»Ein Hemd. Ein Hemd ist gut«, flüsterte er sich selbst zu. Das dunkelblaue Hemd sass perfekt. Es passte gut zu der schwarzen Hose, aber irgendwie war es nicht das Richtige.
»Nein, das ist zu elegant.« Kopfschüttelnd zog er es wieder aus. Stattdessen probierte Noé ein grünes Langarm-Shirt an. Zu dünn, hörte er eine Stimme in seinem Kopf.
So ging das schon seit einer halben Stunde. Für die Hosen hatte er bereits zwanzig Minuten gebraucht. Er war unglaublich nervös.
Er wollte James beeindrucken, ihm in Erinnerung bleiben, aber trotzdem wollte er sich auch natürlich geben, sich nicht verändern.
»Den hellgrauen Hoodie«, erklang die Stimme seiner Mum. Sie hatte sich an den Türrahmen gelehnt, beobachtete ihn.
Seufzend zog er über das weisse T-Shirt den Kapuzenpullover an. Das sah wirklich gut aus.
»Danke.« Er versuchte zu lächeln, aber es sah eher nach einer Grimasse aus.
Sie kam auf ihn zu. Wuschelte ihm durchs Haar. »Er wird dich mögen. Genau so, wie du bist. Ich habe dich lieb. Und ich bin unglaublich stolz auf dich.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er es verhindern konnte.
Keine drei Sekunden später, war sie schon aus dem Zimmer raus. Er überprüfte noch einmal sein Aussehen, ob alles sass und roch noch einmal unter seinen Achseln, ob er auch nicht stank. Mit dem Rucksack über der Schulter ging er nach unten, wo er in seine Chucks schlüpfte und sich den Beanie über den Kopf stülpte. Er griff nach seiner Regenjacke und wollte gerade das Haus verlassen, als das iPhone summte.
Mach mich gleich auf den Weg. Freu mich schon.
Sein Herz machte einen ungewollten Hüpfe. »Ich mich auch. Bis gleich«, schrieb er zurück. Dann öffnete er die Tür und machte sich auf den Weg zu seinem Date. Es war ein kühler Abend, aber er ging trotzdem zu Fuss.
Sein Daumen schwebte über Kyos Kontakt. Zögernd drückte er auf »Anrufen«. Natürlich ging er nicht ran, aber seine Mailbox kam.
»Hey Fremder, ich benutze einfach das generische Maskulinum, weil ich es praktisch finde. Ich hoffe es macht niemandem was aus. Oder hey auch nicht so fremde Person. Ich bin Kyo und gerade nicht erreichbar. Sprich oder sing was Cooles drauf und ich ruf dich zurück.«
Noé bewegte die Lippen mit, flüsterte den Text vor sich hin. Nach dem Tod seines Freundes hatte er die Mailbox hinauf und hinab gehört, jedes Video, das er von Kyo hatte, tausend Mal angeschaut. Sich dessen Gesichtszüge angesehen, in dessen goldene Augen geschaut, der honigsüssen Stimme zugehört. Er bezahlte jeden Monat die Handyrechnung von ihm, damit er sich dessen Stimme anhören konnte.
»Hey Kyo. Ich bin’s Noé. Ich weiss, dass du das nie abhören wirst, aber ich muss einfach mit dir reden. Oder mir zumindest einbilden können, dass ich mit dir rede.
Heute habe ich ein Date. Also ich glaube, dass es ein Date ist. Egal, ich treffe mich mit James. Dem Jungen, von dem ich dir erzählt habe. Ich bin so unglaublich nervös. Ich wünschte du wärst da, um mir eine deiner beruhigenden Umarmungen zu schenken. Ich vermisse dich«, beendete er die Ansprache.
Er wusste, dass er den Vertrag kündigen sollte, aber er konnte es einfach nicht. Seufzend öffnete er Spotify und stellte »Owner of a lonely Heart« von Yes ein. Während des Wegs zum Café beruhigte Noé sich allmählich.
Man merkte, dass langsam der November kam. Fast alle Bäume waren kahl, der Wind pfiff einem immer kälter um die Ohren.
Die Strassen waren fast leer, so unangenehm war das Wetter. Es türmten sich immer mehr dunkle Wolken aufeinander. Gerade als er das Lokal erreichte, fing es an zu regnen. Schnell flüchtete er ins Trockene.
Suchend sah der Junge sich nach dem richtigen Tisch um. Fast ganz hinten im Café, an der Fensterfront, war ein leerer mit Barhockern.
