"Julian?"
"Tiger?" Noah lächelte. Julian war der einzige Mensch, der Tiger zu ihm sagte.
"Deiner Mama macht es wirklich nichts aus, dass ich da bin?"
"Kommt es dir so vor?"
"Nein, überhaupt nicht! Es ist nur ... Ich weiß nicht. Bei mir daheim ..."
"Wir sind aber bei mir daheim. Komm ins Bett."
Erschöpft legte Noah sich neben ihn und streckte sich aus. "Hat deine Mutter wieder geheiratet?"
"Nein. Wie kommst du denn darauf?"
"Weil sie einen anderen Nachnamen hat als du."
"Ach so. Nein, sie hat damals einfach nur ihren Mädchennamen behalten. Irgendwas mit eigener Identität und Emanzipation, oder so. Aber ich habe den Nachnamen von meinem Vater bekommen."
"Das würde Emma gefallen."
"Ja", lachte Julian. "Da bin ich sicher!"
"War das nie komisch für dich, anders zu heißen als deine Mutter?"
"Komisch nicht. Ein bisschen unpraktisch vielleicht. Ein echtes Problem war es erst, als der alte Briefträger pensioniert worden ist. Der hat mir immer alles gebracht, auch wenn die Anschrift nicht ganz gepasst hat. Manche Leute wissen das nämlich nicht. Die gehen einfach davon aus, ich habe denselben Namen wie die Mama. Und manche wissen es, und schreiben trotzdem immer den falschen hin."
Noah schüttelte lachend den Kopf.
"Dass ich auf einmal weniger Post bekommen habe, ist uns ein paar Monate nicht aufgefallen. Bis sie Tante Gerti, die ist auch so eine, seit zwanzig Jahren das gleiche, meine Geburtstagskarte zurück nach Neuseeland geschickt haben. Mit einem Vermerk, auf dem stand, Adressat unbekannt!" Umständlich kuschelte er sich in Noahs Arm. "Ja, die Aushilfen von der Post waren da beinhart!", grinste er. "Morgen lernst du alle meine Freunde kennen."
"Aha? Muss ich mich fürchten?"
"Nicht wirklich. Vor Helene vielleicht. Ein bisschen. Die anderen sind harmlos", grinste er.
"Helene? Ist das die Hübsche, die ständig Liebeskummer hat?"
"Die Hübsche, hm? Doch, das ist sie."
"Aber Tom kommt auch, ja?"
"Klar!"
"Gott sei Dank." Er kannte Tom schon seit Monaten. "Den mag ich."
"Ja? Wie sehr?"
"Eifersüchtig?"
"Ansatzweise, ja!"
Noah musste wirklich lachen. "Wie soll es mir da gehen? Wer wird denn bitte andauernd angemacht? Sogar, wenn ich dabei bin?"
"Dafür kann ich doch nichts!"
"Schon gut. Ist ja auch kein Wunder", grummelte er und drückte Julian einen Kuss auf die Stirn. "Ich frage mich sowieso jeden Tag, wie mir das hier passieren konnte."
"Was meinst du jetzt konkret mit das hier?!"
"Dich."
"Ähm ... Danke?"
"Na ja", meinte er ein wenig verlegen. "Du bist du. Und ich bin ... nur ich."
Julian lachte jetzt auch aus vollem Herzen. "Und ich hab dich lieb, du Vollidiot!"
"Was ja wohl gleich neue Fragen aufwirft!" Fröhlich zog er den anderen näher an sich. "Ich dich auch."
"Dann hätten wir das geklärt?"
"Hätten wir. Nur eines noch. Ist mir wirklich wichtig."
"Ja?"
"Selber Vollidiot!"
Wie Thomas vor einem halben Jahr, hatte auch Andi sich fest vorgenommen, Noah zu mögen. Und wenn nicht, Julian auf jeden Fall das Gefühl zu geben, dass es so wäre. Und genau wie Tom, mochte er ihn dann tatsächlich sofort. Er fand den Typ sogar richtig gut. Es gab nicht viele Menschen, die peinliche Geschichten, bei denen sie auch selbst gar nicht gut weg kamen, so gut erzählten, dass man vor Lachen kaum noch atmen konnte. Noah hatte das drauf!
