Das Gesinde in der Küche brauchte einige Minuten, um wieder zu seiner normalen Arbeitsweise zurückzukehren, nachdem es dem Kronprinzen von Annwyn ein einfaches Mahl aufgetischt hatte. Die Dienstboten waren es nicht gewöhnt, dass ein Angehöriger einer Königsfamilie bei ihnen in den wenig glamourösen Küchenräumen aß, hemdsärmelig an einem der grob gezimmerten Tische sitzend und mit zufriedenem Gesicht kauend. Er hatte eine Landkarte von Trallien vor sich liegen und studierte diese, kaum wirklich Notiz davon nehmend, was er aß. Dieses genügsame und bescheidene Verhalten des Prinzen überraschte die Dienerschaft, ebenso die Tatsache, dass er sich bedankt hatte, als diese mit Auftafeln fertig war. Auf so etwas würden die Diener bei ihren eigenen Herren lange warten können. Die Einzige, die ihnen gegenüber einen Hauch von Höflichkeit zeigte, war die Königin. Doch selbst diese würde nicht dem Beispiel des annwynischen Kronprinzen folgen und nur in Begleitung eines einzelnen Leibdieners in der Küche speisen. Schließlich entspannten sich die Köche und Mägde wieder, sich sicher, dass Prinz Rowan nicht erwartete, dass sie weiter zu seiner Verfügung standen.
Der säbelte sich mit einem Messer ein Stück von einem gepökelten Schinken ab und sah weiter auf die Landkarte.
»Ich würde gern in den Süden ziehen«, sagte Rowan leise und Remy, der ihm gegenüber saß, kniete sich auf die Bank und lehnte sich halb über den Tisch, um ebenfalls auf die Karte zu sehen. Er prustete und wischte sich schnaubend die Haare aus dem Gesicht.
»Sollen wir jemanden finden, der sie dir schneidet?«, feixte der Prinz und der junge Dieb brummte nur.
»Ich bin’s nicht gewöhnt, dass sie so locker sind, das ist alles.«
»Das Wunder von Wasser und Seife.«
Remy verzog spöttisch den Mund und musterte Rowan. »Ihr habt in der Witzekiste geschlafen, oder?«
Der Prinz lachte leise und die beiden bemerkten die verwunderten Blicke des Gesindes nicht. Wie Remy mit seinem Herrn sprach, so salopp und vertraut, galt bei der trallischen Königsfamilie als verpönt und konnte einem Diener eine gehörige Tracht Prügel einbringen. So eine Art, mit einem Höherstehenden zu reden, wurde als unverschämt angesehen, als Versuch, sich mit einem Adligen auf eine Stufe zu stellen. Das duldete König Thedosio nicht. Doch dem Prinzen aus dem Westen schien das nichts auszumachen, im Gegenteil schien es ihn immens zu unterhalten und zu amüsieren.
»Was sagst du?«
»Zum Süden? Ich bin nicht sicher, was für eine Antwort Ihr Euch erhofft. Ich war noch nie weg aus Thalea. Aber das Gelände scheint reichlich bergig zu sein. Warum reist Ihr nicht einfach wieder dorthin zurück, woher Ihr gekommen seid?«
Rowans blaue Augen blitzten abenteuerlustig. »Das weißt du doch genau. Ich hab noch nicht vor, jetzt schon wieder nach Annwyn aufzubrechen.«
Remy stützte den Kopf auf seinen Handballen und blickte auf die Karte. Im Süden lag der Drachensee, der den Schlossgraben mit Wasser speiste und noch weiter südlich eine Ebene, die sich mit Hügeln und Bäumen abwechselte. Der junge Dieb hatte nie mehr als die Steinwüste kennengelernt und konnte sich die auf dem Pergament dargestellte Landschaft nur schwer vorstellen.
»Ein Jammer, dass der Fluss in den Drachensee mündet«, murmelte der Junge und tippte auf den eingezeichneten Wasserlauf. Die Fließrichtung war durch einen Pfeil gekennzeichnet. »Sonst könnte man darüber reisen.«
»Nein!« Rowan räusperte sich und wich Remys Blick aus. »Das würde schon wegen der Pferde schwer werden und uns nur begrenzt weiterhelfen. Ich möchte dieses Land erkunden.«
Der Beutelschneider kräuselte die Lippen. »Ihr könnt nicht schwimmen, oder?«
»Kannst du es denn?«
»Natürlich, Eure Hoheit. In den zahlreichen Viehtränken und Brunnen Thaleas gelernt, was dachtet Ihr denn? Es ist genauso wie mit dem Reiten. Hab mein Leben lang nichts anderes gemacht.«
»Ungezogener Bengel.«
»Zu Euren Diensten. Also in den Süden dann?«
»Allein schon um der Pracht des Sees wegen.«
»Meint Ihr, der König stiftet Euch Proviant für die Reise?«
Rowan kaute auf einem Stück Schinken herum. »Eigentlich gebietet es die Etikette, einem Gast die Heimreise zu erleichtern.«
»Aber Ihr wollt doch nicht nach Hause aufbrechen ...« Remy hatte die Stimme gesenkt und der Prinz schmunzelte.