Es war halb fünf, sie waren in einer halben Stunde verabredet. Er war absichtlich früher gekommen, damit er sich in Ruhe an die Umgebung gewöhnen konnte. Noch einmal tief durchatmen, bevor er James traf.
Die dreissig Minuten vergingen in Zeitlupe. Die einzigen Gäste, abgesehen von ihm, waren ein junges Pärchen, das sich einen Milchshake teilte und eine Frau in den Vierzigern.
Es war bereits Viertel nach und James war noch nicht da.
Kelly, die Kellnerin, kam vorbei und fragte ob er etwas trinken wolle. Er lehnte ab, sagte, dass er noch auf jemanden warte.
Sie zwinkerte ihm zu, bevor sie wieder hinter dem Tresen verschwand.
Draussen schüttete es wie aus Kübeln, weit und breit niemand zu sehen. Vielleicht hat sein Bus Verspätung, sagte er sich selbst. Noé schaute nach, ob der Andere ihm geschrieben hatte.
Keine neue Nachricht.
Um sich die Zeit zu vertreiben, spielte er ein paar Runden »Subway Surf«, löste ein paar Bilderrätsel und stellte einen neuen »Crossy Road« - Rekord auf.
Es war bereits nach halb sechs und immer noch keine Spur von seiner Verabredung.
Die Tür bimmelte, Noé riss den Kopf hoch. Doch es war nur ein ziemlich gestresst aussehender, von der Arbeit kommender, Mann, der sich einen Kaffee holen wollte.
Enttäuscht liess er den Kopf hängen. Er öffnete ein weiteres Mal den Chat mit James, las dessen letzte Nachricht.
Auf einmal schrillten in seinem Kopf die Alarmglocken. Diese Nachricht klang sehr nach der Nachricht, die Kyo ihm geschickt hatte an dem Tag, als er gestorben war. Noé hatte die Worte noch ganz genau im Kopf. »Bin schon fast auf dem Weg. Ich freue mich auf dich. So wie immer ;). Ich liebe dich.«
Aber sein Freund war nie bei ihm angekommen. Er hatte gewartet und gewartet, aber der Andere war nicht gekommen.
Genau wie jetzt.
Noé spürte, wie sich der Brustkorb zusammenzog, er fast keine Luft mehr bekam. »Ganz ruhig. James ist nichts passiert. Der Bus hat bei diesem Sauwetter sicher nur Verspätung«, versuchte er sich selbst zu beschwichtigen. Sein Atem beruhigte sich wieder ein wenig, aber das schlechte Bauchgefühl blieb.
»Kann ich ein Wasser haben?«, fragte er Kelly. Sofort brachte sie ihm eines, das Gesicht besorgt verzogen.
»Alles okay bei dir?«
Noé sah im sich spiegelnden Fenster, dass er blass wie ein Gespenst war. »Jaja. Nur etwas nervös.«
Sie nickte, nicht ganz überzeugt und zog sich wieder zurück.
Die Uhr tickte weiter. James tauchte nicht auf. Er checkte seine Instafeeds, fügte ein paar coole Ideen zu seiner »Art«-Pinnwand auf Pinterest hinzu.
Um sieben Uhr öffnete sich die Tür erneut. Er konnte nicht verhindern hoffnungsvoll den Kopf zu heben.
Natürlich war es nicht James.
Nein, es war Cord Harris zusammen mit seiner Clique. Kaum hatten sie ihn entdeckt, steuerten sie auf ihn zu.
»Wartest du auf jemanden?«, spottete der Captain des Fussballteams. Noé hielt den Kopf gesenkt, beachtete die Jungs nicht.
»Hat die Tunte ein Date?« Cords Gefolge lachte höhnisch. Aber am lautesten lachte Harris selbst.
Er gab immer noch keinen Mucks von sich. Der Schlägertyp zog ihn an den Haaren. »Antworte mir gefälligst, wenn ich mit dir reden, Miststück!«, knurrte dieser.
»Ja, ich warte auf jemanden«, presste Noé zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Cord grinste wölfisch. »Was dagegen, wenn wir mit dir warten?«
Er reagierte nicht und das Rudel zog sich in den hinteren Teil des Lokals zurück.
Die Zeit verging etwa so schnell wie eine Schnecke sich fortbewegte.
Leute kamen und gingen.
Er hob nicht einmal mehr den Kopf, wenn jemand hineinkam.
Mit jeder Sekunde verstärkte sich das schlechte Bauchgefühl. Um kurz nach halb acht meldete seine Verkehrs-App, dass es einen Unfall gegeben hatte.
