Das Zelt und die Plane waren schnell zusammengepackt und wieder im Reisesack verstaut. Remy löschte das Feuer und zerstörte die Feuerstelle, um eventuelle Lagerspuren zu verschleiern. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen wandte er den Blick gen Norden, wo irgendwo hinter den dichten Bäumen und Hügeln des Seeufers der Palast des Königs lag. Entschlossen stieg er auf einen Findling und glaubte, weit am Horizont die bunten Fahnen an den hohen Masten der Türme zu erkennen.
»Komm runter da.«
»Ich bin erst wieder ruhig, wenn es ganz weg ist.«
»Was denkst du denn, geschieht? Dass das Schloss uns nachläuft?«
Remy knurrte. »Ihr seid das gewöhnt, diesen Prunk. Ich fühl mich immer noch, als könnte ich den Pesthauch riechen. Es klebt an mir wie ein dunkles Omen.«
Rowan stand vor dem Findling und sah zu dem Jungen hoch, der den Blick schweifen ließ. »Kommst du jetzt runter oder muss ich dich ziehen? Dann wirst du fallen und dich verletzen. Dann muss ich dich anfassen, willst du das?«
»Untersteht Euch!«
»Na, komm schon. Lass’ uns reiten.«
»Im Süden scheint es ganz schön hügelig zu werden. Ob wir da gut voran kommen?«
»Das werden wir dann sehen. Notfalls laufen wir etwas. Solange das Wetter so bleibt wie es jetzt ist, sehe ich da kein Problem.«
Remy sprang von dem Stein und kam kaum eine halbe Armlänge von dem Prinzen entfernt auf. Der konnte den Luftzug spüren und den leicht erdigen Geruch von Remys Mantel riechen.
»Auf einen weiteren langweiligen Ritt. Mein armer Hintern.«
»Wenn du dich weiter beklagst, läufst du!«, schnarrte Rowan mit einem Lachen in der Stimme, löste die Führstricke von Agrippa und saß auf.
»Das würde Euch gefallen, oder?«
»Nein. Denn dann würdest du nicht wegen deines Hinterteils jammern, sondern wegen der Blasen an deinen Füßen.«
Remy entwirrte den Knoten von Loots Zügeln und brummte schließlich, als ihm etwas einfiel. »Gehen wir mal davon aus, wir finden Eure sagenumwobene Prinzessin und sie hat tatsächlich Interesse, mit Euch zu gehen ... wer von uns darf dann laufen? Doch sicher ich, oder? Eine Prinzessin geht nicht zu Fuß.«
»Können wir darüber nachdenken, wenn es so weit ist? Vielleicht ist es auch nur ein Hirngespinst, dann erübrigt sich das eh.«
Der Junge schwang sich in den Sattel und folgte Rowan, der Agrippa bereits wieder auf den Pfad hatte gehen lassen. »Ich werd doch noch fragen dürfen. Wenn noch eine Königliche Hoheit anwesend ist, geht das Spielchen aus dem Palast wieder los. Katzbuckelei.«
»Remy, hab ich dich je gezwungen, mir die Stiefel zu lecken? Nein, oder? Ich schätze deine Offenheit. Hier sind nur wir zwei. Und ich betrachte dich als meinen Weggefährten, nicht als Untergebenen. Ich dachte, du verstehst, warum das im Schloss notwendig war?«
»Ihr habt mich als Euren Diener angestellt!«
»Und du bist furchtbar darin! Frech wie ein Hundewelpe, respektlos und unverschämt.«
»Im Palast habe ich meine Rolle gut gespielt und immerhin duze ich Euch nicht mehr!« Remy schob stolz das Kinn vor und Rowan betrachtete ihn schmunzelnd.
