Alles ist bereit. Zusammen mit Taissa habe ich bereits alles für meine erste richtige Geburtstagsparty vorbereitet. Wir haben den Tisch gedeckt. Die Tischdecke soll blau sein, hat Taissa gesagt, doch irgendwie sieht es für mich eher aus, als wäre sie gelb oder ähnliches. Vielleicht spielen mir aber auch meine Augen einen Streich. Wer weiß das schon? Woher hat dieses Mädchen eigentlich die weiteren Lichterketten und die neuen Kissen? Es soll mir recht sein. Jetzt strahlt das alte Baumhaus in einem vollkommen neuen Licht. Wörtlich gesehen. Was sollte ich mehr wollen?
Ob ich jetzt schon die Konfettikanonen nehmen sollte, die Taissa mitgebracht hat? So könnte ich mir die Wartezeit vertreiben. Ich habe noch nie Konfetti auf einer Geburtstagsfeier gehabt. Zu Hause ist immer alles so traditionell. Wenn meine Mutter in der Vergangenheit feststecken will, soll sie nicht von mir erwarten, dass ich das ebenso will. Das hier ist Amerika. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da sollte es doch auch möglich sein, sich endlich mal an die moderne Welt anzupassen und genauso seinen eigenen Geburtstag zu feiern, wie es alle anderen Kinder in diesem Land tun können.
Die Konfettikanonen lasse ich doch erst einmal liegen. Stattdessen wandere ich etwas ziellos im Raum herum und lasse meinen Blick zum tausendsten Male umherschweifen. Ich bin so stolz darauf, dass ich mich heute wieder erfolgreich meinen Eltern widersetzt habe. Sie würden wahnsinnig werden, wenn sie das hier sehen würden. Nicht nur würden meine Eltern mir diese Feier vermiesen, sie würden mir vermutlich auch diesen Ort wegnehmen, wenn sie von diesem erfahren würden.
Sie würden mich endgültig im Haus einsperren, womit das Baumhaus wieder verwittern und das Café einen Stammgast verlieren würde. So weit will ich es nicht kommen lassen. Meine Eltern sollen nicht wissen, wo ich bin. Dieses Baumhaus, das Café, Taissa und vor allem meine Geschichten müssen für immer ein Geheimnis bleiben. Auch wenn es wehtut. Es kommt mir immer mehr vor, als würde ich ein Doppelleben führen. Meine Eltern kennen mich nicht. Sie wissen nur, dass ich gute Noten nach Hause bringe, scheinbar als hochbegabt gelte und eigentlich alles, wozu meine Eltern mich früher gezwungen haben, aufgegeben habe. Ich brauche Freiraum, das wissen sie. Und wir sind alle zu dem Schluss gekommen, dass ich den auch verdient habe, ohne dass meine Erzfeinde mich dazu bringen wollen, noch zusätzlichen Unterricht zu nehmen.
Ich mag das Leben, das ich habe, wenn meine Eltern nicht hinsehen, doch um einiges mehr. Ob im Baumhaus, im Café oder gar in der Schule, ich fühle mich gut, solange ich nicht zuhause sein muss. So sollte es vermutlich nicht sein, oder? Zuhause sollte es am schönsten sein.
Bei Taissa ist das vermutlich auch so. Weil ihre Eltern sie nicht mit ihrer unglaublich nachlässigen Kontrollsucht verwirren. Taissa weiß, dass sie geliebt wird. Das habe ich genau gehört, als sie letztens mit ihren Eltern telefoniert hat. Ich versuche mich zu erinnern, wann meine mir das letzte Mal gesagt haben, dass sie mich lieb haben. Haben sie das überhaupt jemals gesagt? Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern. Wie soll man sich dann nicht ungeliebt fühlen? Vermutlich machen das meine Eltern nicht einmal mit Absicht. Das lässt aber das Gefühl nicht verschwinden. Diese Sache lässt sich auch nicht ändern, schätze ich. Ich muss nur einen Weg finden, von meinen Eltern wegzukommen, um mich irgendwann besser fühlen zu können.
Wenn ich mich hier so umsehe, muss ich an meine allererste Geburtstagsfeier in dieser Art denken. Ich habe meine Eltern schon einmal versucht zu überreden, mir eine normale Party mit Freunden zu erlauben. Ich weiß noch, dass ich damals gerade in die Schule gekommen bin und das mit dem Tumor noch in seinen Anfängen gewesen ist. Mir ist es manchmal schlecht gegangen, doch an diesem Tag ist alles gut gewesen. Ein paar Freunde aus der Schule sind rübergekommen, es hat Geschenke gegeben und generell habe ich nur gute Erinnerungen an diese Feier. Zumindest fast. Denn an diesem Tag habe ich mich so sehr mit einem meiner Freunde gestritten, dass meine Eltern ihn rausgeworfen haben. Durch die Aufregung habe ich Nasenbluten bekommen. Die anderen Kinder haben mich angeschaut, als wäre ich ein Aussätziger. Sie sind von Anfang an gegen mich gewesen. Irgendwann sind auch sie gegangen. Meine Freunde sind sie nach diesem Tag nicht mehr gewesen. Ich bin zum Freak geworden, bevor ich überhaupt gewusst habe, dass ich krank bin.
