Das italienische Restaurant im Nachbarort, war gut besucht. Julian hatte in weiser Voraussicht einen Tisch reservieren lassen. Zusammen mit Noah hatte er Marlene zum Essen eingeladen. Sie mochte die Pasta, die beiden jungen Männer hatten sich für Pizza entschieden.
"Wann fahrt ihr denn morgen?"
"In der Früh."
"Was?! Wieso denn schon in der Früh?"
"Weil Noah noch nie in Salzburg war", lächelte Julian.
"Ich bin aber schon ein paar mal vorbei gefahren!", verteidigte sein Tiger sich.
"Wir machen einen Spaziergang durch die Altstadt, und holen dann gegen Mittag Emma am Bahnhof ab. Sie fährt von dort aus mit uns."
"Na, das sehe ich ein. Da habt ihr recht, die Zeit müsst ihr euch nehmen. Es ist wirklich eine wunderschöne Stadt, Noah!"
"Marlene Wagner?" Ein Mann mit leicht ergrautem Vollbart hatte sich vorsichtig dem Tisch genähert.
Julians Mutter fiel die Gabel auf den Teller. "Leonhard?"
"Mein Gott! Das ist aber ... dass wir uns hier sehen!"
"Unmöglich ist es nicht. Ich wohne ja nicht weit", hatte sie sich schnell wieder gefangen.
"Ach ja. Du hast nach Attersee geheiratet. Den Sonnleitner Georg, gell?"
"Ja. Leonhard, darf ich dir Julian vorstellen? Meinen Sohn?"
Der Mann gab ihm die Hand. "Leo. Freut mich sehr. Ich kenne deine Mutter aus der Schule!"
"Und das ist Noah, mein Schwiegersohn", erklärte sie.
Auch ihm schüttelte er erfreut die Hand. Die beiden jungen Männer am Tisch tauschten einen kurzen Blick. "Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?" Noah deutet auf den Stuhl neben sich.
"Ja, gerne. Aber ... sitzt hier nicht ihre Frau?"
"Meine Frau?"
"Weil Marlene eben sagte, Sie wären ihr Schwiegersohn."
"Ich habe keine Tochter", lächelte sie. "Julian ist mein einziges Kind."
Es dauerte ein paar Sekunden. "Ah. Ah, so! Ja. Ja dann, gerne."
Noah und Julian hatten aufgegessen und sich an die Bar verzogen, damit Marlene und ihr Bekannter sich ungestört unterhalten konnten. Noah hatte ein breites Grinsen im Gesicht. "Sag mal. Kommt es mir nur so vor, oder versuchst du gerade deine Mama zu verkuppeln?"
"Ganz ehrlich? Das versuche ich seit fünfzehn Jahren. Aber sie lässt sich einfach nicht!", grummelte Julian mit einem möglichst unauffälligen Blick in Richtung Tisch.
Leo hatte für sich und Marlene noch zwei Gläser Wein bestellt. "Also dein Sohn ..."
"Ja?"
"Na, wenigstens hast du mit ihm nicht über Verhütung reden müssen", zuckte er mit den Schultern.
Sie lächelte. "Ja. Mit Enkelkindern wird es wohl nichts werden."
"Du, ich habe drei Kinder. Alle erwachsen, alle verheiratet und trotzdem kein Enkerl. Nicht eines!"
"Hättest du mal die Gespräche über Verhütung ausgelassen, was?"
"Rückblickend wäre das vielleicht die Lösung gewesen", prostete er ihr fröhlich zu. "Wie man es auch macht, man macht es falsch!"
"Hättest du gerne eines? Enkelkind, meine ich."
"Ich habe mir schon immer vorgestellt, mit ihm einen Hasenstall zu bauen. Oder so was."
"Mit ihm?"
"Oder ihr. Ich wäre mit allem zufrieden!", lachte er. "Und du?"
"Nicht Hasenstall. Aber Kekse gebacken hätte ich schon gerne mit ihr. Oder so was."
"Mit ihr?"
"Oder ihm. Ich würde ja auch alles nehmen."