Zu viert standen sie in der Einfahrt. Julian und Noah waren gerade von einem kurzen Spaziergang zurück, als die Anderen ziemlich gleichzeitig angekommen waren. Die Mädchen waren schon mal ins Haus gegangen.
"Hast eh keine Probleme daheim gehabt?", fragte Tom, "weil du da bist?
"Du ... Die Mutter weiß es eh schon länger. Wie meine Schwägerin. Meine Brüder und der Vater wissen es jetzt halt auch", zuckte Noah mit den Schultern.
"Und? Passt das mit deinem Vater?" Julian war ein weinig vorsichtig.
"Weiß noch nicht so recht." Der Größere war nachdenklich. "Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir Barbara getroffen haben? So hat er ausgesehen!"
"Wer ist Barbara?", wollte Andi interessiert wissen.
"Seine Ex", erklärte Julian knapp.
"Barbara ist aber ... ein Mädchen, oder?"
"Klar ist Barbara ein Mädchen", meinte Noah. "Wieso fragt mich das jeder?"
"Ja!", rief Julian lachend. "Wieso fragt ihn das jeder?!"
Es war ein schöner Sommertag gewesen, und sie hatten zusammen auf einer Bank am Ufer des Flusses gesessen. Na ja. Sie hatten nicht nur da gesessen. Sie hatten sich auch im Arm gehalten und sich dabei irgendwas am Handy angesehen, das ziemlich lustig gewesen war. Und sie hatten sich immer mal wieder geküsst. Jedenfalls hatte auf einmal Barbara vor ihnen gestanden.
Sie wünschten beide, sie könnten sagen, es wäre gut gelaufen. Aber so war es nicht gewesen. Ganz und gar nicht, um ehrlich zu sein. Viel mehr hatte Barbara alle Farbe im Gesicht verloren, und dann innerhalb von Sekunden die fünf Phasen der Trauer abgeschlossen: Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression und Akzeptanz.
Ja, sie hatte gesagt, "Das kann doch nicht wahr sein. Du spinnst ja wohl! Vielleicht machst du gerade eine schlimme Zeit in deinem Leben durch und kriegst dich wieder ein? Ich bin für dich da! Darüber werde ich nie hinweg kommen, nie! Da kann man wohl nichts machen." Dann hatte sie gelacht. Es war ein seltsam hysterisches Lachen gewesen, direkt bevor sich in ihrem Gesicht jene Kernschmelze sichtbar abgezeichnet hatte, die sie in den letzten Augenblicken durchgemacht hatte.
Ganz und gar nicht gut.
"Aber er hatte dann nichts dagegen, oder?"
Noah schüttelte den Kopf. "Mama hatte nichts dagegen. Bei mir daheim läuft das, wie in jedem anständigen Haus am Land. Wenn eine Frau auf den Tisch haut, halten die Männer die Klappe."
Alle fanden das witzig. Nur Andi, der einzige von ihnen der verheiratet war, lachte nicht.
Tom konnte sich eine Frage nicht verkneifen. "Und wie läuft das dann bei euch zwei?"
"Oje." Noah machte ein trauriges Gesicht.
"Ja", gab Julian ihm nickend recht und umarmte ihn. "Bei uns daheim haut Emma auf den Tisch ..."
"... und wir halten beide die Klappe!"
"Das ist also Noah." Skeptisch sah Helene aus dem Küchenfenster. "Er ist ein bisschen ..."
"Ja?", fragte Carina aufmerksam.
"Wie soll man sagen ... unscheinbar. Findet ihr nicht?"
"Was soll denn das heißen?", meinte Olivia. "Ich finde ihn nett!"
"Ich sage ja nicht, dass er nicht nett ist. Nur, dass er nicht unbedingt ein Upgrade ist!"
"Du bist voll gemein! Wie würde es dir gefallen, wenn jemand über dich so etwas sagen würde?!"
"Dafür gäbe es ja wohl überhaupt keinen Grund", war die Blondine sich absolut sicher.