»Nur, wenn du aufgewühlt bist.« Der Prinz ließ Agrippa sich in Bewegung setzen und langsam gingen sie am Seeufer entlang. Der Wald lichtete sich weiter und vor ihnen eröffnete sich nach und nach eine dunkelgrüne Hügellandschaft. »Und um ehrlich zu sein, ist es mir vollkommen gleich, ob du Du sagst oder nicht.«
»Ich glaube Euch nicht. Das würde mich und Euch auf eine Stufe stellen. Und in Thalea habt Ihr das noch ausdrücklich nicht gewollt!«
»Schau’ dich um, Remy. Wir sind hier weit und breit die einzigen beiden Menschen. Das hatte ich da noch gar nicht bedacht. Glaubst du wirklich, da bedeutet mir so etwas banales wie mein Stand etwas? Der hält mich nachts nicht warm und sorgt in unserem Fall auch nicht dafür, dass ich bei Verstand bleibe oder jemand da ist, falls ich Hilfe brauche. Ich glaube, jetzt sind Freunde wichtiger als Untergebene.«
»Kann man das so nennen, wenn einer vom anderen abhängig ist?«
»Hier sind wir beide vom jeweils anderen abhängig. Du bist ein Stadtkind und hast selbst gesagt, du würdest hier untergehen. Ich würde hier ganz allein dem Irrsinn verfallen. Das hier«, Rowan machte eine umfassende Handbewegung, »ist etwas vollkommen anderes als ein Palast. Dort mögen wir die Rollen spielen, die man uns zugedenkt, doch hier sind wir auf das reduziert, was wir sind. Menschen.«
»Ihr macht mich irre. Entscheidet Euch doch mal.«
Mit einem Lachen winkte der Prinz ab. »Hab ich doch längst. Ich wollte dich bei mir behalten, weil ich dich gern habe und nicht, weil du ein guter Schauspieler bist, der die Rolle des Dieners schnell gelernt hat. Ich erinnere dich an dein Versprechen. Mir immer zu sagen, ob eine Entscheidung von mir dumm ist, ohne Rücksicht auf Stand oder Geburtsrecht.«
»Darauf könnt Ihr Gift nehmen! Es ist eine dumme Entscheidung, mir mehr Bedeutung zu geben als ich verdient habe. Wer bin ich denn schon? Mann, ich kann nicht mal richtig lesen! Ihr seid wirklich ein Narr.«
»Bislang habe ich die Entscheidung, dich aufgenommen zu haben, noch nicht bereut.«
»Ich bin kein verwaister Hundewelpe, Prinz.«
»Zumindest hättest du dann keine Angst mehr davor, wenn du einer wärst.«
Remy lief rot an. Das hatte Rowan bemerkt?
»Du kannst dich noch so sehr wehren oder mir klarmachen wollen, welch schlechte Investition ich in dich getätigt habe, dass ich einen nutzlosen, unhöflichen Analphabeten unter meine Fittiche genommen habe, der alles, was ich für ihn getan habe, gar nicht verdient hat. Aber ich sehe das anders. Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube nicht, dass etwas davon umsonst war. Du bist hier, oder nicht? Du bist mit mir aufgebrochen in die Wildnis, ohne einmal zu zögern. Mir reicht das.«
»Ihr wart die bessere Alternative.«
»Und wenn mir das deine Loyalität sichert, ist das genug.«
»Ihr seid leicht zufriedenzustellen.«
Rowan schmunzelte. »Wie du in deiner naseweisen Schlauheit schon festgestellt hast, habe ich aufgrund meines Standes nicht sehr viele Menschen um mich, die mir offen sagen, was sie tatsächlich von mir halten.«
»Also ... mögt Ihr mich, weil ich Euch ohne Zögern einen Trottel nennen würde, wenn es sich anbietet?«
»Ja«, grinste der Prinz vergnügt. Remy sah ihn von der Seite an und schüttelte leicht den Kopf. Konnte es wirklich so einfach sein? Fast erschien es, als könnte der junge Dieb nichts falsch machen, egal wie unverschämt er zu dem Prinzen war. War es für den wirklich so eine Erfüllung, jemanden an seiner Seite zu haben, der ihm nicht bis zu den Schultern im Hintern steckte? Wenn es so war, musste Rowan eigentlich ein ziemlich einsames Leben führen. Allein inmitten so vieler Menschen.
»Oh, schau dir das an!« Der Kronprinz lachte und ließ seinen Blick begeistert über die sich vor ihnen öffnende Landschaft wandern. Der Weg, den sie von ihrem Lager aus genommen hatten, war unbemerkt stetig leicht angestiegen und hatte sie vom Ufer des Sees weggeführt, auf dessen südlichsten Ausläufer sie nun herabblicken konnten. Vor ihnen tat sich nun der Ausblick auf das Tal auf. Das Hügelgewirr unterbrach sich mit Geröll und Gesteinsebenen und der Daraius, der Fluss, der den Drachensee von der Südseite aus speiste, hatte kleinere Bachläufe und Furchen in den Stein gefressen. Das Wasser glitzerte und der Duft des Gewässers hing in der Luft. Baumgruppen verbargen sich in den Tälern und der Wind, der über das Land fegte, drückte das hohe Gras auf den Hügeln eng an. Remy wischte sich die Haare aus dem Gesicht, als eine Böe sie erfasste. Der Wind war schneidend kalt und strafte das Licht der Sonne Lügen.
»Wir müssen ins Tal runter. Steigen wir besser ab, ich weiß nicht, ob überhaupt ein Pfad hinunterführt. Ich hab gar nicht gemerkt, dass wir bergauf gegangen sind.«
»Weil Ihr mir lieber einen Vortrag halten wolltet anstatt auf das Ufer des Sees zu achten!«
»Hast du deine Augen im Palast vergessen?« Rowan stieg ab und grinste leicht.