"Du hast dich gar nicht groß verändert, Lenchen. Ist schon schön, dass ich dich mal wieder sehe."
Marlene war der Abschied von Julian und Noah am nächsten Vormittag schwer gefallen. Es war ihr anzusehen gewesen.
Die beiden spazierten gemütlich durch die Salzburger Getreidegasse. "Wie weit ist es bis zur Burg hinauf?"
Julian nahm Noahs Hand. "Heute lieber nicht."
"Wieso nicht?"
"So."
"Du hast Angst, dass mir wieder die ganze Nacht das Bein weh tut, hm?"
Der Jüngere sagte nichts.
"Wenn du nur mal auf dich selbst so gut aufpassen würdest, wie auf mich", schmznzelte Noah.
"Das machst ja du."
"Julian?" Der Ältere war stehen geblieben. "Habe ich mich schon mal bei dir bedankt?"
"Wofür denn?"
"Dafür, dass du so hart bist? Dass du mir irgendwann die Schmerztabletten nicht mehr gelassen hast? Dass du mich drei mal die Woche zwingst ins Fitnessstudio zu gehen?"
"Das magst du alles nicht."
"Dass du immer da warst." Noah sah betreten auf seine Sportschuhe. "Und ich nörgle dafür pausenlos an dir herum. Geh nicht bei Sturmwarnung mit dem Kite hinaus, hör auf so schwierige Routen zu klettern, halt dich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, ..."
Julian drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen. "Deswegen lebe ich noch."
"Okay." Das hatte Noah gerade mehr erschreckt, als er zugeben wollte.
"Ich schlage vor, ich bin weiterhin hart. Erschreckend hart sogar, wenn du willst! Dafür hörst du aber nicht auf, zu nörgeln. Deal?"
"Deal", lächelte Noah. "Gehen wir mal lieber zum Auto. Wir kriegen nämlich mächtig Ärger, wenn Emma am Bahnhof auf uns warten muss."
Mael sah aus dem Fenster seines Abteils. Die Landschaft wirkte so trostlos. Grau und abweisend. Erst als der Zug immer näher an die österreichische Grenze kam, begann sein Ausblick sich zu verändern. Hier lag Schnee. Weiße, kalte Welt. In Salzburg würde er umsteigen müssen.
"Jetzt sind wir zu früh."
"Wie viel zu früh?"
"Halbe Stunde", meinte Julian. "Lass uns was Schnelles essen. Da oben ist ein Restaurant. Außerdem ist das Warten im Warmen angenehmer."
Sie hatten beide eine Kleinigkeit bestellt, und waren fertig als Emma in den Saal gerauscht kam. Überglücklich fiel sie nacheinander zuerst Noah und dann Julian um den Hals.
"Magst du auch noch was essen, bevor wir fahren?", fragte Noah seine Mitbewohnerin.
"Ich habe die ganzen Feiertage lang nichts anderes getan als essen. Mir graust schon! Ab nach Hause!"
Die beiden jungen Männer sahen sich an. "Kommst du da nicht gerade her?"
"Zuhause ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Hoch mit euch!", grinste sie breit.
Julian nickte. Er hatte sich eben einen Streifen Kaugummi in den Mund geschoben und faltete aus dem silbernen Papierchen einen winzigen Flieger, den er in die weihnachtliche Tischdeko steckte. Passte gut dazu. Zu dritt verließen sie das Restaurant.
Maels Zug hatte Verspätung gehabt. Er hatte den Anschluss verpasst und musste nun fast eine Stunde totschlagen.
Im Bahnhofsrestaurant bestellte er sich einen Kaffee. Er hatte Kopfweh und war todmüde. In der Mitte des kleinen Tisches stand eine Art Blumentopf mit Efeu und kleinen silbernen Christbaumkugeln darin. Es sah nett aus. Aber etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig zog er ein sehr kleines Flugzeug aus dem Grün. Solche hatte er schon gesehen. Viele!
Die Kellnerin stellte ein Tablett mit Kaffee und einem Glas Wasser vor ihm ab. "Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen?"
"Wer hat hier gesessen?"
"Bitte?"