Diese Erinnerungen bringen mich zum Nachdenken. Liegt es an mir, dass ich eigentlich immer ein Außenseiter gewesen bin? Meine Krankheit kann es immerhin nicht gewesen sein. Die hat zu der Zeit noch nicht existiert. Meine Eltern haben mich damals auch noch geliebt, auf ihre eigene Weise, also haben sie mir auch noch nicht das Gefühl gegeben, eine Schande und vollkommen wertlos zu sein. Vielleicht bin ich an sich seltsam. Vor mir aus, ohne dass jemand anderes daran schuld ist.
Das ist das erste Mal, dass ich darüber nachdenke. Niemand ist schuld daran, dass ich nirgendwo hineinpasse. Zumindest außer mir selbst. Ich habe nie versucht, wie alle anderen zu sein. Weil ich mir selbst eingeredet habe, dass immer die anderen schuld sind. Warum habe ich mich an dem Tag überhaupt mit meinem Freund gestritten? Es ist bestimmt irgendetwas Unwichtiges gewesen. Trotzdem bin ich so verbohrt gewesen, dass ich am Ende vollkommen allein dagestanden habe.
Die Krankheit hat mir später nur einen Grund gegeben, mich für meinen Fehler zu rechtfertigen. Ich fühle mich gerade so elend. Am liebsten würde ich in der Zeit zurückreisen, meinem jüngeren Ich ins Gesicht schlagen und ihm sagen, dass es sich der Wahrheit stellen soll. Ich bin falsch, nicht die Welt um mich herum. Die wird sich nämlich niemals ändern. Ich hingegen könnte es, aber ich habe mich lieber hinter dummen Lügen versteckt.
Langsam kommt es mir vor, als hätte Taissa mich einfach sitzen lassen. Klar, sie wird eine Weile brauchen, um nach Hause und dann wieder herzukommen, aber mir kommt es vor, als würde ich schon seit Stunden hier warten. Warum hat dieses Mädchen überhaupt darauf bestanden, dass es noch einmal heimfährt, um das Geschenk und den Kuchen zu holen? Taissa hätte alles einfach schon vorher mitnehmen können. Und dennoch hat sie es nicht getan. Jetzt kommt es mir vor, als wäre das nur eine Ausrede gewesen, um mich hier hängen zu lassen. Ich hätte gleich wissen sollen, dass diese Freundschaft zu schön ist, um wahr zu sein. Taissa hat die Flucht ergriffen. Wie alle anderen zuvor.
Ich fühle mich so verraten. Doch wieder habe ich das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass ich wieder allein bin. Was genau habe ich falsch gemacht? Das Baumhaus scheint plötzlich nicht größer als ein Vogelkäfig zu sein. Mir ist kalt und ich fühle mich so, als sollte ich nicht hier sein. Das Atmen fällt mir schwer. Vermutlich sollte ich einfach weinen und ein bisschen in meinem Selbstmitleid baden.
Es fühlt sich an, als hätte ich meine letzte Chance auf ein normales Leben blindlings weggegeben. Am liebsten wäre ich gerade wieder ganz woanders. Wie hat Taissa mir das nur antun können? Ich habe wirklich gedacht, dass sie mich mag. Bin ich zu ihr auch seltsam gewesen? Wie soll ich mich bessern, wenn alle immer nur weglaufen?
Erst als ich die Holzleiter draußen knarzen höre, tauche ich wieder aus meinen düsteren Gedanken auf.
»Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe«, entschuldigt sich Taissa leise. »Ich habe den Kuchen abholen wollen und mich dabei eventuell ein wenig verlaufen. Ich hoffe, dir war nicht zu langweilig in der Zwischenzeit.«
Sofort verfliegen meine Sorgen. Ich bin nicht allein. Taissa hat mich nicht verlassen und ist noch immer meine Freundin. Warum habe ich mir darüber überhaupt Gedanken gemacht? Ich sollte nicht gleich denken, dass alle mich verlassen, nur weil ich mal eine Weile allein sein muss. Dieses Misstrauen zerstört am Ende nur diese Freundschaft. Ich muss Taissa vertrauen. Sie hätte auch keinen Grund, mich einfach allein zu lassen. Immerhin braucht sie genauso sehr wie ich einen Freund in ihrem Leben.