»Welchen Weg ich nehme, ist ja meine Sache.«
Der Junge grinste und wollte gerade etwas Freches erwidern, als ein lautes Türenknallen und ein scharfer Luftzug alle in der Nähe zusammenfahren ließ. Das Flattern von Stoff und das Geräusch von Schritten auf dem Steinboden waren zu hören, bevor ein lautes »Reeeeeeemyyyy!« folgte und Seena sich mit Schwung an den Hals des verdutzten jungen Mannes warf. Rowan machte große Augen und Remy wollte das Mädchen gerade von sich schieben, als sie beide das Gleichgewicht verloren und mit einem Poltern von der Bank auf den Boden fielen. Das Brötchen, das der junge Mann in der Hand gehabt hatte, kullerte in eine der Ecken und würde den Mäusen in der Burg eine feine Mahlzeit sein. Remy knurrte und fluchte unflätig, denn er war mit dem Hinterkopf unsanft aufgekommen und konnte spüren, wie ihm eine Beule wuchs.
»Geh’ runter von mir!«
Verlegen und mit geröteten Wangen rappelte der Dieb sich auf und sah in die amüsierten und noch etwas erschrockenen Gesichter Prinz Rowans und des Küchenpersonals, die den kleinen Tumult nur schwer nicht hätten mitkriegen können.
»Erst prelle ich mir den Steiß heute früh, jetzt den Kopf. Was kommt als nächstes, verliere ich einen Arm?« Remy ließ sich auf die Bank fallen, das Gesicht grimmig wie immer. Von seinem Grinsen war nichts mehr übrig und brummig wandte er den Blick zu dem jungen Mädchen, das sich neben ihn setzte und sich verlegen eine Strähne seines Haares unter das Kopftuch schob.
»Entschuldige, das war wohl zu viel Schwung.«
»Na, da kannst du dich jedenfalls nicht mehr beklagen, dass du nicht wach genug wärst«, gluckste Rowan und Seena bemerkte erst in diesem Moment, dass ihr verehrter Remy nicht allein in der Küche saß. Sie lief rot an und verneigte sich. Mit einem königlichen Prinzen an der Tafel sitzen, und das, nachdem sie sich so ungebührlich aufgeführt hatte! Wie furchtbar peinlich.
»Eure königliche Hoheit, verzeiht mir meinen Ausbruch, das war absolut unangemessen!«
»Nicht doch. Dieser Tumult erinnert mich wunderbar an Zuhause.«
Seena lächelte den blauäugigen Prinzen an. Er war wirklich freundlich. Doch als sie die ausgebreitete Landkarte auf dem Tisch liegen sah, gab sie einen überraschten Laut von sich.
»Wollt ihr etwa schon aufbrechen?«, fragte sie Remy, der sein Gesicht wieder auf seinen Ellenbogen gestützt hatte.
»Was spricht dagegen?«
»Na, dass du bleiben sollst natürlich!« Das Mädchen drückte den Rücken durch und stemmte die Hände in die Hüften. »Eure Hoheit?«
»Ja, bitte?« Rowan betrachtete das merkwürdige Gespann vor sich schmunzelnd.
»Ihr seid doch Remys Herr.«
»Ja, vorläufig.«
»Könnt Ihr ihm dann nicht den Befehl erteilen, hier am Hofe zu bleiben und mich zu seiner Frau zu nehmen?«
Remy, der gerade in ein frisches Brötchen biss, verschluckte sich und röchelte und auch der Kronprinz, der einen Schluck aus einem Weinkelch genommen hatte, spuckte diesen in das Gefäß zurück. Er hatte nicht mit so einer Frage gerechnet.
»Ich glaube, du überschätzt die Entscheidungsgewalt, die ich über Remy habe.«
»Wirklich? Unser König entscheidet, wer wen ehelichen kann. Ich dachte, das wäre in Annwyn auch so.«
»Äh. Mein Vater erteilt lediglich seine Zustimmung zu einer Verlobung. Beim Gesinde ist das reine Formsache, dass man den König um Erlaubnis fragt, eine Familie gründen zu können. Er bestimmt nicht die Ehepartner. Das schaffen die Menschen eigentlich ganz gut allein.«
»Also könnt Ihr nicht verlangen, dass Remy mich ehelicht?«
»Nein«, der Prinz lächelte das Mädchen an, das enttäuscht die Lippen schürzte. Remy kämpfte noch immer mit seinem Brötchenbissen.