»Nein, aber Ihr seid der Leitwolf. Ich folge nur.«
Überrascht zog der Prinz die Augenbrauen hoch und rutschte aus dem Sattel. Darüber hinweg sah er den Jungen an, der sich die Haare nach hinten strich.
»Du folgst also?«
»Klar. Ich bin nicht so dumm, meine Position zu hinterfragen.«
»Und das, wo du in Thalea noch der Anführer warst. Ich bin beeindruckt.«
»Dort kenne ich mich aus und Ihr nicht. Jenseits davon bin ich nicht besser als ein Kind, das die Welt nicht kennt. Denn so ist’s nun mal. Und ich war nicht der Anführer. Nicht bei Euch. Ich war nur der Stadtführer. Ihr seid der mit dem Titel, dem Geld und den sauberen Kleidern.«
»Ich sehe jetzt auch keine Kanalratte vor mir.«
Remy zuckte mit den Schultern und nahm Loots Zügel. »Würdet Ihr, wenn Ihr keinen Welpen in mir gesehen hättet.«
»Du nimmst mir übel, dass ich dich so genannt habe, oder?« Rowan lachte und sie setzten ihren Weg fort. Der Pfad ins Tal hinab lag hinter einigen Büschen, war breit, von Steinen gesäumt und sehr uneben. Der Prinz schlitterte und konnte sich gerade noch an Agrippa festhalten, bevor er auf dem Hosenboden gelandet wäre. »Whow ... ganz langsam. Der Weg ist rutschig.«
Remy grinste leicht. »Eure feinen Reitstiefel hätten etwas mehr Profil vertragen können.« Langsam setzten sie einen Schritt hinter den anderen, darauf bedacht, dass die Tiere nicht den Halt verloren. Es vergingen einige Minuten, bevor der junge Dieb das Gespräch wieder aufnahm.
»Nein, ich bin nicht sauer, weil Ihr mich Hundewelpe genannt habt. Ist besser als Ratte, oder nicht?«
»Du bist weder das eine noch das andere. Obwohl ich eine Schwäche für Hunde habe.«
»Ich nicht. Ich mag sie nicht.«
Der Pfad ebnete sich und die beiden fanden sich inmitten der von Hügeln und Geröll übersäten Ebene wieder. Das Gelände hatte sich erhoben und eine kleine felsige Steilwand am südlichen Ufer des Sees entstehen lassen, der diesen Abstieg nötig gemacht hatte. Ein Ausläufer des Drachensees reckte sich gen Süden und verschmolz schließlich mit der Mündung des Daraius. Doch der Fluss war mehr zu riechen denn tatsächlich zu sehen. Die beiden Männer waren umgeben von wiesenbedeckten Erhebungen. Der Wind hatte spürbar nachgelassen und so stieg auch die gefühlte Temperatur deutlich an.
»Man fühlt sich winzig«, murmelte der Prinz.
Remy sah zu der Stelle zurück, von der sie eben herabgestiegen waren und zog die Augenbrauen kraus. »Ich fühle mich hier wie eine Maus in der Falle. Von da oben kann jeder, der will, zusehen, wo wir hingehen!«
»Remy, das Schloss läuft uns nicht nach.«
»Nein. Ich fühle mich trotzdem komisch.«
»Na los, lass uns weitergehen und einen netten Platz für ein Nachtlager suchen. Dann kommst du schon zur Ruhe.«
Energisch schwang sich Rowan wieder in den Sattel, denn der Weg erlaubte es, zu reiten. Der junge Dieb sah noch einmal zurück und schüttelte schließlich den Kopf. Diese Natur mit all den unvorhergesehenen Gefahren machte ihm viel mehr Angst als Thalea. Obwohl nichts da war, fühlte er sich wie von tausend Augen beobachtet, überall gab es unbekannte Geräusche und Getier, das er weder kannte noch einschätzen konnte. Der Einzige, auf den er sich konzentrieren konnte, war Rowan. Wie eine Insel im Meer, etwas vertrautes. Er trieb Loot an und sie folgten dem Schimmel.
»Warum magst du keine Hunde?«, fragte der Kronprinz nach einer ganzen Weile, die sie einfach schweigend geritten waren. Der Drachensee war inzwischen kilometerweit entfernt und sie hatten einen ebenen Pfad nahe des Flussufers als Orientierung ausersehen, so würde Rowan nicht alle paar Minuten auf den Kompass sehen müssen. Das Gluckern und Plätschern war wie eine leise Musik, die Remy zeitweilig sein Unwohlsein vergessen ließ, doch ihm auch zeigte, wie sehr ihn das Reisen auf dem Rücken eines Pferdes ermüdete. Das gemächliche Schaukeln und der warme Geruch gepaart mit dem einlullenden Geräusch des Flusses trieb ihn immer öfter dazu, zu gähnen.
