christina hat die Kleine heute Morgen frierend und laut schreiend vor unserem Hoftor gefunden“, erklärte Schumann.
„Ja, die Mutter hat das arme Würmchen einfach ausgesetzt!“, schimpfte Christina aufgebracht. „Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Das arme kleine Ding.“ Christina schniefte leise und drückte den Säugling dabei vorsichtig an ihre große Brust.
„Wer könnte denn die Mutter sein?“, fragte von Einsiedel. Neugierig schaute er in das rosige Gesichtchen des Kindes, um ihm bekannte Züge erkennen zu können.
„Das wissen wir nicht“, erwiderte Hans Schumann.
Von Einsiedel stand auf und ging mit großen Schritten in seinem Kontor auf und ab. Da erinnerte er sich daran, dass seit einigen Tagen Elisabeth Scheffler abgängig war. Die junge Frau war schwanger und stand kurz vor der Geburt. „Könnte es sein, dass die junge Scheffler die Mutter ist?“, sinnierte er.
Der Müller wurde blass. Erst gestern Morgen hatte ihn seine ehemalige Geliebte heimlich abgefangen, angesprochen und um Hilfe für das Ungeborene gebeten. Ihr Leib stand hoch, wie kurz vor einer Geburt. Er hatte sie weggeschickt und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. „Wenn das mal nicht stimmt“, dachte Schumann, sprach seine Vermutung aber lieber nicht aus. Was, wenn Christina von seinem Fehltritt erfuhr? Dann lieber den Mund halten. Sein Ruf als anständiger, gottesfürchtiger und frommer Mann wäre sonst dahin.
„Ich wusste gar nicht, dass die Schefflerin schwanger ist“, erklärte Christina. „Wer ist denn der Vater? Die Frau ist doch gar nicht verheiratet.“
„Das ist eben der Krux“, erwiderte von Einsiedel. „Das Mädchen wollte den Namen des Vaters unbedingt geheim halten. Nicht einmal strenge Auflagen und Haft haben sie dazu bewegt, ihn preiszugeben. Ein sehr verstocktes Mädchen, musste ich feststellen. Und nun ist sie auch noch wie vom Erdboden verschluckt, obwohl sie keinen einzigen Moment allein war.“
Christina kannte die Tochter des Böttchers nicht besonders gut. Ihr Vater hatte sie ab und an mal mitgebracht, wenn er ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann ein bestelltes Fass für Getreide brachte. Doch das war sehr lange her. Damals war das Mädchen noch recht jung, aber sich groß verändert hatte sie sich bestimmt nicht. Die Müllerin schaute sich den Säugling genau an. Die Gesichtszüge ließen keinen Vergleich zu, auch die Augenfarbe nicht. Christina wusste, die Augenfarbe konnte sich noch ändern, bis das Kind älter war. Doch der Zug um Mund und Nase, auch die Form der Augenbrauen kamen ihr recht bekannt vor. Allerdings ähnelten diese nicht der Schefflerin, sondern… Christina schaute zu ihrem Gatten und blickte ihm ins Gesicht. Konnte es sein? Oder doch nicht? Noch konnte sie sich keinen Reim darauf machen, aber Ähnlichkeiten gab es schon, nur winzige, aber immerhin.
„Was soll nun mit dem Kind werden?“, fragte Schumann Herrn von Einsiedel. Der Müller rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her.
„Das Einfachste wäre es, wir bringen es ins Waisenhaus nach Altenburg“, antwortete der Rittergutsbesitzer.
„Nein, bitte nicht!“ Christina sprang aufgeregt von ihrem Stuhl auf. Am liebsten wäre sie vor ihm vor ihm auf den Boden gesunken. „Bitte, Herr, überall hin, nur nicht ins Waisenhaus.“
„Frau, was soll sonst mit dem Kind werden? Wir haben hier keine Amme für die Kleine, und auch sonst niemanden, der sich dessen annehmen will. Ich kann es hier auch nicht gebrauchen. Zum Arbeiten ist es noch zu jung. In ein paar Jahren, gerne, aber nicht jetzt.“
„Ihr habt mich noch nicht gefragt“, erwiderte Christina.