»Piepst du eigentlich, so was zu fragen?«, presste er schnaufend hervor. »Ich will dich doch gar nicht heiraten!«
»Warum denn nicht?! Dann könntest du hier bleiben!«
»Das will ich aber gar nicht!«
»Hast du denn schon das richtige Alter?«, mischte sich Rowan ein, dieses Mal einen deutlich kleineren Schluck aus dem Kelch nehmend.
»Ich bin nahezu fünfzehn, Eure Hoheit. In Trallien darf ein Mädchen mit dreizehn Jahren einen Ehemann nehmen. Sobald es regelmäßig eine Regelblutung hat und in der Lage ist, ihm Kinder zu gebären.«
Rowan und Remy sahen sich einen Augenblick verwundert an. Sie beide kamen zu der stummen Übereinkunft, Seena für jünger gehalten zu haben.
»Fast fünfzehn?«, schnappte der junge Dieb überrascht. »Ich hätte gedacht, du bist zwölf!«
Das Mädchen verengte die Augen scharf und zog ihn am Ohr. »Du bist so fies!«
»Na, wie dem auch sei. Ich kann keinem befehlen, jemanden zu ehelichen. Diener oder nicht. Tut mir leid.« Der Prinz lächelte freundlich und Seena nickte.
»Na ja. Es ist ja Remys Verlust.« Sie lächelte keck und erhob sich, als eine ältere Magd sie um Hilfe beim Schälen der Rüben bat.
»So so, du hast also bereits eine Verlobte in spe, alle Achtung«, grinste Rowan seinen Diener frech an, der sich nur grimmig dreinblickend den Mund mit Schinken vollstopfte.
»Es wäre eine Chance für dich, das weißt du hoffentlich?«
Remy schluckte und nuschelte dann: »Meint Ihr allen Ernstes, der König würde erlauben, dass ein fauler Apfel eine seiner Mägde heiratet? Egal wie niedrig ihr Stand ist. Nein. Ich binde mir hier keine Verpflichtung ans Bein. Ich möchte nicht in Trallien bleiben. Und selbst wenn Ihr mir nicht gestattet, an Euren Hof zu kommen, hoffe ich auf die Zustimmung, zumindest in Annwyn leben zu dürfen.« Der Junge sah Seena zu, die ein leises Lied sang. »Außerdem spiele ich mit niemandes Gefühlen. Ich weiß, was sich gehört.«
»Nun denn! Wenn das geklärt ist, sollten wir mit den Vorbereitungen beginnen. Ich werde um eine Unterredung beim König bitten ...«
»Warum?«, fragte Remy verwundert und unterbrach seinen Herrn damit. »Muss er erlauben, dass Ihr abreist?«
»Nein, das nicht. Aber mit seiner Zustimmung noch etwas durch Trallien zu reisen, wird es uns leichter machen als mit königlichen Soldaten im Nacken. Die Höflichkeit gebietet, dass man zumindest fragt.«
»Natürlich ohne das eigentliche Ziel zu nennen, nehme ich an.«
Rowan lächelte verschlagen. »Offiziell gilt das Mädchen ja als verstorben. Es ist ein Gerücht. Eine Legende. Wahrscheinlich ist sie tatsächlich tot. Dann habe ich zumindest die wilde Schönheit Tralliens gesehen, bevor ich wieder nach Hause reite.«
Die beiden Männer hoben den Kopf, als eine Magd den Tisch abräumte und nahmen das als Auftakt, mit dem Tagwerk zu beginnen.
»Ich werde, sobald es geht, mit dem König sprechen. Wir haben die Gastfreundschaft des Palastes lange genug beansprucht.« Rowan sah seinem jungen Diener ins Gesicht, der sich immer wieder unbewusst über die wunde Lippe leckte. Der Prinz wollte nicht, dass Remys sicher gerechter Zorn und sein Temperament ihn in Schwierigkeiten brachten, sollten die verzogenen Söhne des Königs ihn erneut provozieren. Unter keinen Umständen würde Rowan den Jungen an diesem Ort lassen, nachdem er inzwischen wusste, wie schmerzlich Remy ein neues Leben abseits des Hochlandes beginnen wollte. In Trallien hatte er keine Chance dazu.