»So ein Waisenhausding. Interessiert Euch sicher nicht«, murmelte er und wischte sich über die Augen.
»Vielleicht vertreibt es deine Müdigkeit, wenn du redest?«
»Tut mir leid. Es ist ...«
»Ja, geht mir auch so. Das Geräusch ist wie ein Schlafmittel. Also? Warum keine Hunde?«
Remy zog die Nase hoch und streckte sich. »Im Rattenloch gab es so einen schrecklichen Köter. Einen Bullenbeißer. Hässliches Vieh mit ‘ner platten Nase und hängenden Backen, hat immer gesabbert. Und wer unartig war, verbrachte den Tag im Zwinger mit dem Vieh.«
»Kein harmloser Schoßhund, schätze ich?«
»Neee. Der war biestig und niemand wusste, wann er zubeißt. Viele im Waisenhaus sind gebissen worden. Einer ist verreckt, an ‘ner Blutvergiftung. Nein, ich mag keine Hunde.«
»Du hast Angst.«
»Und? Denkt Ihr, ich habe nicht den Mut, das zuzugeben? Ja, Prinz. Ich habe Angst vor Hunden. Zufrieden?« Remy brummte und rieb sich die Augen. »Verzeihung. Ich bin total erledigt.«
Rowan lächelte leicht und sah in den Himmel. Dessen Farbe, so unschuldig und blau, machte den Prinzen misstrauisch. Das kühle Sonnenlicht des Nachmittags war schwer geworden und der Wind brachte den Geruch nach Regen mit sich, ein feuchter, wässriger Duft, der nicht von dem breiten und rauschenden Daraius kam, dessen Strömungen sich um Felsbrocken schlängelten und in schmale Bachläufe sprudelten.
»Wir sollten einen Unterschlupf für die Nacht finden.«
»Jetzt schon? Es ist noch nicht einmal Abend.«
»Ich glaube, es wird ein Unwetter geben.«
Remy sah ebenfalls in den Himmel, an dem nicht eine Wolke zu sehen war. »Wie kommt Ihr darauf?«
Rowan zuckte salopp mit den Schultern. »Ist so ein Gefühl. Wie ein Kribbeln im Nacken.«
»Ihr seid der Leitwolf.«
»Remy, hör’ bitte auf.«
»Womit?«
Seufzend schüttelte der Prinz den Kopf. Es machte ihn wahnsinnig, dass der Bursche bei jeder Gelegenheit betonte, dass sie einen gesellschaftlichen Kontrast darstellten.
»Wie bist du mit deinen Freunden in Thalea umgegangen?«
»Äh.«
»Komm schon, erzähl es mir. Das vertreibt die Zeit, während wir einen guten Platz suchen. Also?«
»Ich ... ich weiß nicht. Normal halt. Aber wir waren ja alles Waisen. Straßenkinder. Ihr seid das nicht.«
»Also muss ich mindestens ein Jahr im Schmutz gelebt haben, um mir das Recht zu verdienen, von dir genauso behandelt zu werden wie jeder andere?«
Der junge Dieb musterte Rowan von der Seite. Sein ganzes Gesicht drückte Verwunderung aus. »Warum wollt Ihr so sehr, dass ich das tue?«
»Bist du es mal leid gewesen, von den Leuten als das angesehen zu werden, was du scheinbar bist? Ein verdreckter Straßenköter ohne Wert, schmutzig, durchtrieben und ein Taugenichts? Obwohl du genau weißt, dass du nicht faul bist und genauso viel schaffen könntest, wenn du nur die Chance bekämst?«
»Ich ... denke schon.«
»So fühle ich mich auch.«
»Versteh’ ich nicht ...«
Rowan seufzte und schüttelte den Kopf. »Schon gut. Ist nicht wichtig. He, schau mal, da. Dort bei dem Felsen ist ein Vorsprung. Da würde es gut gehen.« Er trieb Agrippa an, der wieherte und sich zügig in Bewegung setzte, in die Richtung, in die der Prinz wollte. Loot schnaubte und folgte automatisch.
Der Geröllblock hatte annähernd die Größe eines Hauses, es war mehr ein Gesteinsmassiv und der Vorsprung, den Rowan gesehen hatte, bildete fast eine kleine Höhle. Es lag etwas erhöht und so geschützt, sollte der Daraius durch einen heftigen Regenfall an Höhe gewinnen.