"Na ja." Carina folgte ihrem Blick. "Also ganz ehrlich jetzt. Was könnte es denn da noch für ein Upgrade geben?! Ich meine ... Mael ..." Den Namen hatte sie ganz leise gesagt.
"Vielleicht ein Calvin Klein Unterhosenmodel?", dachte Olivia laut nach.
"Aber nur vielleicht", war Carinas knappe Antwort.
Helene wirkte etwas eingeschnappt. "So toll war er nun auch wieder nicht!"
"Oh doch, das war er!", und "Boah, sowas von!", sagten Livi und Carina gleichzeitig.
"Stellt euch vor, der Dreckskerl hat mich mal auf Facebook angeschrieben. Nicht zu fassen, oder?!"
Die anderen beiden waren sofort verstummt.
"Und was .. hast du ..."
"Nach dem was der hier abgezogen hat?! Der spinnt ja wohl total, wenn er glaubt, dass ich noch jemals im Leben auch nur ein einziges Wort mit ihm wechsle!" Helene hatte die letzten Tassen mit Glühwein gefüllt. "So. Und jetzt sollen die Jungs endlich rein kommen, damit ich diesem Noah mal auf den Zahn fühlen kann!", grinste sie hinterhältig.
Die beiden Mädchen sahen ihr geschockt hinterher. "Glaubst du", fragte Olivia vorsichtig, "wir haben damals das Richtige getan?"
"Das haben wir!" Tom stand auf einmal direkt hinter ihnen. "Ihr wisst genau, wie es ihm ging."
Olivia sah nach unten auf ihre Schuhe. Carina sagte auch nichts.
"Seht aus dem Fenster! Es war richtig!"
Es war nicht so gewesen, dass Mael nie wieder aufgetaucht wäre. Und die meisten von ihnen wussten davon.
Nachdem Olivia in jenem Sommer ihren Job im Supermarkt gekündigt hatte, war sie nach Linz gezogen. Wie Julian war auch sie von da an kaum mehr nach Hause gekommen. Erst Ende Februar hatte sie eine Ausnahme gemacht.
Ihr Vater war im Krankenhaus gewesen, und es hatte schlecht ausgesehen. Er hatte im Koma gelegen. Zuerst im Alkoholkoma, und dann in einem richtigen. Jedenfalls hatten die Ärzte diesmal wenig Hoffnung gehabt.
So war sie an besagtem Nachmittag die Seestraße entlang spaziert und hatte fröhlich ein Lied vor sich hin gesummt. "So ein Tag, so wunderschön wie heute ..." Dabei hatte sie Carina getroffen, die auf dem Weg zu Julians Haus gewesen war. Es hätte gar nicht besser laufen können! Marlene hatte, wie jedes Jahr um diese Zeit, eine Woche Urlaub in einer Therme gemacht und darum Carina gebeten, die Post aus dem Briefkasten zu nehmen. "... so ein Tag, der sollte nie verg..."
Sie hatten ihn beide gesehen. Gleichzeitig. Und gleichzeitig waren sie auch sofort im Schatten des Nachbarhauses verschwunden. Keine von ihnen hatte sich gerührt. Sie hatten das nicht glauben können.
Mael hatte auf einer der unteren Stufen der Treppe gesessen, die hoch zu der Ferienwohnung führte und dabei etwas auf einen Zettel geschrieben. Den Zettel hatte er danach in ein Kuvert gesteckt. Und dann war er aufgestanden und hatte das Kuvert in den Briefkasten geworfen. Er war dann noch eine ganze Weile stehen geblieben. Lange, wenn man bedenkt, wie klirrend kalt es an diesem Tag gewesen war.
Zuerst hatte er direkt vor dem Briefkasten gestanden und dann in der Einfahrt. Er war einfach da gewesen, mit dem Rücken an sein Auto gelehnt und hatte auf das Haus gesehen. Fast so, als hätte er sich nicht davon trennen wollen.
Irgendwann war er schließlich in seinen Wagen gestiegen und weggefahren.
