"Und? Fliegen schon die Funken?"
"Nur, wenn er ihn noch anzündet. Was ich nicht für ausgeschlossen halte."
Loris beobachtete Mael möglichst unauffällig aus den Augenwinkeln. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, Nick zu dieser eher spontanen Party zu sich nach Hause einzuladen. Er war im richtigen Alter, hatte einen gut bezahlten Job und sah wirklich blendend aus. Leider schien die Rechnung trotzdem nicht aufzugehen. Nick war dann auch irgendwann aufgestanden, und mit seinem Glas in der Hand in die Küche gegangen. Wo Loris und mehrere seiner Freunde um die Kücheninsel herumstanden, und so taten, als wüssten sie von nichts.
"Wow!"
"Ihr habt euch schon kennengelernt?", fragte der Gastgeber betont unaufgeregt.
Nick leerte sein Glas in einem Zug. "Ist der bösartig!"
"Dafür kannst du nichts." Der jüngste unter ihnen, ein schlanker Bursche mit sehr interessanter Frisur pustete sich eine pinke Strähne aus dem Gesicht. "Er mag mich auch nicht. Und ich bin entzückend!" Schon hatte er sich seinen Erdbeer-Mojito geschnappt, und sich wieder mitten ins Getümmel geworfen.
Die anderen sahen ihm grinsend hinterher.
"Woher kennst du den nochmal?", wollte die Frau neben Loris wissen.
"Ich kenne ihn gar nicht. Er hat nur was vorbei gebracht!"
Sie lachte lauthals.
Eben setzte sich wieder jemand neben Mael. "Sunny? Hey." Der Mann strich ihm gefühlvoll über die Wange.
"Sag mal, sieht das hier für dich wie ein Streichelzoo aus, oder was?!", knurrte der Dunkelhaarige.
"Süsser, ich mach mir wirklich Sorgen!"
"Oh Gott," flüsterte einer in der Küche. Das Gespräch war dort gut zu hören. "Hat Marc gerade Süsser zu ihm gesagt?"
"Ich fürchte, ja." Loris schloss die Augen.
"Das solltest du auch", konterte Mael nebenan auf der Couch. "Du hast kein Talent, kein Hirn, und besonders aussehen tust du auch nicht!" Er war genervt aufgestanden und in Richtung Eingang verschwunden.
Loris schüttelte resigniert den Kopf, ein kleiner Hellblonder seufzte theatralisch. "Nicht zu glauben, dass er uns allen mal das Herz gebrochen hat. Es ist ein Drama, also ehrlich! Da war er mir ja noch lieber, als er sich letztes Jahr quer durch den Großraum Frankfurt gevögelt hat!"
"Ja", meinte Nick und lächelte etwas nervös in die Runde. "Das war dann wohl mein Stichwort." Im Eingang musste er an Mael vorbei, der ihn aber keines Blickes mehr würdigte. Stattdessen verschwand er im Gästezimmer, und knallte die Tür hinter sich zu. "Und den nennt ihr Sunny? Ihr meint das ironisch, oder?"
Der Gastgeber reichte ihm die Jacke von der Garderobe. Er hatte keine Ahnung, was er dazu noch sagen sollte.
Mael machte es sich auf dem Bett bequem und griff sich ein Buch, das ihn nicht wirklich interessierte. Offiziell hatte sein Vater ihn nach Klosterneuburg geschickt, weil die Filiale seit längerer Zeit rote Zahlen schrieb. Die Wahrheit war wohl eher, dass Mael in letzter Zeit nicht gerade umgänglich gewesen war. Vor allem mit seiner Stiefmutter war er mit beeindruckender Regelmäßigkeit so sehr aneinander geraten, dass der Vater nun Konsequenzen gezogen hatte.
Mael hätte trotzdem in der Firma nach dem Rechten sehen sollen. Er würde das auch. Vielleicht morgen. Oder irgendwann.
Theoretisch hätte er sogar die Wohnung über den Büros beziehen können, anstatt im kleinen Gästezimmer seines Freundes in Wien zu schlafen. Aber da wäre er alleine gewesen, und alleine sein war Mist. Vor allem jetzt gerade. Wo diese Träume wieder da waren. Die, die ihn als Kind schon verfolgt hatten. In denen es dunkel war und eisig kalt. In denen Wasser über ihm zusammenschlug und ihn mit sich fort riss. Aus denen er schweißgebadet hochschreckte, weil er keine Luft mehr bekam.
Nicht, dass er mit Loris jemals darüber geredet hätte. Oder mit sonst jemandem. Aber es war einfach gut, dass er da war. Alleine sein war Mist. Zu viele Leute allerdings auch. Überhaupt, wenn sie alle Vollidioten waren.