Während der junge Dieb ohne Aufforderung aufstand und begann, den Küchenabfall nach draußen zu schaffen, wandte Prinz Rowan sich in die andere Richtung ab, um in seine Gemächer zurückzukehren. Er musste sich angemessen ankleiden, wenn er dem König gegenübertreten wollte. Eindruck zählte bei diesem Mann mehr als die Absicht. Der Prinz hoffte auf ein gutes Ergebnis. Natürlich würde er dem König nichts von der Absicht erzählen, nach der verschollenen Prinzessin zu suchen. Er würde sich nur zum Trottel machen, wenn er den Anschein erweckte, an dieses Gerücht zu glauben. Und Thedosio womöglich brüskieren. Die Legende über die verschwundene Königstochter, die gar nicht gestorben, sondern nur weggeschafft worden sein könnte, ließ den Monarchen als einen Lügner dastehen. Einen herzlosen Mann und kaltblütigen Vater, der sein Kind zum Zwecke irgendwelcher unheiliger Machenschaften fortgeschafft hatte. Oder auch nur verhindern wollte, dass eine Prinzessin als Erstgeborene durch eine Heirat fremden Einfluss in die königliche Blutlinie bringen konnte. Die Trallier waren sehr stolz und laut Rowans Vater Marek sehr darauf bedacht, die anderen Königshäuser aus ihrer Herrschersippe herauszuhalten. Thedosio hielt an Altem fest und sein Verhalten, sein Reden, sein ganzes Auftreten hatte Rowan in der vergangenen Woche gezeigt, wie sehr er nur den Gedanken verabscheute, dass die liberalen Einstellungen der umliegenden Monarchien sein Reich infiltrieren könnten. Womöglich scheute er einen Aufstand des einfachen Volkes, wenn dieses erfuhr, dass absolutes Herrschen nicht automatisch bedeutete, die eigenen Leute auszubluten. Andererseits konnte sich Rowan nicht vorstellen, dass dieser unangenehme, so von sich überzeugte Mann sein Volk ernst genug nahm. Die fruchtlose Grübelei aus seinem Kopf vertreibend, eilte der Prinz durch die goldgeschmückten Gänge. Das Schloss erwachte allmählich zum Leben und überall erblickte er die Dienstboten in den feinen Uniformen, die umhereilten mit Staubwedeln oder Krügen, um die unzähligen Pflanzen zu versorgen. Auch Rowan hätte nicht damit gerechnet, dass in einem Land aus schwarzem Stein der Königspalast aussehen würde wie ein gewaltiger goldener Vogelkäfig.
Nachdem er in seinem Gemach die bestickte dunkle Weste über das Hemd gezogen und die Ärmel wieder gerichtet hatte, legte er seinen Rock an und setzte sich einen Moment auf die Ottomane. Remy hatte die weiche Decke, die der Prinz ihm gegeben hatte, ordentlich zusammengelegt, doch das Himmelbett war noch nicht gerichtet worden. Vermutlich dachten die Kammerfrauen, er würde noch gar nicht auf sein. Sie konnten ja nicht wissen, dass die meisten der annwynischen Königsfamilie Frühaufsteher waren.
Ins Leere starrend und dabei auf den noch immer leicht fallenden Regen hörend, blieb Rowan auf dem kleinen Sofa sitzen, bis es Zeit war und er sicher sein konnte, dass sich Seine Majestät erhoben hatte. Thedosio verlangte beinahe unverzüglich nach dem Aufstehen nach seiner Frühstückstafel, die ebenfalls im Speisesaal aufgebaut und mit den Höflingen zusammen eingenommen wurde. Private Essenszusammenkünfte nur mit der Familie schien es im trallischen Königshaus nicht zu geben, es hatte wohl alles eine große Schau zu sein, bei der der König den Mittelpunkt bildete. Seine Gewohnheiten diktierten den Tagesablauf im Schloss. Wie es dieser Mann angesichts seiner schon krankhaften Fettleibigkeit schaffte, am Leben zu bleiben, war dem Prinzen ein Rätsel. Das Herz des Monarchen war entweder stark wie das eines Ochsen oder doch aus Stein.
Rowan verließ das Gemach wieder und begab sich in den Speisesaal. Als Gast des Palastes war es nur höflich, an jeder Mahlzeit teilzunehmen, auch wenn der Prinz seinen Hunger bereits in der Morgendämmerung gestillt hatte.
Das Stimmengewirr war noch verhalten und klang dumpf und verschlafen. Die Höflinge wirkten noch nicht so taufrisch, doch wie sollten sie auch, wenn es jeden Abend so viel Wein und Gelage gab, zu wenig Schlaf und ein für diese Menschen viel zu frühes Frühstück? König Thedosio wirkte wie aus dem Ei gepellt, doch wer genauer hinsah, bemerkte die dunklen Schatten unter seinen kleinen Augen und die schlaff hängende Wangenpartie. Auch ihm tat der übermäßige Genuss von Wein und fettigem Fleisch nicht gut, doch seine Diener und Gewandmeister stopften ihn so gekonnt in seine Kleider und kaschierten die Makel mit Cremes, dass er von Weitem von allen der Gesündeste zu sein schien.