Carina hatte sich schneller gefangen, als Olivia. Mit zitternden Fingern hatte sie die Schlüssel für Haus und Briefkasten aus ihrer Jackentasche geangelt, hatte einmal tief durchgeatmet und war hinüber gegangen.
Die Mädchen hatten die Tür aufgeschlossen und die Post im Eingang abgelegt. Zwei Zeitungen, eine Menge Werbung und ... das Kuvert ganz oben. Nur ein einziges Wort hatte darauf gestanden: Julian.
Lange Zeit hatte keine von ihnen ein einziges Wort gesagt. Sie hatten nur da gestanden und diesen Umschlag angesehen.
"Was tun wir jetzt?", hatte Olivia geflüstert.
Carina hatte ihr nicht geantwortet. Eine kleine Ewigkeit nicht. "Wann hast du zuletzt mit Julian geredet?"
"Länger her." Livi hatte sich schlecht gefühlt. Ihr war schlecht. Kotzübel, sogar!
Wieder war Zeit vergangen. Und dann hatte Carina Toms Nummer am Handy gewählt. "Hey. ... Danke, gut. Und dir? ... Mhm. Weißt du, wie es Julian geht? ... Aha. Letztes Wochenende. ... Das ist schön! ... Wieso? Weil ... er da war. ... Wenn ich es dir sage ... Heute. Gerade eben. ... Er hat aber was da gelassen ... Ein Kuvert. Im Briefkasten. ... Ja. Ist gut. Bis gleich."
"Und jetzt?"
"Warten wir."
Nach etwa zwanzig Minuten hatte Thomas dann auch vor diesem Kuvert gestanden.
"Wie geht es ihm?", hatte Olivia wissen wollen.
"Endlich n'issl besser, hab ich den Eindruck."
"Das freut mich!", flüsterte sie.
"Gibt'n paar Sachen, die macht er halt noch immer nich so oft. Essen, schlafen oder reden zum Beispiel, aber sonst wirklich besser. Fast schon super! Ja, ganz super!" Zornig hatte der große Blonde nach dem Umschlag gegriffen.
Carina hatte ihn am Handgelenk gepackt. "Wir müssen ihm den geben!"
"Seh ich anders."
"Vielleicht würde es ihm helfen, wenn er den Brief ..."
"Oder nich!"
Olivia hatte nervös an einem Fingernagel gekaut. Sie hatte sich das längst abgewöhnt gehabt! "Sollen ... wir ihn ... erst ... aufmachen?"
"Is sowieso scheiß egal, was da drin steht", zuckte Tom mit den Schultern. "Julian wird das nie erfahren."
"Aber ..."
"Nein!" Tom war unfassbar wütend. "Ihr habt den Brief hier nie gesehen, ihr habt Mael hier nie gesehen. Verdammt, Julian hat sich endlich n'bisschen gefangen!" Thomas war mit dem Umschlag hinaus gegangen und hatte die Straße überquert. Die Mädchen waren ihm gefolgt, bis er schließlich am Steg stehen geblieben war. "Was soll darin geschrieben sein, das ihm helfen könnte, hm? Was?! Dieser Scheißkerl soll sich bloß heim scheren zu seiner tollen Familie! Der kann froh sein, dass er nich mir über'n Weg gelaufen is!" Der Blonde hatte nach einem Feuerzeug gegriffen. "Sind wir uns einig?"
Die Mädchen hatten sich angesehen und dann still genickt.
Die kleine Flamme hatte aufgelodert und eine Ecke des Umschlags in Brand gesetzt. Rasch war das Feuer am Papier nach oben gezüngelt. Orange und blau. Weiß und gelb. Tom hatte das Kuvert schließlich auf die Bretter gelegt.
"Schöne Farben."
Maels Brief an Julian war rasch zu schwarzer Asche geworden. Kleine Flocken waren vom Wind davon getragen, und der Rest unter einer Schuhsohle durch die Ritzen hinunter in den See gewischt worden.
Olivia hatte noch Wochen später immer ein wenig geweint, wenn sie daran gedacht hatte.
Und ihr Vater war auch nicht gestorben.
Scheiß Tag eben.