„Was sagt dein Eheherr dazu?“
„Bitte, Hans… sag ja. Lass uns das arme Kleine bei uns aufnehmen und es wie unser eigenes Kind großziehen“, bettelte Christina erneut. Sie konnte sich bereits nicht mehr vorstellen, das Findelkind ins Waisenhaus zu geben.
„Ach, Frau…“ Hans Schumann starrte sein Weib an. Er wusste längst, wie sehr sie sich etwas Kleines wünschte. Doch der liebe Gott verwehrte bisher diesen Wunsch. „Na gut, wenn du es unbedingt möchtest, dann…“
Christina ließ ihren Gatten nicht ausreden. Sie warf sich an seine Brust und stammelte Dankesworte. Erneut rannen ihr Tränen über das Gesicht. Jedoch waren es dieses Mal Freudentränen. Sie durfte das Findelkind behalten.
„So soll es denn sein“, sagte von Einsiedel, der den Freudenausbruch der Müllersfrau schmunzelnd beobachtet hatte. „Geht nun, es ist alles besprochen. Doch ehe ihr nach Hause geht, sprecht beim Pfarrer vor und besprecht die Taufe. Das Kind muss so schnell wie möglich getauft werden.“
Dankend verabschiedeten sich Hans Schumann und dessen Frau.
„Weib, was soll nur aus uns werden? Was ist, wenn wir das Kind nicht mehr großziehen können? Wir sind nicht mehr die Jüngsten. Eigentlich sollten wir uns jetzt nur noch mit Enkelkindern umgeben und nicht mehr mit in die Hosen scheißenden Säuglingen“, brummte der Müllermeister in seinen Bart.
„Ach, Hans. Denk doch daran, wie schön es war, als deine und meine Kinder noch so klein waren. Ist es nicht ein Segen, nochmals so etwas Kleines großziehen zu dürfen, wo wir selbst nicht mehr in der Lage sind, Kinder zu zeugen? Deine beiden Töchter sind in der Nähe. Sollten wir nicht mehr in der Lage sein, die kleine Eva Maria großzuziehen, werden sie sich ganz bestimmt des Kindes annehmen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, meinte Hans schmunzelnd und zog seine Frau liebevoll in seine Arme. „Einen Namen hast du dir auch schon ausgedacht, und auch noch, ohne mich zu fragen“, schimpfte er dann grinsend.
„Gefällt dir Eva Maria nicht? Dann bestimme einen anderen“, bot Christina an.
„Lass nur, es ist schon recht“, entgegnete Hans.
Wenig später trafen die beiden am Pfarrhaus ein. Der kleine Vierseithof lag ein wenig versteckt zwischen riesigen Bäumen mitten in Lumpzig. Unweit davon war der Dorffriedhof, auf dem schon viele ihrer Ahnen ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Nach kurzer Wartezeit empfing sie Pfarrer Sebald Freidank und fragte nach ihrem Begehr. Als er den Säugling in Christinas Armen liegen sah, riss er erstaunt die Augen auf.
„Müllerin, ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Kind erwartet habt“, sagte er zu Christina.
„Herr Pfarrer, wir haben das Kleine angenommen. Es ist ein Findelkind und wir möchten es taufen lassen. Wir kommen eben von Herrn von Einsiedel, der bereits seine Zustimmung dazu gegeben hat“, erklärte die Frau und zeigte stolz Eva Maria vor.