Sein Herz rutschte in seine Unterhose. »Bitte nicht. Bitte nicht«, murmelte er, während er im Internet danach suchte. Er gab Wörter wie Jugendlicher und Unfall in die Suchmaschine ein. Doch die einzigen Resultate, die kamen, betrafen Kyo.
»Wirklich hilfreich«, knurrte Noé. Draussen tobte das Oktoberwetter weiter vor sich hin. »Keine Verletzten«, meldete sein Handy weiter. Beruhigt atmete er aus.
Er hörte Cord und seine Freunde hinter sich tuschelnd. Sie lachten, wahrscheinlich schossen sie auch Fotos von ihm.
»Wo bleibt er nur?«, fragte er sich. Ein weiteres Mal checkte er sein Handy auf Nachrichten von James ab. Er zögerte kurz, drückte dann aber auf »Anrufen«.
Es klingelte. Und klingelte. Und klingelte. Als die Mailboxansage kam, legte er auf.
Eine weitere Stunde verging, aber kein James tauchte auf. Er rief ihn drei weitere Male an, aber der Andere nahm nicht ab.
Ihm war zum Heulen zu Mute. Er fühlte sich frustriert, vor allem aber enttäuscht. Noé hatte sich so sehr auf dieses Treffen gefreut, war bereit gewesen Kyo für einen Abend an zweiter Stelle zu lassen und jetzt das!
»Schwuchtel wurde sitzengelassen!« Cord legte den Kopf schief, als würde er seine Worte überdenken.
Als würde dieses Arschloch überhaupt jemals denken, dachte er.
»Ein toller Bericht für die Schülerzeitung. Würde es vielleicht sogar auf die Titelseite schaffen«, fuhr der Andere fort.
Langsam kroch die Demütigung in ihm hoch. Klar, Harris hatte ihm schon immer das Leben zur Hölle gemacht. Selbst als er sich noch nicht als schwul geoutet hatte. Aber irgendwie war es schlimmer geworden, seit Kyo nicht mehr da war.
»Nein, wartet! Noch besser: Schwuchtel wartet auf totes Schlitzauge!«
Noé hatte das Gefühl, im Café war es totenstill.
Als hätten alle die Luft angehalten, warteten auf seine Reaktion.
Das... dieser... dieser Spruch... das ging unter die Gürtellinie. Ganz, ganz, ganz tief unter die Gürtellinie.
Die Wut brannte schneller in ihm hoch als er sie wahrnehmen konnte. Noé sprang von seinem Stuhl und verpasst Cord einen Haken. Einen richtigen Haken.
Wie in Zeitlupe flog dessen Kopf zur Seite, Blut spritze aus seinem Mund.
Seine Finger knackten hässlich. Beide schrien vor Schmerz auf.
Harris Augen brannte wie Feuer, Höllenfeuer, voller Rache, als er auf den Blonden zusprang und ihm ein Veilchen direkt unters Auge verpasste.
Noé holte ein weiteres Mal aus und dieses Mal traf die Nase des Anderen. Wieder knackten seine Finger, während Unmengen an Blut aus Cords Nase schossen.
Kelly und zwei Kunden sprangen auf sie zu, rissen sie auseinander.
»Es reicht«, knurrte der eine Mann. Er wollte sich losreissen, so unglaubliche Wut hatte er noch nie verspürt.
»Hört auf! Sofort!«, kreischte Kelly, stellte sich zwischen sie beide. »Raus hier! Aber plötzlich!« Mit einer Handbewegung scheuchte sie Cord und sein Rudel hinaus. Im Lokal war es totenstill. »Alles okay?«, fragte die Kellnerin ihn.
Er nickte und schüttelte dann den Kopf. Ihm stiegen die Tränen in die Augen, doch er blinzelte sie weg. Seine Finger taten unglaublich weh, ebenso seine Wange.
»Komm’, ich fahre dich ins Krankenhaus«, sagte der Mann, der ihn festhielt. Er erkannte die Stimme. Überrascht sah er dem Vertrauenslehrer seiner Schule, Mister Readson, in die Augen.
Immer noch betäubt von der Schlägerei, nahm er sein iPhone und folgte dem Mann hinaus. Sofort prasselte der Regen wieder auf sie nieder. Er war wirklich froh, dass er die Regenjacke dabeihatte. Schnell rannten die beiden zum Auto. Als sie drinnen sassen, schaute der Lehrer ihn fragend an.