"Wer hat", er hielt das kleine Ding zwischen zwei Fingern, "vor mir hier gesessen?"
"Tut mir leid, das weiß ich nicht. Wir hatten gerade Schichtwechsel." Die Frau wandte sich bereits wieder um.
"Können Sie", Mael hatte sie am Handgelenk gepackt, "können Sie fragen?" Sie sah erschrocken aus. Das war ihm gerade bewusst geworden. Er ließ sie sofort los, und bemühte sich um ein Lächeln. "Bitte? Es ist wichtig!"
"Ich ... Ich sehe mal nach, ob der Kollege noch da ist, ja?"
"Vielen Dank. Das ist sehr nett." Die zwei oder drei Minuten bis sie wieder auftauchte, kamen ihm vor wie eine Ewigkeit.
"Ich habe ihn nicht mehr erwischt. Entschuldigung. Lustige Angewohnheit."
"Was?"
"Das!" Sie deutete auf das glitzernde Flugzeug in seiner Hand. "Das machen viele Leute. Sehe ich öfter."
"Ja." Traurig drehte er es hin und her. "Da haben Sie sicher recht."
"Klasse! Ihr seid schon da!" Wie ein kleiner Wirbelwind war Lui in die WG gestürmt. Da hatten sie noch nicht mal die Jacken richtig ausgezogen gehabt.
Sein Lebensgefährte Stefan war ihm kopfschüttelnd gefolgt. Entschuldigend hob er beide Hände und begrüßte dann erst einmal seine Cousine Emma.
"Kekse!" Lui war begeistert. Sofort schnappte er sich die Dose, die Marlene den jungen Männern mitgegeben hatte. "Wo sind unsere beiden Turteltäubchen überhaupt?"
"Küche."
"Und ich dachte, die drücken sich schon wieder in einer dunklen Ecke herum", grinste er. "Wovon ihr übrigens echt zu viele hier drin habt!"
"Ähmmm ..."
"Schätzchen, ihr solltet mal die Beleuchtung überdenken. Die Auswahl der Farben sowieso, und ..."
"Lui?"
"... auf jeden Fall ein paar Bilder aufhängen."
"Uns gefällt es aber so!"
"Mit Bildern ist es natürlich gar nicht so leicht. Vor allem, wenn man keinen Geschmack hat. Da fällt mir ein, ich habe vor einigen Tagen einen Kunsthändler kennengelernt, ..."
Julian war gerade dabei gewesen, einige Sachen die Marlene ihnen eingepackt hatte, in den Kühlschrank zu räumen. Mitten in der Bewegung war er erstarrt.
"... furchtbarer Typ! Ganz furchtbar!", fuhr Lui nebenan fort. "Ich sage euch, Kinder! Menschen gibt es. Die hassen echt die ganze Welt!"
Das war ja wohl eindeutig jemand anderes gewesen. Kurz schloss der Dunkelblonde die Augen und lächelte ein wenig. Vor allem, über sich selbst.
Es gab diese Augenblicke. In denen er an Mael dachte. In denen er einen Stich ins Herz bekam. Wie vor ein paar Tagen, als er sich daheim im Wohnzimmer zu nahe am Christbaum vorbei geschlichen hatte. Dabei war etwas von der Deko an ihm hängen geblieben. Lachend hatte Noah ihm die glitzernden Fäden aus den Haaren gezogen und ihn gefragt "Na? Willst du mein Engel sein?"
"Hey! Alles in Ordnung?"
Noah war der einzige Mensch, mit dem Julian je über Mael gesprochen hatte. Nicht viel. Eigentlich nur, dass es ihn gegeben hatte.
Wie Mael seine ganze Welt aus den Angeln gehoben hatte, mit einem einzigen Wort im Regen einer Sommernacht, hatte Julian nie erzählt. Nicht ein Wort darüber, wie schön dieser Mann gewesen war. Und wie lieb. Dass er an niemand anderen mehr denken, dass er sein Glück nicht hatte fassen können. Und auch nicht, dass es ihn am Ende fast umgebracht hätte.
Eben nichts von all dem, was die Franzosen Amour fou nennen. Wahnsinnige, verrückte Liebe.