»Eure Majestät«, begrüßte Rowan den König und verneigte sich, bevor er auf seinem üblichen Stuhl an der Tafel Platz nahm.
»Eure königliche Hoheit sehen aufgeräumt aus heute morgen. Plant Ihr etwas für den Tag?«, begann Thedosio eine unverfängliche Unterhaltung. Morgens beim Frühstück konnte man besser mit ihm reden als abends, wenn er mehr brüllte als sprach und kaum zuhörte, was ihm geantwortet wurde.
»In der Tat, Eure Majestät. Ich habe den Entschluss gefasst, meine Reise fortzusetzen. Nach dem ungebührlichen Vorfall mit meinem Knappen am gestrigen Abend halte ich es für besser, dies als Anlass für meinen Aufbruch zu nehmen.«
»Ein niedrig geborener Diener nötigt Euch zur Weiterreise?«
»Aber nein. Jedoch habe ich das Verlangen, dieses wunderbare Land kennenzulernen. Wenn es Euch recht ist, vorausgesetzt.«
»Ihr wollt durch Trallien reisen, nur in Begleitung Eures schlecht gewählten Dieners, auf dem Rücken Eures Pferdes? Ein reichlich sonderbarer Wunsch.«
Rowan bedankte sich leise, als eine junge Magd ihm Kaffee einschenkte, und nahm sich ein warmes Ei aus einem Korb. »Ich verstehe Eure Verwunderung. Doch ich denke, ein Land wie dieses, so wild und schroff, erlebt man besser, wenn man mittendrin ist als wenn man es nur mit einer Kutsche durchquert.« Der Prinz lächelte betont vergnügt. »Es weckt den Abenteurer in mir, muss ich gestehen.«
Thedosio musterte den blauäugigen Jüngling vor sich und seine Schweinchenaugen verengten sich leicht. »Abenteurer, sagt Ihr. Passt nur auf, dass Ihr auf Eurer Reise nicht von einem Drachen verschlungen werdet. Das geschieht Weltenbummlern häufiger, müsst Ihr wissen. Vor allem denen, die nach Dingen suchen, die es nicht gibt.«
Rowan ließ sich nicht anmerken, dass er die unterschwellige Drohung in den Worten des Königs vernommen hatte. Es war nur ein Vorteil, wenn der Monarch den Prinzen für ein klein wenig einfältig hielt.
»Oh, das hoffe ich doch nicht. Obgleich ich noch niemals einen lebendigen Drachen gesehen habe. Es gibt sie nur hier, entspricht das den Tatsachen?«
»So sagt man«, knurrte Thedosio.
»Darf ich Eure so großzügig bekundete Sorge um mein Wohlergehen als Erlaubnis betrachten, durch Euer bezauberndes Land zu reisen?«
»Tut, was Euch beliebt. Ihr tut es auf eigene Gefahr. Die Ebenen sind voll von Gesindel und Lumpenpack, Ihr müsst auf Euch Acht geben, nicht dass Marek noch seinen Stammhalter verliert. Lasst Euch von dem Gesinde geben, was immer Ihr für Euer ... Abenteuer braucht.«
Rowan bedankte sich und bediente sich an der Frühstückstafel, während er in Gedanken bereits aufzählte, was Remy und er für die Reise benötigen würden. Natürlich die Plane, denn Tralliens Regenschauer würden sie sonst davonschwemmen und selbst eine Erkältung konnte einem Mann in der Wildnis das Leben kosten. Ein paar Arzneien und Verbandszeug konnten auch nicht schaden. Davon hatte Rowan zwar bereits ein kleines Päckchen aus Annwyn mitgebracht für die Hinreise, doch sicher war sicher. Und natürlich Proviant für Mann und Pferd. Der Kronprinz spürte, wie eine neugierige Aufregung ihn erfasste. Er freute sich, aus dem Palast fortzukommen und in das Land zu reisen, dessen Schönheit von der Kälte seines Herrschers nicht widergespiegelt wurde.
Als es nicht mehr unhöflich war, aufzustehen, entschuldigte Rowan sich, verneigte sich vor Thedosio und seiner Gemahlin, die stumm dabei gesessen hatte, und eilte durch den Gang in die Küche, in der Hoffnung, Remy dort anzutreffen. Und tatsächlich betrat dieser durch eine andere Tür gerade den großen Raum, beladen mit Holz für die Herdkamine.