»Groß genug, um darin zu rasten und die Pferde unterzustellen. Ich glaube, was besseres werden wir jetzt nicht mehr finden.« Der Kronprinz sah wieder in den Himmel. Das Licht war intensiver geworden, der Himmel, der eben noch blau gewesen war, färbte sich rot und Wolkenschleier zogen über das Firmament.
»Man kann förmlich dabei zusehen, wie sie wachsen. Siehst du? Es gibt ein Unwetter. Los, schnell, wir müssen Holz sammeln, bevor es zu regnen beginnt!« Rowan sprang aus dem Sattel und führte Agrippa an den Stricken die leichte Steigung auf den Felsen nach oben, wo der Hengst schließlich zufrieden schnaubend stehenblieb.
»Versorg sie und leg’ ihnen die Futtersäcke an, das sollte sie ablenken. Ich suche Holz.« Rowan legte Remy im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und verschwand, während der Junge das Aufgetragene erledigte. Nachdem die Pferde mit dem Maul im Hafer steckten und von ihren Sätteln befreit waren, stand er schließlich da und sah ebenfalls dem Wolkenspiel zu. Es stimmte, die feinen Schleier wuchsen sichtbar an, wurden voller und gewannen an Größe. Der rötliche Himmel tauchte alles in dieses unheilschwangere Licht und Remy schluckte. Bitte, flehte er zu sich selbst und gen Horizont, lass’ alles kommen, nur kein Gewitter!
Er hatte die Zeltplane auf dem Boden der kleinen Höhle ausgebreitet und mithilfe einiger schwerer Steine eine kleine Feuerstelle angelegt, als Rowan mit dem Arm voller Geäst wieder ankam. Viel war es nicht, weniger als in der Nacht zuvor, doch die Hügelebene wies deutlich weniger Baumbestand auf.
»Vorbereitet wie ein Schneider, Prinz. Wir haben keine Laterne. Wirklich dumm.«
»Macht nichts. Hier sind wir gut verborgen.«
»Aber nicht so, dass ein kräftiger Windhauch nicht alles auspustet. Es sind nicht mal ganz zwei Meter bis zum Ende des Vorsprunges.«
»Hast du Angst im Dunkeln?«
»Allein mit einem Prinzen, der sonstwas mit mir anstellen könnte?« Der Junge schmunzelte spöttisch. »Nein.«
»Gut.« Rowan legte das Holz ab und ging ein weiteres Mal los, um noch mehr zu holen, während der junge Dieb auf der Matte saß und weiter den Himmel vor dem Klippenvorsprung im Auge behielt. Der Wind hatte aufgefrischt und begann bereits, laut in den kleinen Tälern zwischen den Bodenerhebungen zu heulen. Mit einem Stofffetzen aus der Tasche seines Mantels und ein paar von den Ästen entzündete Remy ein kleines Feuer, als der Prinz zurückkam.
»Die Wolken ziehen den Himmel zu, als wäre es gleich Nacht.«
»Hm ...« Remy zog die Beine an die Brust und seinen wollenden Umhang darüber. Er fröstelte. Rowan ließ ihn sitzen, schnappte sich die Kanne und huschte ein letztes Mal nach draußen, um sie zu füllen. Die ersten großen Regentropfen klatschten auf den Stein, als er eilig wieder zurückkam. Es glitzerte feucht in seinen Haaren und mit einem Lachen legte er etwas mehr Holz auf. Er stellte das Messinggefäß ins Feuer, um Tee aufzubrühen, denn der Wind und die dicken Wolken brachten auch die trallische Kälte mit sich. Rowan zuckte zusammen, als Remy einen lauten Nieser ausstieß.
»Verzeihung.«
Der Prinz zog den Sack mit dem Proviant aus dem Sattel und ließ sich neben Remy auf die dicke Zeltplane fallen.
»Ich fühle mich wieder wie in Thalea. Der Stein dieser Höhle ist so kalt.«
Rowan brach ein kleines Brot entzwei und hielt dem Jungen ein Stück hin. »Ich bin dennoch froh, hier zu sein als im Wald, wie letzte Nacht. Denn so windig, wie es ist, hätte es uns das Zelt weggerissen und dann hätten wir in der Scheiße gesessen.«
»Spült Euch den Mund aus«, kicherte der Dieb leise und knabberte an seinem Brot.