„Ja, dann sollten wir das möglichst rasch tun“, erwiderte Sebald lächelnd. „Kommt morgen um die Mittagszeit mit zwei Taufpaten zur Kirche. Ich werde alles vorbereiten.“ Er wand sich ab, um zurück in seine Schreibstube zu gehen. „Wie soll das Kind heißen und wann wurde es geboren? Ich muss es wissen, damit ich es ins Taufbuch eintragen kann“, fragte er dann aber noch. Er schaute den Säugling ein wenig nachdenklich an. Er erkannte einige Merkmale im Gesicht des Kindes, die auch zum Müller passten, fragte aber nicht nach. Außerdem wusste er von der hochschwangeren Schefflerin, die plötzlich verschwunden und nicht auffindbar war. Ob es doch einen Zusammenhang zwischen der Schwangeren und dem Müller gab? Der Pfarrer wusste es nicht, es ging ihn auch nichts an, solange alles seinen vorgegebenen Gang ging und sich niemand etwas zu Schulden kommen ließ.
„Eva Maria Windmüller soll sie heißen. Wann sie geboren wurde, können wir nicht sagen. Meine Frau hat die Kleine heute Morgen gefunden. Wir denken aber, sie ist noch nicht lange auf der Welt, vielleicht ein paar Tage“, erklärte Hans Schumann. „Windmüller soll sie als Familiennamen tragen, da sie an unserem Hoftor an der Mühle gefunden wurde. Wir dachten, der Name sollte schon passend sein.“
Pfarrer Sebald lächelte erneut. „Habt ihr schon Taufpaten?“, wollte er noch wissen.
„Noch nicht, aber wir werden eine meiner Töchter und meinen Mühlknappen Johann Gottlob Hahn fragen. Sie werden sich bestimmt gerne als Paten zur Verfügung stellen“, antwortete der Müllermeister.
„Gut, dann bis morgen. Ich habe jetzt noch zu tun“, sagte der Pfarrer noch kurz angebunden, verschwand im Haus und ließ die frischgebackenen Zieheltern einfach stehen.
„Ein komischer Kauz“, murmelte Hans Schumann.
„Das macht doch nichts. Hauptsache, die Kleine wird getauft“, erwiderte Christina.
Auf dem Weg nach Hause sprachen Hans und Christina über die Zeit, die nun kommen sollte. Der Gedanke, in ihrem Alter erneut ein Kind großzuziehen, war ihnen noch fremd. Ein Problem war es, das Kleine zu ernähren. Sie nur mit Ziegenmilch zu füttern, fand Christina nicht gut. So machten sie sich sogleich auf den Weg nach Tauscha, um die junge Mutter aufzusuchen, deren Kind erst vor ein paar Tagen verstorben war. Christina wusste, sie hieß Tilda Krieg und war mit dem Hofschmiedemeister Gottlob Krieg verheiratet.
„Als Frau des Hofschmiedemeisters ist Tilda bestimmt nicht bereit, sich als Amme eines Findelkindes zu betätigen“, sagte Hans nachdenklich während sie schweigend nebeneinander hergingen.
„Fragen kostet ja nichts“, erwiderte Christina. „Ich wüsste auf Anhieb auch nicht, wer in der Umgebung noch als Amme dienen könnte. Die meisten Frauen, die derzeit gesegneten Leibes sind, kommen erst in ein paar Monaten nieder. Wir brauchen aber jetzt eine Amme und nicht erst in ein paar Monaten.“
„Du hast Recht, fragen kostet nichts und mehr als nein sagen, kann sie nicht“, meinte Hans zustimmend.
Schon vom Weitem hörten Hans und Christina das laute Hämmern, das aus der Schmiede in Tauscha scholl. „Der Gottlieb hat wieder alle Hände voll zu tun“, stellte Hans fest, während sie das Hoftor öffneten und in den Vierseithof traten. Ein riesiger Hund rannte ihnen entgegen und bellte, dass sie fast das eigene Wort nicht mehr verstehen konnten.
„Hasso! Hierher“, schimpfte ein junger, fast schmächtiger Mann, der eben aus dem Stall kam und die beiden Ankömmlinge am Tor stehen sahen. „Hasso!“, rief er wieder, während der Hund weiter um Hans und Christina herumsprang und sie somit zwang, an Ort und Stelle stehenzubleiben.