»Remy!« Rowan nahm ihm ein paar Scheite ab. »Du hast dich doch etwas vertraut gemacht mit dem Gesinde. Gibt es jemanden, den du nach einer großen Plane für das Zelt fragen könntest?«
Der Junge ließ das Holz in den vorgesehenen Kasten fallen. »Der König lässt Euch ziehen?«
»Ja. Also?«
»Äh, klar, ja. Ich geh gleich fragen. Braucht es außer der Plane noch was?«
»Mein Knappe Sero und ich hatten das wichtigste für die Reise dabei. Einiges hab ich freilich bei ihm lassen müssen nach seinem Unfall, weil Agrippa nicht alles tragen konnte. Vielleicht kannst du nach einer Messingkanne fragen und einer kleinen Pfanne für das Wild.«
Remy nickte, putzte sich die Splitter von den Händen und verließ die Küche in Richtung der hintengelegenen Höfe wieder. Diese waren durch Tore und Durchgänge mit dem Haupthof verbunden, aber nicht frei einsehbar. Dort geschah all das, was man bei dem Besuch einer Königsburg nicht als allererstes zu sehen bekommen sollte. Hier tummelten sich Gänse in Gattern und wühlten sich durch das auf dem Kopfsteinpflaster verteilte Stroh, Hühner liefen herum, denn auch die Ställe für das Federvieh waren hier hinten. Entfernt in einem der anderen Höfe konnte man Schweine grunzen hören, das heitere Lachen von Knechten und Handwerkern, irgendwo sang jemand. Obwohl der junge Dieb sich durch die Bauweise der Gebäude, dieses Gemisch aus Fachwerk, Holz und Steinen, an Thalea erinnert fühlte, war es doch ganz anders. Es roch anders, trotz des Miefs der Nutztiere, viel sauberer und natürlicher, die Menschen schrien sich nicht an, sondern verstanden sich, man hörte Lachen und nicht das Klagelied des Elends überall. Er sah einer Gruppe von Knaben nach, die mit Stöcken bewaffnet sicher auf dem Weg waren, ein paar der Gänse aus dem großen Gatter zu fangen. Wäre er hier aufgewachsen, als der Sohn eines der Handwerker oder der Mägde, würde er sein Land und seinen König womöglich nicht so verachten wie er es tat. Remy schüttelte den Kopf. Dieses »Was wäre, wenn«-Spiel führte zu nichts. Das änderte nichts an seiner Herkunft als Bastard und Straßenratte. Thalea war das Leben, das er kannte. Alles andere war Wunschdenken und somit vollkommen sinnlos.
Er huschte von den anderen Menschen unbeachtet durch die Höfe, bis er einen kleinen erreicht hatte, der so vollgeräumt mit Gerümpel war, als wäre es ein Schrottablageplatz. Die Räumlichkeiten, die den Hof umspannten, waren ebenso vollgestopft. Bei einigen konnte man nicht einmal mehr durch die Fensterscheiben sehen, weil selbst diese verbaut worden waren.
»Rhune?«
Ein dumpfes Poltern, laut genug, um den Jungen wissen zu lassen, dass eine ganze Menge umgefallen sein musste, ertönte und eine Staubwolke brach aus einer der geöffneten Türen.
»Bei Solems Bart!«, schimpfte die raue Stimme eines Mannes, der hustend und spuckend aus eben diesem Raum kam, sich Sägespäne und Dreck von der Weste klopfte und so heftig zu niesen begann, dass es wie eine Kanone klang. Der Mann war ziemlich alt, klein und hatte einen gerundeten Rücken, doch seine Stimme klang viel jünger. Sich die Nase reibend sah er sich um, wer da nach ihm gerufen hatte. Er zog eine Braue hoch, als er den verdatterten Remy erblickte. Ein Trallier, der einem fremden Prinzen diente. Diese Neuigkeit hatte sich schnell im Schloss herumgesprochen, denn so etwas hatte es noch nicht gegeben.
»Du!«, knurrte Rhune und schnäuzte sich, bevor er das Taschentuch wegsteckte und auf den jungen Mann zuging. »Wegen dir ist da drin ein Turm aus Stühlen zusammengebrochen. Erschreck’ mich doch nicht so!«
»Soll ich beim Aufräumen helfen?«
»Du bist ein fleißiger Junge. Aber nein, ich lass dafür nachher ein paar von den weniger anständigen Bengels ran. Die schaukeln sonst nur den ganzen Tag ihre Eier. Was willst du?«
»Mein ... äh, Prinz Rowan lässt fragen, ob du eine Plane hast. Wasserabweisend, groß genug, um ein Zelt zu überspannen.«
»Eine Plane? Will der arme Irre etwa in die Wildnis?«
Remy nickte und Rhune schüttelte leicht den Kopf. »Ein merkwürdiger Adliger. Von denen hier würde niemand in einem Zelt schlafen, egal wie vornehm es ist. Na gut, lass mich mal schauen, was ich für deinen Herrn habe.« Der alte Mann öffnete eine andere Tür, hinter der sich ein Raum verbarg, der nur aus Regalen zu bestehen schien. Mitten im Raum, an den Wänden, sogar vor den Fenstern. Auf den Brettern war jeder erdenkliche Kram ordentlich gestapelt. Betreten hatte den scheinbar lange niemand mehr, denn die Spinnweben wehten geisterhaft im Luftzug. Rhune griff nach einem Bestandsbuch und blätterte einige Minuten darin.