Julian hätte Angst gehabt, seinem Freund damit weh zu tun. Weil es mit ihnen beiden nie so gewesen war, aber deswegen war Noah ihm nicht weniger wert. Er liebte ihn nicht weniger. Nur anders. Noah hätte das nicht verdient.
Julian schloss die Kühlschranktür, lächelte ihn an, schlang beide Arme um seinen Hals und küsste ihn.
"Wofür war denn der?", lächelte der Größere zurück.
"Einfach so. Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch."
"Wollen Sie einsteigen?"
Mael stand am Gleis, sein Zug nach Wien würde jede Minute abfahren. Langsam öffnete er die Hand. Das kleine, silberne Flugzeug lag federleicht auf seiner Haut. Der erste Windstoß trug es davon, wirbelte es hoch in die Luft, so hoch, dass er es nicht mehr hätte fangen können, auch wenn er es versucht hätte. Er sah es ein letztes mal glitzern, bevor es endgültig verschwand. Weit oben. Irgendwo. Es gehörte nirgendwo hin. Es wurde getragen, ohne Ziel. Wie er selbst.
Julian hatte ihn einmal gefragt, wo er zuhause wäre. "Ich habe keines. Jedenfalls nicht so eines, wie du", hatte Mael ihm geantwortet.
"Hallo?"
"Bitte?"
"Wollen Sie einsteigen?" Der Schaffner sah in fragend an. "Kann ich Ihnen helfen? Wo müssen Sie denn hin?"
Er hob seine Tasche auf und warf sie sich über die Schulter. "Nein, ich ... danke. Ich weiß genau, wo ich hin muss." Er war ganz ruhig. Er war sich ganz sicher. "Nach Hause", fügte er leise hinzu.
Mit einem Lächeln drehte er sich um und ging.
Es war Abend geworden. Marlene holte Bettwäsche aus dem Trockner, faltete sie ordentlich und trug sie nach oben. Sie öffnete einen Schrank und legte den kleinen Stapel in das mittlere Fach.
Die Schranktür blieb offen stehen, als sie ans Fenster trat. Nachdenklich schaute sie hinaus auf den See. Wie viele Geheimnisse lagen wohl auf seinem Grund?
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wegen vielem. Weil sie Julian damals alleine gelassen hatte. Weil sie nichts für ihn hatte tun können, als es ihm so schlecht gegangen war, wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Vor allem aber, weil sie Noah so gern hatte. Und es dennoch nicht übers Herz brachte, ein kleines Päckchen wieder da hin zu schmeißen, wo sie es gefunden hatte. In die Mülltonne.
Dieses kleine Päckchen in dunkelrot und silber, das in ihrem Wäscheschrank ganz unten, ganz hinten lag. Sie nahm es nicht heraus. Sie wusste auch so, dass es da war. Klein und quadratisch, mit einer kunstvoll gebundenen Schleife, auf der mit Kielfeder schwungvoll der Name eines anderen geschrieben stand.
So gerne hätte sie damals mit Mael gesprochen. Sie hatte einfach nicht glauben wollen, was sie nach und nach erfahren hatte, hätte gerne seine Version der Geschichte gehört.
Sie hätte ihn einfach anrufen können, sie hätte seine Nummer gehabt. Aber sie hatte es nicht getan, sich nicht eingemischt, sie hatte gefunden, es stünde ihr nicht zu.
Die Jahre waren vergangen. Ihr stiller Zweifel nicht.
Friedlich lag der See vor ihr. In tiefem Dunkelblau.
Julian.
Ich sterbe.
Rede mit mir, ich bitte dich! Ich weiß nicht, warum du das tust. Ich verstehe es nicht. Sag mir, was ich falsch gemacht habe, verzeih mir!
Sprich mit mir! Was muss ich tun, um dich wieder zu sehen? Nur ein einziges Mal. Bitte!
Ich liebe dich, Engel.
Ich habe keine Worte, um dir zu sagen, wie sehr du mir fehlst.
Mael.
Versunken. In tiefem Dunkelblau.
ENDE