Damals hatten sie ihn zu einer Kinderpsychologin gebracht. Heute war er erwachsen und konnte damit umgehen. Ganz sicher. Das wäre ja lächerlich.
Er legte das Buch beiseite. Etwas zu trinken könnte nicht schaden. Eine Flasche Wasser. Oder eine Flasche Cognac. Je nachdem, was ihm zuerst in die Hände fallen würde.
Die Wohnungstür ging gleichzeitig mit der Tür seines Gästezimmers auf. Mael stand einem jungen Mann gegenüber, der ihn erfreut anlächelte.
"Sunny! Was für eine Überraschung!" Er machte einen Schritt auf ihn zu und küsste ihn auf beide Wangen.
"Hm." Der Dunkelhaarige lehnte sich an die Wand.
"Wie lange versteckst du dich denn schon vor mir?", zwinkerte der Andere. Tristan war gerade mal zwanzig, hatte dunkelblonde Haare, blaue Augen und ein schönes, ebenmäßiges Gesicht. "Ich habe dich ja ewig nicht mehr gesehen. Schön! Ich freue mich!" Er stand schon nah vor Mael und schaute ihn von schräg unten an. Tristan war nicht ganz so groß wie er. "Wirklich. Ich freue mich sehr."
"Darfst du denn so spät überhaupt noch raus, Kleiner?"
"Du weißt ja, wie man sagt. Je später der Abend, desto schöner die Gäste."
Mael griff sich eine Flasche, die jemand auf dem Sideboard im Eingang hatte stehen lassen. Johnny Walker. Wieso nicht. "Wo hast du denn deinen Sugar-Daddy gelassen?"
"Alfred? Ach, der hat mal wieder PMS", seufzte der Dunkelblonde.
"PMS?"
"Post-Mastercard-Syndrom."
"Verstehe", nickte Mael. "Und? Sonst? Was geht?"
Der Jüngere zuckte mit den Schultern und verzog die Lippen zu einem Schmollmund. Er war noch einen Schritt näher gekommen, und hatte seine Hände inzwischen unter Maels Shirt. Sachte strichen seine Fingerspitzen direkt über dem Bund der Jeans am Bauch entlang. "Ach, weißt du", seufzte er, "für meinen Geschmack könnte ruhig mehr gehen ...!"
Etwa gegen zwei Uhr nachts steckte Mael sich draußen eine Zigarette an. Es war kalt. Seit Loris nicht mehr rauchte, mochte er den Gestank in seiner Wohnung nicht mehr.
Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, hatte sein Freund es sich mit einem Bier und einer Decke auf der alten Couch bequem gemacht, die als einziges Möbelstück auf seinem Balkon stand. Geschützt vom Wind war es hier für ihn sogar im tiefsten Winter ein gemütliches Plätzchen. "Kannst du nicht schlafen, Sunny?"
"Der will immer reden, wenn wir fertig sind."
"Und du nicht?"
"Ich will nicht mal vorher mit ihm reden!"
Der Blonde schüttelte den Kopf. "Komm, setz dich. Magst du was trinken?"
"Warum jetzt aufhören?" Er nahm sich eine Flasche und ließ sich neben Loris in die Kissen fallen.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. "Hast du denn gar nichts für ihn übrig, Mael?"
"Für wen?"
"Nick!"
"Zählt Pfefferspray auch?"
"Ich verstehe dein Problem nicht."
"Es gibt ja auch keines!"
"Das verwöhnte Bürschchen, das nebenan im Bett meines Gästezimmers auf dich wartet ist dir wirklich lieber? Das kann doch nicht dein Ernst sein."
"Der ist weder mein Ernst, noch mein Problem. Der geht noch vor dem Frühstück nach Hause."
"Ja, genau." Loris sah ihn traurig an. "Sowas war doch sonst nie dein Ding. Was soll das? Du bist fast dreißig, deine letzte ernsthafte Beziehung war die mit Konstantin. Und das ist ewig her!"
Der Dunkelhaarige war genervt. "Das war nicht die mit Konstantin, das war die mit Julian."
"Ach, hör doch auf! Wie oft hatten wir das schon?! Sunny, das war gerade mal eine Woche, das kannst du doch nicht Beziehung nennen! Sieh es, wie es ist. Du hast dich an einem beschissen romantischen Ort in einen hübschen Jungen verguckt, und am Ende hat er dich abgeschossen! That`s life."
"Ich verstehe einfach nicht, warum." Mael nahm Loris die Decke weg, griff sich eines der flachen Kissen, drückte es auf die Oberschenkel des Anderen, legte seinen Kopf darauf und streckte sich aus. Die Couch war ihm zwar etwas zu kurz, aber mit den Füßen auf der Lehne gar nicht unbequem. Umständlich breitete er die Wolldecke über sich aus.