Der Prinz zog den Reisesack hinter seinen Rücken und reckte die Beine dem kleinen Feuer entgegen, als er sich anlehnte. »Genau das meinte ich vorhin. Du scheinst zu glauben, dass ich, nur weil man mich Prinz nennt, kein normaler Mensch bin. Doch das bin ich. All die schönen und unschönen Dinge des Menschseins tue ich auch. Jenseits des unverschämten Glücks meiner Geburt bin ich aus Fleisch und Blut. Nicht besser und nicht schlechter als du.«
»Das ehrt Euch, aber der Rest der Welt sieht es eben anders. Ihr mögt ein Mensch sein wie jeder andere, aber Euer Geburtsrecht macht Euch zu was Besserem. Ob Ihr das wollt oder nicht. Und Ihr seid besser. Nicht nur besser gebildet, sondern auch menschlich besser als die meisten, die ich in meinem Leben gesehen habe.«
»Man könnte fast meinen, du magst mich.«
Remy zuckte mit den Schultern. »Ihr seid nicht der schlechteste Kerl.«
Rowan knuffte ihn leicht mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte, als der Junge knurrte.
»Ihr sagtet, Ihr würdet mich ... äh, wie war das, wertschätzen. Tja, ich tu’ das auch.«
»Das ist ein guter Anfang für ein Abenteuer, würde ich sagen.«
Die beiden lachten und verzerrten zu ihrem Brot noch etwas Pökelfleisch, bevor Remy sich ächzend erhob, seine wollene Decke von Loots Sattel löste und sich mit dieser wieder auf die dicke Zeltplane sinken ließ. Er zog seinen eigenen Reisesack heran und rollte sich unter Decke und Umhang zusammen.
»Es ist kalt. Vielleicht fehlt mir der Palast doch ein kleines bisschen.«
Rowan lächelte und nahm die Kanne aus dem Feuer. Er reichte Remy einen der Becher, ein feiner Duft nach Teeblättern stieg daraus hervor. »Trink’ langsam.«
Der Regen vor dem Vorsprung war so stark, dass der Prinz etwas lauter reden musste. Der Wind heulte und man konnte das Rauschen der vom Wasser gepeitschten Baumwipfel hören. Unverkennbar füllte sich die kleine Höhle mit dem Duft von nassem Stein und Remys Hände zitterten. Böse Erinnerungen an furchtbare Unwetter, Kälte und dem Gefühl von klammen Kleidern wallten in ihm auf. Regentage in Thalea waren immer die schlimmsten gewesen.
»Schlaf’ etwas. Dann merkst du nicht, wie kalt es ist.« Rowan breitete seine eigene Decke über dem Jungen aus und wickelte sich anschließend in seinen Umhang. Er nippte an dem Tee und sah dem Feuer zu.
»Und Ihr? Ihr friert auch.«
»Aber ich kann Tee trinken. So schlimm ist es nicht, ich bin nicht so müde wie du.«
Remy seufzte. »Dabei hattet Ihr mehr schlafen wollen.«
»Oh, das werde ich. Heute wecke ich dich früher«, der Prinz grinste und warf dem jungen Dieb einen Blick zu, der diesen lächeln ließ. »Na los, schlaf’. Ich bin der Ältere, ich bestimme.«
»Leitwolf eben.«
»Nein, nur der Ältere.« Rowan lächelte und die Reflexion der Flammen färbte seine Augen orange.
»So viel älter aber bestimmt auch nicht ... wie alt seid Ihr eigentlich?«
»Fünfundzwanzig.«
»Und immer noch nicht verheiratet, tse. Ich dachte, der Adel verheiratet sich mit ... vierzehn oder so.«
»Nein. In Annwyn gilt man mit sechzehn als heiratsfähig.«
»Und vorher darf man nicht ... Ihr wisst schon.«
»Das hab ich nicht gesagt«, Rowan lachte. »Man kann es den Leuten ja eh nicht vorschreiben. Nur heiraten darf man erst ab sechzehn. Mit wem man sich davor im Stroh wälzt, ist jedermanns eigene Sache. Dass man in Trallien bereits mit dreizehn heiraten darf, hat mich ehrlich überrascht.«
»Mädchen dürfen. Jungs nicht. Die dürfen erst ab vierzehn. Keine Ahnung, wieso. Hat mir mal ‘ne Hure erzählt.«
»Hängt vermutlich mit der Gebärfähigkeit zusammen. Jungs zünden später.«
Remy rollte sich auf den Rücken und gähnte. »Wer in diesem Land Kinder in die Welt setzt, ist grausam.«
»Schlaf’ jetzt.«
Der Junge nickte und kurze Zeit darauf war im Rauschen des stetig prasselnden Regens leise sein ruhiges Atmen zu hören.
.
Stunden schienen vergangen zu sein, als ein ohrenbetäubendes Krachen Remy aus dem Schlaf riss. Auch Rowan zuckte zusammen, denn er war über dem Geräusch des Regens eingenickt.