Dem Mann blieb nichts weiter übrig, als über den Hof zu gehen und dem Hund Gehorsam aufzuzwingen. „Weg mit dir“, schimpfte er und schlug mit einer Peitsche nach dem Tier. Erst jetzt verzog es sich winselnd und mit eingezogenem Schwanz. Am Brunnen ließ es sich nieder und beobachtete mit Argusaugen, was die angeblichen Eindringlinge in seinem Revier wollten.
„Ich bin Rupert, der Lehrling hier“, stellte sich der Junge nun vor und fragte nach dem Begehr der Besucher.
„Wir wollten eigentlich zu Tilda, der Hausherrin hier“, sagte Christina. „Ist sie zu sprechen?“
„Ich frage erst den Herrn, ehe ich Euch zu ihr lasse. Der Herrin geht es nicht gut, seit ihr jüngstes Kind gestorben ist. Es war schon ein Werk Gottes, dass sie, nachdem ihr Sohn bereits 18 Jahre alt war, nochmals schwanger wurde“, erwiderte Rupert und flitzte davon.
Es dauerte nicht lange und Gottlieb Krieg, der Schmiedemeister erschien auf der Bildfläche. Er trug eine Lederschürze, die über und über mit kleinen Brandlöchern verziert war und auf dem Kopf eine Mütze. Sein Gesicht glühte aufgrund der Hitze, die in der Schmiede herrschte. „Ah, der Müller und sein Weib“, begrüßte er die Besucher. „Womit kann ich dienen?“
„Wir wollten eigentlich zu deinem Weib. Wir hörten aber, ihr ginge es nicht gut“, sagte Hans nachdem er den Schmied ebenfalls begrüßt hatte.
„Ja, meiner Tilda geht es nicht gut, seit unser Kleiner gestorben ist. Er war ihr Ein und Alles.“ Gottlieb sah zu Christina, in deren Armen eben das Findelkind wach wurde und gurrte wie ein Täubchen. In Gottliebs Zügen war Trauer zu bemerken, als er das Kind sah. „Wie schön“, sagte er traurig zu Christina. „Meinen Glückwunsch den frischgebackenen Eltern.“
„Es tut uns aufrichtig leid, dass euer Kind verstorben ist“, wagte Christina, ihn anzusprechen. „Wir möchten deine Frau trotzdem bitten, uns zu helfen. Ich müsste die Kleine mit Ziegenmilch großziehen, wenn wir keine Amme finden.“
Der Schmiedemeister sah Christina fragend an. „Aber du hast die Kleine doch geboren, du müsstest doch Milch für sie in deinen Brüsten haben.“
„Das Kind ist ein Findelkind und wir haben es in den Schoß unserer Familie aufgenommen“, erklärte Christina nun wohl bereits zum tausendsten Male an diesem Tag.
„Da lang also läuft der Hase“, antwortete Gottlieb. „Ich will versuchen, meine Frau zu fragen“, sagte er, ehe er sie bat, ihn ins Haus zu folgen. „Ich weiß nicht, ob es gut sein wird. Versteht mich nicht falsch, ich würde euch gerne helfen. Aber das letzte Wort hat meine Frau. Vielleicht hilft euer Kind ihr, die Trauer über unseren Verlust zu überwinden. Und nun kommt.“
Als Gottlieb mit den Besuchern die Küche betrat, saß Tilda am Tisch und putzte Gemüse. „Liebes, du solltest dich doch ausruhen“, schimpfte er mit seiner Frau.
„Ach, lass mich doch. Soll ich mich den ganzen Tag langweilen und immer nur an unseren Kleinen denken? Ich muss etwas tun. Sonst werde ich verrückt vor Trauer.“ Sie sah auf und entdeckte Christina und ihren Gatten an der Tür. „Wir haben Besuch! Warum sagst du das nicht gleich“, schimpfte nun sie mit dem Schmiedemeister. Sie stand auf und ging auf die Besucher zu. Plötzlich erkannte sie den Säugling in Christinas Arm. „Oh“, sagte sie nur und schniefte. Tränen traten in ihre Augen.