"Wie nennst du das hier gerade?", wunderte der Blonde sich.
"Wahre Liebe würde ich sagen", grummelte Mael. "Habe ich meinen Kopf in deinem Schoß oder nicht?!"
"Ja, schon! Aber ... nicht auf die gute Art!" Loris zog ihn grinsend am Bart.
"Sag mir, was ich falsch gemacht habe."
"Du hast gar nichts falsch gemacht, Sunny. Der mag sein Leben in seiner Dorfidylle, hat eine hübsche Freundin und denkt keine Sekunde mehr an dich. Dagegen kannst du nichts machen. Der war einfach nur ein bisschen neugierig. Das war ein Spiel für ihn. Ein Zeitvertreib."
"Nein. So war er nicht."
"Doch, Sunny. Genau so war er!"
"Nein. Ich hab ihn so geliebt. Er mich auch."
"Hat er dir das je gesagt? Nein, das hat er nicht! Mann, der hat dir noch nicht mal seine Telefonnummer gegeben! Der Junge hat dir nie etwas vorgemacht, der war erwachsener als du."
Mael stellte sein Bier neben sich auf den Boden, machte die Augen fest zu und hielt sich beide Hände vors Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
"Du hast ein Profil auf jedem Social Network dieser Erde. Er hätte dich jederzeit anrufen können. Dir schreiben, keine Ahnung. Das hat er nicht, und du hast es ausgehalten."
"Ich habe es nicht ausgehalten." Der Dunkelhaarige hatte das so leise gesagt, dass der Andere ihn nicht verstanden hatte.
"Was?"
"Ach, nichts."
"Sieh zu, dass du mal wieder in die Spur kommst", flüsterte der Blonde ihm zu.
"Erträgst du mich auch nicht mehr?"
"Du darfst so lange bleiben, wie du willst. Das weißt du." Er legte einen Arm um seinen besten Freund und drückte ihn ein wenig. "Ich ertrage dich, weil ich weiß, dass du nicht so bist."
"Da weißt du mehr, als ich. Ich denke, ich fliege nach den Feiertagen mal wieder für eine Woche zu meiner Schwester", wechselte er das Thema. "Mein Patenkind besuchen. Was hältst du davon?"
"Ja. Mach das." Der Blonde nickte. "Wie alt ist die Kleine jetzt?"
"Etwa ein halbes Jahr. Komm doch mit!"
"Nach Paris? Wir beide in der Stadt der Liebe, Sunny? Was verstehen wir schon von der Liebe?!"
"Tut mir leid." Mael strich ihm kurz über die Wange. "Für dich ist es auch nicht so glorreich gelaufen, in letzter Zeit. Ich hätte dir wirklich mehr Glück gewünscht." Wieder schloss er die Augen. "Du kannst es dir ja noch überlegen."
"Weißt du was? Vielleicht mach ich das sogar." Nachdenklich trank Loris den letzten Schluck von seinem Pils. "Ach, diese Franzosen!", seufzte er. "Egal was sie zu einem sagen, es hört sich immer an, wie fick-misch-unter-die-Eiffelturm."
"In deiner tätowierten Brust schlägt das Herz eines wahren Poeten, mein Freund."
"Ja, nicht wahr? Eines Tages werde ich einen Gedichtband veröffentlichen."
"Erwarte bloß nicht, dass ich den Scheiß lese!"
"Literaturbanause!"
Er hätte nicht mehr zählen können, wie oft er Julians Namen gegoogelt hatte. Nur um vielleicht ein Foto von ihm zu finden. Wenigstens das. Aber, nichts. Nirgendwo. Fast so, als würde er nicht existieren, als hätte Mael sich das alles nur eingebildet. Sogar die Briefe waren zurückgekommen. Mit einem Vermerk, einem Stempel der Post, auf dem stand, "Adressat unbekannt"!
Und dann war er hingefahren. Weil das ja gar nicht sein konnte. Aber niemand war da gewesen. Alles war zu gewesen, alle Vorhänge geschlossen. Auch den Schlüssel in der Gartenmauer hatte es nicht mehr gegeben.
Alle sagten immer, "die Zeit vergeht, aber die Erinnerung bleibt." Mael glaubte das nicht. Am Anfang hatte er Julians Gesicht überall gesehen. Überall seine Stimme, sein Lachen gehört. Mittlerweile war das Lachen verhallt und die Bilder zu verschwommen.
Am Ende würden auch diese letzten Funken vom Wind davongetragen werden. Wie goldene Blätter im Herbst. Mael hatte Angst davor. Aber vielleicht wäre das auch ein Segen. Wenn die Erinnerung verginge und ihm nur noch die Zeit bliebe. Irgendwann.