»Ich will nicht darüber reden. Fahren Sie bitte einfach.«
Dieser nickte und startete den Motor.
Eine Stunde später kam er mit frisch gegipsten linken Arm ins Wartezimmer, in der rechten Hand eine Packung Schmerzmittel. Diese schob er sich in die mittlerweile wieder trockene Jackentasche und holte sein Handy hervor.
»Musste ins Krankenhaus. Mister Readson, mein Vertrauenslehrer fährt mich nach Hause. Es tut mir leid. Ich erkläre es euch, wenn ich Zuhause bin«, tippte er seiner Mum.
»Krankenhaus?!« Evelyn würde ausrasten, das wusste er jetzt schon.
»Noé?« Doktor Lisa Crand klopfte ihm auf die Schulter. »Wichtig ist, dass du deine Hand ruhig hältst. Und ja nicht nassmachen. Die gebrochenen Knochen müssen verheilen. Wir sehen uns in vier Wochen zur Kontrolle. Wahrscheinlich kann der Gips dann runter.«
Er lächelte sie dankbar an. »Ist gut, danke.«
»Deine Hand und das Veilchen haben nicht zufällig was mit dem anderen Patienten zu tun, der eine gebrochene Nase und einen verrenkten Kiefer hat?«, fragte die Ärztin.
Es befriedigte ihn, dass Cord auch Schäden von dem Abend davontragen würde. Noé lächelte unschuldig. »Ich weiss nicht, was Sie meinen.«
Kopfschüttelnd, leicht lächelnd und winkend ging sie aus dem Raum. Mister Readson stand auf, legte das Magazin zur Seite, in dem er geblättert hatte. »Dann bringen wir dich mal nach Hause, Rocky.«
Während der Rückfahrt schwiegen sie ebenso, wie auf der Hinfahrt.
»Hier?«, fragte sein Vertrauenslehrer ihn, als er vor dem weissen Haus hielt. Es brannte noch Licht.
»Jup.« Er fuhr sich durch die Locken. »Danke. Für das alles hier.«
Readson lächelte. »Wir sehen uns morgen, Noé.«
Kaum hatte er die Haustür hinter sich geschlossen, stürmte seine Mum auf ihn zu.
»Was? Oh mein Gott!?« Sie deutete auf das blaue Auge und den Gips.
»Wohl etwas zu ausgefallen gewesen, was?«, bemerkte sein Dad grinsend.
Evelyn starrte ihren Mann böse an. »John!« Ihre Stimme war fast schon ein Kreischen.
Kevin und Leia kamen die Treppe runtergerannt. »Noé? Was ist mit deinem Auge?« Der Zwölfjährige schaute ihn fragend an.
»Dein Arm!«, rief Leia.
»Erklär uns jetzt bitte, wie es dazu gekommen ist!«
Also erzählte er es ihnen.
Wie er im Café gesessen hatte und James nicht aufgetaucht war. Stattdessen aber Cord. Die Prügelei, der Mittelhandknochenbruch am linken Zeige- und Mittelfinger. Die ganzen Beleidigungen von Harris liess er aus. Ebenso seine Gefühle der Enttäuschung, Wut und Demütigung.
»Es tut mir so leid, mein Schatz«, flüsterte seine Mutter, das Gesicht mitfühlend verzogen. Während sein Vater sagte, strahlend nebenbei bemerkt: »Ich bin so stolz auf dich.«
Noé zuckte die Achseln. »Ich gehe jetzt schlafen. Wir sehen uns morgen.« Er fühlte sich einfach unglaublich müde. Müde vom Leben.
»Ist gut, schlaf gut.« Seine Mum drückte ihn kurz an sich, John schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
Die Zwillinge kamen mit ihm nach oben. Bevor er in sein Zimmer ging, schlangen die beiden ihre Arme um ihn.
»Wir haben dich lieb. Und James ist ein Idiot.«
Ihm schossen die Tränen in die Augen. Er wuschelte beiden durch die Haare. »Ich habe euch auch lieb.«
Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, brach alles wieder über ihm zusammen. Die ganzen Gefühle, die er zurückgedrängt hatte.
Die Enttäuschung darüber, dass James nicht aufgetaucht war.
Die Angst, dass ihm etwas passiert war.
Die Demütigung, die er verspürt hatte, als Cord sich über ihn lustig gemacht hatte.
Aber am schlimmsten war diese Wut.