»Du führst Buch über das Gerümpel? Ich dachte, das wird einfach nur irgendwo hineingefeuert und dann vergessen ...«
»Ich bin Zeugwart, Junge. Wenn ich mich in meinem Lager nicht auskenne, dann sind hier alle verloren. Dieses Gerümpel wird durchaus noch gebraucht. Siehst du ja. Falls mal ein nicht lange genug gebackenes Weißbrot aus dem Westen eine Regenplane braucht.«
»Hey!« Remy legte die Stirn in Falten und Rhune lachte.
»Sag mir nicht, du hast das nicht auch schon einmal gedacht. Du bist loyal. Das ist gut.« Der alte Mann schlug das schwere Buch wieder zu und verschwand zwischen den Regalen. Remy, dem diese enge Bauweise unheimlich war und sich anfühlte, als würde alles über ihm zusammenbrechen, blieb an der Türe stehen und wartete.
»Himmel, hier war ja ewig keiner mehr drin!«, hörte er es aus dem hinteren Teil des Lagerraumes schallen, gefolgt von einem unflätigen Fluch und einem erneuten Poltern. Eilig kam Rhune um die Ecke und schnaufte. Er war aschfahl und grinste schief. »Bei Solem, die Spinnen hier in den Ecken sind größer als die Hunde!«
»Ich mag beides nicht, wenn ich ehrlich bin«, murmelte Remy und war noch froher, nicht mit hineingegangen zu sein.
»Wie auch immer. Hier ist die Plane. Lass sie uns auf dem Hof einmal ausrollen, um zu sehen, ob sie noch intakt ist. Ansonsten hätte ich noch ein paar andere. Das hier scheint aber die größte zu sein. Weißt du, wie groß das Zelt des Prinzen ist?«
»Nein. Aber da er es auf dem Pferd transportiert, kann es kein Palast sein.«
»Auch wieder wahr.«
Sie rollten die Pelle komplett aus und Remy nickte. Auf der einen Seite war die Plane angeraut und fühlte sich wie Stoff an, doch auf der anderen war sie gummiert, was verhindern würde, dass Wasser durchsickern konnte.
»Gut. Rollen wir sie wieder zusammen. Ach, und hättest du eine Kanne und vielleicht eine Pfanne oder einen flachen Topf?«
»Die Königliche Hoheit mag es einfach, aber auf Kaffee und Braten nicht verzichten, ich verstehe.«
»Wie sollten wir sonst erlegtes Fleisch genießbar machen?«
»Ja ja«, knurrte der alte Rhune spitzbübisch grinsend und verschwand in einer anderen Kammer, während Remy die Plane unter dem Arm hielt. Sie war schwer, aber sein Rappe Loot würde sie mit Leichtigkeit tragen können.
»Hier. Messingkanne und Pfanne. Die solltest du in der Küche ordentlich ausscheuern, aber die sind noch gut. Moment ...« Der alte Mann zog einen Stift aus der Tasche. »Eine Regenplane und zwei Stück Geschirr. Ich muss das austragen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Prinz das Zeug zurückgibt, ist wohl nicht so hoch. Gut. Sonst noch etwas?«
Remy nahm die Sachen und schüttelte den Kopf. »Nein. Danke. Soll ich dir wegen der Stühle echt nicht helfen?«
»Quatsch. Das sollen schön die Faulenzer machen, denen werde ich Beine machen. Na los, verschwinde, du hast doch zu tun!«
Grinsend wandte der junge Dieb sich ab und kehrte in die Küche zurück, wo er das Geschirr mit Seife und einer Bürste reinigte, bis all der Staub verschwunden war. Die Kanne glänzte sogar etwas. Mit sich zufrieden kehrte er in Prinz Rowans Gemächer zurück, den er in der Tat dort antraf. Er hatte die Sachen aus ihren Reisesäcken auf dem Teppich verteilt.