»Oh«, murmelte er, erhob sich und trat an den Rand des Vorsprunges. Gezackt, hell und sich in die Finsternis fressend, zuckten Blitze über den wolkenverhangenen Himmel und der Donner grollte zeitgleich über das Hochland. Der Regen hatte nicht im Geringsten nachgelassen und der Daraius war zu einer reißenden Flut geworden, dessen Rauschen Rowan deutlich von dem des Unwetters unterscheiden konnte. Leise murmelnd ging er zu den beiden Pferden, die schnaubten, aber glücklicherweise ruhig blieben. Auch sie waren nicht erpicht darauf, in den Sturm zu geraten.
»Mann, da hab ich mich aber erschreckt«, lachte der Prinz leise an Remy gewandt, der jedoch nicht antwortete. Er hatte sich unter den Decken zusammengerollt und als Rowan das Feuer mit neuem Holz versorgte, glaubte er zu erkennen, dass der Junge zitterte.
»Ist dir immer noch kalt?«
Erneut sagte Remy nichts, doch als der Prinz sich wieder neben ihn setzte und ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte er so heftig zusammen, dass Rowan eilig die Berührung wieder unterbrach.
»Nicht«, murmelte Remy, doch es klang nicht so, als würde er mit dem Prinzen reden. »Nicht ... geh weg!« Er rollte sich noch enger zusammen und wimmerte.
»Remy ...«
Der junge Dieb heulte leise auf und als Rowan sah, dass er sich so fest in die Lippe biss, dass es blutete, schnalzte er mit der Zunge, zog die Decke weg und packte Remy an den Schultern.
»Hör’ auf damit!« Er schüttelte den Jungen, doch dieser schien überhaupt nicht zu bemerken, dass Rowan da war. Jeder Hauch seiner trallischen Gesichtsfarbe war verschwunden und Remy bleich wie ein Käse. Nur das Blut, das fein über sein Kinn rann, bildete einen Kontrast. Und seine im Licht des Feuers schwarzen Augen, die durch den Prinzen hindurchzusehen schienen und etwas erblickten, das weit in der Vergangenheit lag.
»Bei Solems Bart!«, knurrte Rowan, griff sich die Decken und legte sie über Remy, bedeckte seinen Kopf und zog den vollkommen verkrampften jungen Mann an sich. Der Kronprinz lehnte sich aufrecht an die Reisesäcke, Remy zwischen seinen Beinen hockend, in den dicken Wollstoff gehüllt, das Gesicht an die Halsbeuge Rowans gepresst. Der junge Dieb wirkte so kalt und steif, dass nur sein warmer Atem verriet, dass er nicht längst vor Schock gestorben war. Rowan hielt ihn fest, wiegte ihn fast und wartete darauf, dass das Zittern des Jungen aufhörte. Es musste am Gewitter liegen. Der Regen hatte Remy nichts ausgemacht und auch die Dunkelheit war nichts, was der Beutelschneider fürchtete. Eher war sie die Verbündete für seinen Berufsstand. Es konnte nur der Donner sein. Jedes Mal, wenn ein weiteres ohrenbetäubendes Grollen über den Himmel zog, zuckte Remy zusammen und irgendwann hatte er seine kalten Finger in den Rock des Prinzen gekrallt. Gefühle von Scham oder Zurückhaltung, wie er sie sonst immer gezeigt hatte, waren völlig verschwunden. Fast war es, als würde Remy versuchen, in den Prinzen hineinzukriechen.
»Alles ist gut«, murmelte Rowan und fühlte sich beinahe, als würde er seinen kleinen Bruder trösten. Und doch war es anders, denn Remy war eben nicht Jonah. Remy war ein Mann. »Schlaf’. Dir passiert nichts, in Ordnung?«
»Ich kann nicht«, wisperte der junge Dieb und zog die Nase hoch. Mit dem Ärmel seines Mantels wischte er sich über das Kinn und schniefte. »Mach, dass es aufhört.« Er klang fast wie ein Kind, was Rowan rührte. Sicher hatte es in Remys Kindheit nie jemanden gegeben, der ihm über diese Furcht hinweghelfen konnte und so hatte sie sich bis ins Mannesalter gehalten. Ein Erwachsener mit Gewitterangst war Rowan noch nie begegnet.
»Mach die Augen zu. Stell’ dir vor, das Krachen wäre nur Feuerwerk. Hier bist du sicher.«
Remy nickte zögerlich und atmete tief durch. Die Wärme Rowans hatte etwas Tröstendes und als der Junge die Augen schloss, konnte er den Herzschlag des Mannes hören. Ein ruhiges, stetiges Pochen, anders als der wilde Sturm, der über der Ebene niederging und sich anhörte, als wolle er die Welt verschlingen. Leise wimmernd presste Remy die Lider zusammen, als ein weiterer Donner ihn schüttelte. Verbissen versuchte er, die Bilder zu verdrängen, die sich vor seinem inneren Auge darstellten. Er wollte sie nicht sehen, die regennassen stinkenden Straßen von Thalea, die im Unwetter zu einer Hölle aus Modder und Dreck angeschwollen waren. Er wollte das rasselnde Geräusch des fremden Atems in seinem Nacken nicht hören, nicht das Brennen seiner Lungen und der Muskeln in seinen Beinen spüren. Nicht, nie wieder, die Todesangst erleben müssen, die mit jedem Gewitter aus der hintersten Kammer seiner Seele hervorgezerrt wurde und ihn lähmte.