Diese Wut, wie er nur hatte so dumm sein können, sich auf James einzulassen. Die Wut auf Cord und seine Freunde. Die Wut auf James. Die Wut auf Katy, Nico und Nuriel, die ihn überhaupt zu diesem Treffen überredet hatten. Die Wut auf den Autofahrer, der für Kyos Tod verantwortlich war. Die Wut auf die Nakamuras, weil sie ihren Sohn nie so akzeptiert hatten, wie er wirklich war. Die Wut auf Kyo selbst, weil dieser ihn verdammt nochmal einfach alleine gelassen hatte.
Am allerstärksten, immer unter der Oberfläche brodelnd, war jedoch die Wut auf sich selbst. Darüber, dass er sich ohne Kyo leer fühlte. Dass er nicht über ihn hinwegkam, ihn immer noch so liebte wie jeden Tag, den sie miteinander hatten. Dass er sein Leben nicht einfach leben konnte, so wie jeder andere auch.
Noé war so unglaublich wütend.
Auf die ganze Welt.
Weil sie ihm den Menschen genommen hatte, der für ihn die Welt war.
Er ging zu seinem Fenster, öffnete es, kletterte auf den Baum im Garten. Auf dem dicksten Ast blieb er sitzen, starrte nach unten. Knapp fünf Meter, bis zum Gras auf dem Boden.
Zu wenig, um an einem Sprung zu sterben.
Er hatte nie über Selbstmord nachgedacht. Es war einfach keine Option für ihn. Schliesslich würde es auch nichts bringen, wenn er neben Kyo in einem Grab liegen würde.
Mit dem Tod hört der Schmerz auf, dachte er.
Aber den ganzen Schmerz, denn ich dann nicht mehr fühle, müssen meine Familie, meine Freunde dann fühlen.
Langsam kletterte er von dem kahlen Baum hinunter. In gebückter Haltung landete er auf dem nassen Gras.
Im Dunkeln der Nacht machte er sich auf den Weg. Der Regen prasselte hartnäckig auf ihn nieder, aber er ignorierte diesen ebenso hartnäckig.
Schliesslich hatte er ja immer noch die Regenjacke an, da er vorhin vergessen hatte, sie auszuziehen.
Innerhalb weniger Minuten war er da.
Mitten auf der Strasse blieb er stehen. Wie er diese Strasse hasste.
Noé streckte die Arme aus, stand im Regen, wie Cristo Redentor, die Jesus-Statue in Rio de Janeiro. Die Wimpern vom Wasser verklebt, blickte er in den nachtschwarzen, von den Wolken durchzogenen, Himmel.
»Ich hasse dich, Welt! Ich hasse dich!« Er brüllte. So laut er nur konnte.
Die Wut, der Hass, die Trauer, der Schmerz.
All diese Gefühle flossen aus ihm hinaus, bildeten sich zu Worten.
»Ich hasse dich, weil du mir alles genommen hast! Wieso er, zum Teufel nochmal?! Gott oder wer auch immer da oben hockt, von mir aus auch da unten, ich hoffe du leidest Höllenqualen! So als ob es dein Herz zerreissen würde, du keine Luft mehr kriegst, du langsam aufgeschlitzt wirst mit einem rostigen widerhakenden Messer, dass du an einem schlimmen Gift langsam verätzt.
Und das immer wieder. Jeden Tag aufs Neue. Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde diese Qualen leidest.
Bis in alle Ewigkeiten. Denn du hast es verdient. Aber Kyo hatte das nicht verdient. Er hätte die Ewigkeit verdient. Eine glückliche Ewigkeit, ohne Schmerz.« Noé hielt inne. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter, die Stimme schon fast heiser. »Und ich habe das auch nicht verdient. Ich will, dass es aufhört! Es soll aufhören, so verdammt wehzutun!«, schrie er.
Da stand er.
Mitten auf der Strasse, die Arme ausgestreckt, brüllen, heulend, am Ende seiner Kraft.
Und dennoch erst in der Mitte des Lebens.
Gefangen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft.
Hoffnungslos in der Gegenwart.
Sehnsucht nach dem Vergangenen und Angst vor dem Zukünftigen.
Seine Tränen vermischten sich mit dem Regen, er zitterte und schlotterte in den langsam durchnässten Kleidern.
Er war zu schwach, um sich noch weiter aufrechtzuhalten, also brach er auf dem Boden zusammen.
Kniend sass er dort, sich wünschend, dass es nochmal von vorne anfangen würde oder dass es schon zu Ende war.
Aber das war nicht möglich.
Denn. Noé. War. Mitten. Im. Leben.