Julian hatte fest vor, für seine Mama am Weihnachtsabend ein besonderes Essen auf den Tisch zu stellen. Das Rezept für Hühnchen in Weinsauce mit Selleriegratin hatte er aus einer Zeitschrift. Seine Mum war sofort begeistert gewesen! Auf den Sellerie hätte er selbst zwar gut verzichten können, aber darum ging es ja nicht. Marlene mochte ihn schon immer besonders gerne.
Schenkte man dieser Frauenzeitschrift hier Glauben, hatte irgend ein Haubenkoch das erfunden. Spätestens bei der Zubereitung der Füllung für den Vogel, kamen dem jungen Mann allerdings ernsthafte Zweifel an dieser Info. Oder an den Testern des Gault-Millau, die dem Bürschchen in zielsicherer Geschmacksverirrung die Haube nachgeschmissen haben mussten. Wer machte denn bitte Dörrpflaumen in eine Füllung?! Aber gut. Wenn es nun mal hier stand ...
Mit Noah hatte er schon oft gekocht und es war immer essbar gewesen. Was zu Anfang aber nicht unbedingt Julian zu verdanken gewesen war. Noah konnte einfach sehr gut kochen.
"Ah, das muss er sein!" Emma hatte Julian zu sich nach Hause eingeladen. Sie waren beide in der Küche der WG gewesen, als sie einen Schlüssel an der Eingangstür gehört hatten.
Nachdem sich herausgestellt hatte, warum sie ihn im Hörsaal angesprochen hatte, hatte er das gar nicht ablehnen können. Ihm war da nämlich kürzlich ein kleiner Unfall passiert. Eine heftige Windböe hatte seinen Kite noch einmal nach oben gerissen, als er das Ufer des Sees eigentlich schon erreicht hatte. Dabei hatte er jemanden umgehauen. Er hatte oft daran gedacht und sich gefragt, ob es dem anderen wohl wirklich gut ginge. Es hatte ihm ehrlich leid getan. Und dann war auf einmal Emma neben ihm gestanden, hatte ihm zornig einen groben Klaps auf den Hinterkopf verpasst, und ihn angefahren, was zum Teufel er sich eigentlich einbildete.
Noah hatte die Küchentür mit dem Fuß aufmachen müssen, weil er eine große Schachtel voller Lebensmittel getragen hatte. Julian hatte er dabei erst mal nicht bemerkt. Der hatte hinter ihm auf dem Tisch gesessen.
"Was hast du denn damit jetzt vor?", hatte das Mädchen mit den streichholzkurzen, hellbraunen Haaren ihren Mitbewohner erwartungsvoll gefragt, während sie höchst interessiert den Inhalt des Kartons inspirierte.
Er hatte bereits angefangen, die Sachen im Kühlschrank und in diversen Schubladen zu verstauen. "Ich werde was kochen. Ein Wort, das dir nichts sagt."
"Dafür habe ich ja dich."
"Außer mir macht es ja keiner!"
"Was soll das heißen? Nur weil ich eine Frau bin, muss ich kochen können, oder was?!"
"Wenn ich mich darauf verlassen würde, wäre ich schon längst verhungert!"
"Soll ich mir eine Schürze mit Rüschen kaufen, und mich im Haushalt selbst verwirklichen, nur weil dich das glücklich macht, ja?!"
"Das habe ich nie gesagt!"
"Als ob ich hier noch nicht genug mache!"
"Merke ich aber nicht!"
"Was kann ich dafür, wenn du putzt wie ein gestörter Waschbär?!"
"Ich vertrage keinen Hausstaub!"
"Ist doch nicht mein Problem!"
Julian hatte angefangen zu lachen. Das war ja hier fast wie zuhause!
Er musste Sellerie, Erdäpfel und Knoblauch schälen und in dünne Scheiben schneiden. Und dann Obers mit Thymian, er hoffte er hatte das richtige Grünzeug abgeschnitten, bis knapp unter dem Siedepunkt erhitzen. Mit dem Knoblauch. Was genau "knapp unter dem Siedepunkt" bedeutete, verriet der Haubenkoch natürlich mal wieder nicht. Diese Jungs waren aber auch nie präzise! Da würde er eben raten.
Julian hätte nur die Hälfte der angegebenen Menge gemacht, aber seine Mutter meinte, sie hätte gerne auch für den nächsten Tag noch etwas. Was irgendwie seltsam war, weil Marlene es sonst nicht mochte, wenn so viel übrig blieb. Er strich also die große Auflaufform mit Butter aus und stellte abwechselnd Sellerie- und Erdäpfelscheiben hinein. Leicht schräg. Sein Gemüse würde dem Foto in der Zeitschrift zumindest optisch sehr nahe kommen. Dann musste er nur noch die Obers-Mischung darüber verteilen und das ganze ins Backrohr stellen.
Das Selleriegratin sah gut aus. Vielleicht war das dann am Ende doch ganz okay. Ohne den Sellerie wäre es sicher perfekt!
Julian war bei Emma gewesen. Sie hatte ihm schon öfter etwas gezeigt oder erklärt, das ihm wirklich weitergeholfen hatte. Vor allem wenn es um Programmiersprachen ging, war sie wirklich gut.