Christina trat zu der trauernden Wöchnerin. „Es tut mir so leid“, sagte sie leise zu ihr. Auch Hans sprach ein paar Worte des Trostes, trat dann aber in den Hintergrund zurück.
Gottlieb gab Hans ein Zeichen, sich zurückzuziehen. „Lassen wir die Frauen das besser unter sich ausmachen. Bei Frauensachen sind wir fehl am Platze“, sagte er zu Hans, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Hans folgte dem Schmied nach draußen in den Hof, wo der Hund immer noch am Brunnen lag und aufmerksam jeden beobachtete, der sich bewegte.
„Ich wusste gar nicht, dass auch du gesegneten Leibes warst“, sagte Tilda nach einer Weile. Sie schniefte noch einmal kurz und wischte sich resolut die Tränen aus dem Gesicht.
„War ich auch nicht“, entgegnete Christina und blickte auf das Kind, das erneut in ihren Armen eingeschlummert war. „Die Kleine wurde an unserem Hoftor ausgesetzt und nun haben wir ein Problem.“
„Was für eine gottlose Person, die so etwas Grausames mit einem Neugeborenen tut. Wie kann man nur solch ein zartes Wesen einfach aussetzen und sich selbst überlassen. Pfui, der Teufel soll diese Metze holen“, schimpfte Tilda. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie dann. „Grundlos wirst du dich mit deinem Hans nicht hierher begeben haben.“
„Ich bräuchte eine Amme“, bekannte Christina und sah Tilde an. „Und ich dachte mir, dass…“
Tilda lächelte erfreut. Ihre sonst so bleichen Wangen färbten sich rosig. „… dass ich die Amme sein könnte“, beendete sie den Satz.
„Ich wagte es kaum, dich zu fragen, nach dem Unglück mit deinem Peter“, antwortete die Müllerin. „Du kannst dir bestimmt denken, dass ich nicht fragen würde, wenn es nicht dringend notwendig wäre.“
„Ach was. Du musst dich nicht fürchten“, erwiderte Tilda. „Schau mich doch an. Meine Brust spannt so sehr, dass ich denke, sie platzt sogleich. Nichts hilft, keine Wickel mit eiskaltem Wasser, auch Wickel mit Quark nicht. Sie ist voll von Milch und keiner will sie. Da kommt mir deine Kleine gerade recht. Gib sie mir, ich will mal sehen, ob sie meinen Busen auch annimmt.“
Erleichterte atmete Christina auf. Dann gab sie Evchen, wie sie das Findelkind bereits heimlich nannte, der Schmiedin. Die öffnete schnell ihr Mieder und legte das Kind an. Das sah sie mit großen Augen an, als wüsste es nicht, was zu tun war. Tilde legte ihm ihre Brustwarze an die Lippen und drückte ein wenig auf ihre Brust, bis etwas Milch austrat. Die Kleine verstand und schon legten sich ihre Lippen um die Warze und sie begann zu saugen. Schmatzend nuckelte Evchen an der Brust der Schmiedin. Sie sog so schnell, dass sie sich verschluckte und hustete. Tilda nahm sie auf und klopfte leicht auf ihren Rücken. Es dauerte ein wenig, bis sich Evchen beruhigt hatte und erneut nach der Brust verlangte.
„Siehst du, so einfach ist das“, meinte Tilda lächelnd. „Ich bin gerne ihre Amme.“
Christina freute sich wie schon lange nicht mehr. Dann besprachen die Frauen, wie sie vorgehen wollten. Immerhin hatte Tilda einen großen Haushalt zu besorgen und war nicht immer abkömmlich. Aber auch das konnte geregelt werden.