Remy hob leicht den Kopf, als er Rowan leise singen hörte.
»Was tut Ihr da?«
»Ein annwynisches Wiegenlied. Meinem Bruder hilft das, wenn er sich fürchtet.« Der Prinz strich Remy mit der Hand über den Oberarm, wo er ihn festhielt. Rowan sang weiter, auch um sich wachzuhalten, und der junge Dieb schloss die Augen. Allmählich verschwammen das Prasseln des Regens, das Geräusch von Rowans Herzschlag und das Wiegenlied zu einer Melodie und tatsächlich beruhigte sich auch Remys Puls. Die Wärme drang bis zu den Zehen und irgendwann schlief er ein, ganz ohne es zu merken.
Der Regen und das Unwetter hatten sich längst verzogen und eine blasse Sonne erhob sich gerade über Trallien, als Remy hochschreckte. Rowan hatte ihn nicht zum Wachwechsel geweckt. Tatsächlich schlief der Prinz tief und fest, während der junge Dieb die ganze Zeit über an diesen gelehnt gesessen hatte. Remy spürte, wie ihm heiß die Röte ins Gesicht schoss. Verflucht, er hatte sich wie ein schwächliches Kind benommen!
Leise brummend wischte er sich über die Lippe, in die er sich in der Nacht gebissen hatte. Es hatte sich etwas Schorf gebildet, aber das würde schnell verheilen. Mit zusammengezogenen Brauen blickte er in den Sonnenschein. Der Fluss brüllte nicht mehr, sondern rauschte leise und Vögel zwitscherten. Die Welt wirkte wie frisch gewaschen und der Felsen war bereits wieder trocken. Es musste vor einer ganzen Weile aufgehört haben zu regnen.
Vorsichtig versuchte Remy, sich aus dem schützenden Deckenpanzer zu befreien, ohne den schlafenden Prinzen dabei zu wecken und fast wäre ihm das gelungen, wenn nicht Agrippa beschlossen hätte, mit einem lauten Wiehern den Morgen zu begrüßen.
Rowan zuckte zusammen und öffnete die Augen, die im Morgenlicht unnatürlich blau wirkten. Verwirrt sah er sich um, erblickte den verdatterten Remy und lächelte schließlich. Brummend hob er die Hände ans Gesicht und rieb sich über die Haut.
»Das war anders vorgesehen.«
»Ja«, murmelte der Junge und erhob sich. Sein Rücken tat weh, ob als Folge der Verkrampfung oder durch das Schlafen im Sitzen war nicht klar. Remy streckte sich und keuchte, als es knackte. »Verdammt.«
Er wandte sich zu Rowan um, der gähnte und versuchte, mit einem Feuerstein das Feuer wiederzubeleben, um wenigstens einen starken Kaffee oder Tee aufbrühen zu können.
»Können wir uns darauf einigen, dass wir niemals darüber reden, was letzte Nacht passiert ist?«
»Du tust ja geradezu so, als wäre etwas schlimmes geschehen«, gluckste der Prinz und hob den Kopf.
»Es war peinlich!«
»Fand ich nicht.«
»Ihr wart es ja auch nicht, der ... völlig die Fassung verloren hat.« Verlegen leckte sich Remy über die Lippe, die jetzt schon die zweite Blessur in wenigen Tagen zu erdulden hatte.
»Angst ist eine merkwürdige Sache, findest du nicht?«, sinnierte Rowan und blickte in den Morgenhimmel, der keinerlei Anzeichen eines vorangegangenen Gewittersturmes mehr zeigte. Schließlich holte er tief Luft und nickte. »Na gut. Du musst mir nicht erzählen, woher das kam, wenn du nicht möchtest. Ich hoffe, ich hab wenigstens helfen können.«
Der junge Dieb nickte. »Ja. Das hat nie jemand für mich getan. Ich ... musste da immer alleine durch.«
»Auch deine Freunde nicht?«
»Die wussten es nicht«, gestand Remy kleinlaut und rieb sich den Nacken. »Ich wollte nicht ... wie ein Verlierer dastehen. Wer hat schon Angst vor ein bisschen Donner?« Er lachte auf und wandte sich ab.
Rowan lächelte. Er hatte sich da wirklich ein ganz spezielles Exemplar der Gattung Beutelschneider ausgesucht.