"Noah?" Emma war auf einmal sehr munter. "Was duftet da so?"
"Apfelstrudel", war es aus der Küche gekommen.
"Mit Vanillesauce?"
"Ja."
"Kann ich ... hast du für mich auch ..."
Er war schon im Wohnzimmer, und hatte lächelnd einen vollen Teller vor das Mädchen gestellt. "Du auch?", hatte er Julian gefragt.
Es hatte wirklich super gut gerochen. "Sind da Rosinen drin?"
"Sicher."
"Nein. Danke."
"Iss sie halt nicht mit", hatte Emma mit vollem Mund vorgeschlagen.
"Ich würde sie trotzdem schmecken."
Noah war noch einen Augenblick stehen geblieben. Mit einer Mischung aus Überraschung und Unverständnis hatte er auf Julian hinunter geschaut. Er hatte etwas sagen wollen, das war ihm deutlich anzusehen gewesen. Aber er hatte es dann doch nicht getan.
Eine gute Woche später hatte er wieder Apfelstrudel gemacht. Diesmal mit Blätterteig. Seine Mutter hatte ihm eine ganze Kiste Obst aus dem Garten mitgegeben, als er das letzte Mal zuhause gewesen war. Als gäbe es in der Stadt nichts zu essen. Die Äpfel hatten jedenfalls weg müssen.
Noah hatte Julian wortlos einen Teller über den Küchentisch geschoben. "Ich habe keine rein getan."
"Was?"
"Rosinen. Iss mal was", grummelte er.
"Ich esse genug."
"Siehst aber nicht so aus."
Der auch noch! Ihm wäre schon was eingefallen, das er hätte entgegnen können. Emmas vertraulicher Hinweis, Noah würde ständig befürchten er hätte ein paar Kilo zu viel, hätte auch genug Spielraum für Gemeinheiten aller Art ermöglicht! Aber wie der andere einige Tage zuvor, hatte auch Julian es gelassen.
Er hatte einen Bissen probiert. Der war gut gewesen. Sehr gut. "Danke."
Marlene legte letzten Schliff an den Christbaum. Das Ding war eine exakte Kopie aus der Dezember Ausgabe des Schöner-Wohnen-Magazins. Genauer gesagt, einer Homestory über Hansi Hinterseer. Julian würde es nie laut sagen, schon gar nicht in Gegenwart seiner Mutter. Aber er war der Meinung, es wäre für die Welt besser gewesen, wenn Hansi sich mehr auf Christbäume, und weniger auf Musik spezialisiert hätte. Ja, es war ein traumhaft schöner Baum.
Das Hühnchen schmorte bei niedriger Hitze vor sich hin. Für "niedrige Hitze" hatte es sogar eine klare Aussage in Grad Celsius gegeben! Inklusive einem lächerlich anspruchslosen, aber durchaus hilfreichen Rechenbeispiel, um ausgehend vom Gewicht in Gramm, also Gewicht des Vogels ohne Füllung, dessen Garzeit zu ermitteln. Julian hatte es ausgerechnet, und daher überhaupt keine Bedenken.
Seine Mutter war weniger entspannt. Andauernd lugte sie möglichst unauffällig in die Küche, und fand sogar öfter als einmal einen Vorwand, um hinein zu gehen. Es musste wirklich schwierig für sie sein, ihrem Sohn das Terrain zu überlassen. Sie wirkte extrem nervös. Sollte sie eben nachsehen. Vielleicht beruhigte sie das ein wenig.
Inzwischen deckte Julian im Esszimmer. Seine Mum hatte Unmengen an Geschirr und Tischwäsche. Für Weihnachten gab es Besonderes von beidem. Das war schon in seiner Kindheit so gewesen und es gefiel ihm. Er war zufrieden mit sich, als der Tisch fertig war.
"Hat es eben geklingelt?" Gerade hatten sie angefangen zu essen. Und nur, weil er seine Mutter genötigt hatte, sich endlich zu setzen! Es war ihm fast vorgekommen, als hätte sie absichtlich mit allen Mitteln versucht, Zeit zu schinden. Wie das Hühnchen hatte da auch Julian irgendwann eine natürliche Grenze gehabt!
"Ja. Ach, sei so lieb, mach auf. Ich sitze gerade so gut." Marlene schenkte sich zufrieden noch etwas Weißwein nach.
Am Weihnachtsabend? Julian war überhaupt nicht begeistert. Kopfschüttelnd legte er sein Besteck zur Seite. Feine Schneegrissel stoben ihm ins Gesicht, als er mit Schwung die Haustür öffnete.
"Hey, Kätzchen. Frohe Weihnachten."
"Tiger!" Julian fiel aus allen Wolken! "Aber was machst du denn hier?!", rief er und flog Noah überglücklich in die Arme.
"Na ja. Du hast mir so gefehlt."
"Du mir auch!" Er war kaum zu verstehen, weil er sein Gesicht an den Hals des anderen drückte.
"Lass mich mal kurz los", lächelte der Größere ein wenig nervös. Marlene war zu ihnen gekommen.