»Was tut Ihr hier?«
»Mir einen Überblick verschaffen, was wir noch brauchen könnten.« Der Prinz ließ den Blick über die Sachen wandern. »Wir haben unsere Kleidung und Seife, einen Schleifstein für mein Schwert, Feuersteine, Trinkschläuche, Döschen mit Salz und ein paar Gewürzen und ein Jagdmesser. Proviant hat mir der Oberkoch zugesichert, der wird für uns vorbereitet - Brot, Käse, Pökelfleisch, Grieß, Kaffee und Hafer für die Pferde. Wir haben das Zelt ... ah, hast du eine Plane bekommen?«
Remy zeigte seine Beute und Rowan lächelte. »Gut. Schnur wäre vielleicht noch gut, um Fallen zu bauen. Und ein Seil.«
»Hättet Ihr das nicht früher sagen können? Der Zeugwart hätte das sicher alles gehabt. Soll ich noch einmal runtergehen?«
»Nein, schon gut. Das lasse ich vom Küchenpersonal holen.« Rowan saß auf dem Boden und lehnte sich an die Ottomane. »Ich bin regelrecht aufgeregt, als ginge es direkt zu einem Wanderausflug, wie ihn mein Vater mit mir und meinen Geschwistern unternahm, als wir noch Kinder waren.«
»Mit dem Unterschied, dass der halbe Hofstaat dabei war?«
Der Prinz lachte leise. »Nein. Aber wir waren nie sehr weit vom Schloss entfernt, in den Wäldern drumherum. Mein Vater konnte nie lange von seinen Verpflichtungen weg.«
»Trauriger Prinz«, entgegnete Remy sarkastisch.
»Ja, das ist in der Tat Jammern auf hohem Niveau. Bist du bereit, weiterzuziehen?«
»Warum fragt Ihr das?«
»Weil es mir wichtig ist, dass du dich einbezogen fühlst. Dir erscheint es vielleicht merkwürdig, aber in der Wildnis sind wir auf uns gestellt und ich möchte, dass du lernst, mir zu vertrauen. Das geht am besten, wenn wir Partner sind. Du hast dich verpflichtet, mir immer offen zu sagen, was du von einer meiner Entscheidungen hältst.«
Remy hockte sich hin und betrachtete das Sammelsurium aus Utensilien. »Ihr kennt die Antwort. Ich würde am liebsten sofort aufbrechen. Das Essen und auch das gute Bett werde ich vermissen, aber nicht diesen Ort. Als hätte ein Drache all sein Gold verschluckt und es in diesen Kaninchenbau hineingekotzt. Es macht mich krank, hier zu sein, immer mit der Erinnerung, wie elend es überall anders ist.«
Rowan musterte den Jungen, dessen grimmiges Gesicht oft so viel älter wirkte als es war. »Ich dachte auch eher an das Mädchen. Sie mag dich, so scheint es.«
»Und ich habe meine Meinung dazu längst gesagt. Sie zu heiraten würde mich an Trallien ketten. Vielleicht glaubt ihr, eine Straßenratte hätte keine Prinzipien, doch das stimmt nicht. Ich würde für meine Pflichten einstehen, deswegen lehne ich sie ab. Sie kann hier einen Mann finden, der besser für sie geeignet ist, wenn es das ist, was sie will. Ich verstehe ohnehin nicht, warum Menschen heiraten ...«
Lächelnd sah Rowan auf seine Hände. »Im besten Fall aus Liebe.«
»Ich glaube nicht an die Liebe. Wenn man sich nicht auf seine eigene Mutter verlassen kann, wie sollte man es dann bei einem Fremden?«
»Deswegen musst du lernen, dass es Menschen gibt, denen du vertrauen kannst. Wenn du das kannst, wirst du sehen, ist es nur noch kleiner Schritt bis zur Liebe.«
Remy stand auf und wandte sich ab. »Ach, hört doch auf, Ihr romantischer Tropf. Liebe ist etwas für die Reichen. Die können davon träumen.«
»Du bist eben noch sehr jung. Es geht doch dabei nicht nur um das, was zwei Menschen miteinander teilen. Liebe ist auch ein wichtiger Teil, wenn man ein König sein will.«
»Wie das?«
»Nun, zum Beispiel regiert ein König, der keine Liebe für sein Volk übrig hat, so wie Thedosio das tut. Ausbeuterisch. Während mein Vater unser Volk liebt und sein Möglichstes versucht, damit alle genug haben, selbst wenn das bedeutet, sich selbst dafür einzuschränken oder vorübergehend die Steuern zu senken.«
»Es gibt Könige, die verzichten, damit andere mehr haben?«
»Natürlich. Steuersenkungen nach Missernten sind in Annwyn ganz normal. Wer nichts zu verkaufen hat, verdient kein Geld und kann folglich nicht zahlen. Was nutzt es einem Königreich, diese Menschen dafür in den Schuldturm zu werfen? Das schadet nur dem Land, denn Inhaftierte können nicht arbeiten. Lässt man sie jedoch weiter ihre Arbeit tun, ist eine Krise schneller überwunden. Logisch, oder?«
Remy musterte den blauäugigen Prinzen und nickte schließlich. Dazu wusste er nichts zu erwidern.