"Junge, ich habe mir schon Sorgen gemacht! Viel Schnee auf den Straßen, nicht wahr?" Sie umarmte ihn strahlend.
"Ja. Hat länger gedauert, als gedacht. Danke, dass ich kommen durfte." Er sah richtig verlegen aus.
"Ich freue mich sehr darüber! Und jetzt komm endlich rein!"
"Du hast das gewusst?", fragte Julian erstaunt seine Mutter.
"Aber natürlich", grinste sie.
Ihm wurde nun so einiges klar. Es war nicht seine Kocherei gewesen, die sie so in Unruhe versetzt hatte. Zumindest nicht nur.
"Hast du auf dem Weg etwas gegessen?", wandte sie sich wieder an ihren Gast.
"Nein. Ich wollte nicht noch unnötig Zeit vertrödeln.
"Dann musst du sicher hungrig sein. Obwohl ich für das Essen nicht garantieren kann", zwinkerte sie. "Kätzchen hat gekocht."
Noah war sofort rot geworden. Er hätte nicht gedacht, dass sie das gehört haben könnte.
"Deine Tasche kannst du auch später noch nach oben bringen. Ich habe euch das Gästezimmer vorbereitet. Da habt ihr mehr Platz. Ich schlage vor, ihr beide geht schon mal ins Esszimmer, ich hole uns noch einen besonderen Tropfen, ja?" Das dritte Gedeck hatte sie längst auf den festlichen Tisch gestellt. Lachend verschwand sie in der Küche. Sie würde sich Zeit lassen mit dem Wein.
"Oh!" Eben, als er aus seiner Jacke schlüpfte, war Noah etwas eingefallen. "Jetzt habe ich dein Geschenk im Auto liegen lassen."
"Nein, bleib!" Julian schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn ganz fest. "Du bist hier! Ich brauche sonst nichts mehr."
Seit es Noah in seinem Leben gab, war alles ein wenig leichter. Ein wenig ruhiger und ein wenig heller als zuvor. Auch schon, als sie nur Freunde gewesen waren. Julian hatte sich immer wohl gefühlt, in seiner Gegenwart.
Noah war einer, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Der immer da war. Eher zurückhaltend, sehr intelligent. In dem was er tat, war er einsame Spitze. Das hatte Emma schon ganz am Anfang gesagt. Sie hatte recht gehabt.
Keiner, der auf den ersten Blick besonders auffallen würde. Etwas größer als Julian, kurze braune Haare, braune Augen. Und wenn er wirklich ein paar Kilo zu viel hatte, verteilten sie sich gut. Julian sah sie jedenfalls nicht. Noah wirkte für ihn einfach groß und kräftig. Das war alles.
In manchem waren sie sich sehr ähnlich. In ihrem Ehrgeiz zum Beispiel, und ihrer Art, Dinge logisch zu betrachten. Im Denken allgemein. Vielleicht hatte der andere ihn deshalb so schnell durchschaut. Julian war das durchaus schon sehr lange bewusst gewesen.
Und langsam aber sicher war Noah mehr und mehr in die Mitte seiner Welt gerückt. Julian hätte damit leben können, wenn alles einfach so geblieben wäre.
Als Emma ihn damals angerufen, und ihm bitterlich weinend gesagt hatte, dass Noah einen Unfall gehabt habe, hatte Julians Herz still gestanden. Er hatte sehen müssen, sich überzeugen müssen, dass Noah noch da war.
Es war schließlich Nacht geworden. Aber Julian hätte nicht gehen können, ohne wenigstens ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Noah hatte noch immer geschlafen. Julian war einfach geblieben und hatte sich irgendwann neben ihn gelegt. Nur so.
An jenem Morgen danach, als Lui sie zusammen im Bett gefunden, und Julian auf Noah hinuntergeblickt hatte, hatte der so wahnsinnig unsicher und verlegen ausgesehen.
Genau so hatte er selbst sicher damals auch ausgeschaut. Als er gleich hier in der Küchentür gestanden hatte. Und Mael das gar nicht erst zugelassen, sondern ihn einfach fröhlich geküsst hatte, als wäre es das Normalste auf der Welt gewesen. Daran hatte er denken müssen. Und daran, wie gut ihm das getan, wie sicher und glücklich er sich gefühlt hatte. Er würde das nie vergessen. Er würde ihn nie vergessen, wie sehr er es auch versuchte.
Und da hatte Julian sich entschieden. Es war ihm gar nicht schwer gefallen. In diesem Moment nicht. Er hatte nämlich ein Gefühl gehabt, tief in seinem Inneren, das er sehr lange vermisst hatte. Das ganze Gefühl. Nicht nur einen kleinen Teil von etwas, das es irgendwo geben musste. Vielleicht.
Als er merkte, dass es auch nicht aufgehört hatte, als er gegangen, und die Tür des Krankenzimmers hinter sich geschlossen hatte, war er nicht allzu überrascht gewesen.
All seine Erinnerungen und all seine Schmerzen waren noch da. Aber Noah war womöglich der eine Mensch, an dessen Seite er sie ertragen könnte.