»Kein Problem«, winke ich ab. »Hauptsache du bist hier. Das ist alles, was gerade zählt. Da brauche ich nicht mal wirklich einen Kuchen.«
Irgendetwas an Taissas Gesichtsausdruck sagt mir, dass sie genau mit diesen Worten gerechnet hat. »Vielleicht, ja. Aber ich wollte, dass heute alles möglichst gut ist. Gerade weil es deine erste richtige Geburtstagsparty seit Jahren ist. Deshalb habe ich Moriah gefragt, ob sie einen Kuchen backen könnte. Sie hat es ein wenig übertrieben, aber sie meinte, dass sie das gern für ihren liebsten Stammkunden gemacht hat.«
Das Mädchen öffnet die Tüte neben sich und bringt so eine recht große Schachtel zum Vorschein, die es mir reicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Deswegen nehme ich die Schachtel entgegen und öffne diese. Wärme schlägt mir entgegen und lässt auch die letzte Erinnerung an die düstere Kälte zuvor verschwinden. Ich bin so gerührt. Moriah hat nicht nur einen einfach Schokoladenkuchen gebacken, sondern auch noch mit weißer Creme verziert. »Alles Gute zum Geburtstag, Evan« steht da in kursiven Buchstaben geschrieben. Ich hätte nicht gedacht, dass sich jemals jemand so viel Mühe geben würde, um mir eine Freude zu machen. Wieder fehlen mir die Worte. Am liebsten würde ich Moriah gerade umarmen und mich tausendmal bei ihr bedanken. Allein dieser Kuchen ist mehr, als ich erwartet habe. Ich bin so gerührt, dass ich einen Kloß im Hals habe.
»Danke«, bringe ich gerade so heraus. Ich fühle mich den Tränen nahe. Doch heute will ich nicht weinen. Allein schon, weil ich Taissa damit nicht vergraulen möchte.
»Du musst dich nicht bedanken. Es ist dein Tag. Und Moriah dachte, dass du vielleicht mal was anderes möchtest als immer nur Käsekuchen. Sie hat mir auch zwei Thermosflaschen mit heißer Schokolade und Tassen mitgegeben, damit wir was Warmes haben. Ich musste ihr aber versprechen, morgen vorbeizukommen, um alles wieder abzugeben. Du kannst gerne mitkommen und dich bedanken, wenn du das unbedingt willst. Aber jetzt lass uns erst mal essen. Dann gebe ich dir mein Geschenk.«
Ich nicke nur. Mehr kann ich auch gerade nicht tun, so leer wie mein Kopf ist. Taissa hat auch nichts mehr zu sagen, deshalb herrscht beim Essen auch erst einmal eine angenehme Stille. Der Kuchen ist köstlich und die heiße Schokolade bringt meine Gedanken wieder zum Fließen. Ich hoffe wirklich, dass Taissa nicht glaubt, ich könnte ihre Mühen nicht wertschätzen. Sie ist immerhin extra noch einmal zum Café gefahren, nur um Moriah in ihren Plan einzuweihen. Ich frage mich wirklich, was Taissa sonst noch geplant hat. Sie scheint so viel hinter meinem Rücken gemacht zu haben. Dabei hätte ich gedacht, dass wir zusammen schon alles fertig geplant hätten.
Auf der einen Seite fühle ich mich etwas hintergangen, auf der anderen Seite bin ich froh darüber, dass dieses Mädchen mich so hat überraschen wollen. Eigentlich habe ich immer gedacht, dass ich Überraschungen nicht sonderlich mag. Doch vielleicht sollte ich generell hinterfragen, was ich zu wissen geglaubt habe.
Taissa hat scheinbar einen wirklich guten Einfluss auf mich. Immerhin hat sie mir heute ein Geschenk gemacht, von dem sie vermutlich nie etwas mitbekommen wird. Damit bin ich schon zufrieden. Sollte ich ihr das sagen? Am Ende denkt Taissa nur, dass sie mir umsonst ein Geschenk gekauft hat. Es würde sie vermutlich ziemlich traurig machen. Deshalb schweige ich lieber und genieße damit weiter die warme Stille zwischen uns.
Doch irgendwann endet auch diese. Wir räumen das Besteck und den halben Kuchen zur Seite, um Platz für Taissas Geschenk zu schaffen. Sie wirkt nervös, als sie ihren Rucksack öffnet und eine recht große, in Geschenkpapier gehüllte Schachtel herausholt. Als es mir diese reicht, lächelt das Mädchen verlegen.
»Es ist ziemlich dumm von mir gewesen, extra nach Geschenkpapier zu suchen, das farblich zur Tischdecke passt, oder?«
Ich erwidere ihr Lächeln. »Gar nicht, nein. Ich fühle mich eher schlecht, dass ich deine Mühen nicht wertschätzen kann, wenn es um Farben geht. Ich wette, das Blau ist echt schön.«
Mein Gegenüber wirkt nicht sonderlich überzeugt, doch darum kann ich mich in diesem Moment nicht kümmern. Die Neugier bringt mich förmlich um. Deshalb will ich auch nicht länger warten zu sehen, was Taissa vorbereitet hat.
So vorsichtig wie nur möglich zerreiße ich das Geschenkpapier und öffne die Schachtel. Ein Buch liegt darin. Zumindest würde ich den Gegenstand am ehesten so beschreiben. Es ist nicht direkt gebunden, aber doch hängen alle Seiten zusammen. Taissa hat wohl versucht, selbst den Einband zu binden. Das würde erklären, warum die einzelnen Seiten zumindest mit Nadel und Faden zusammengenäht worden sind. Ich bin erstaunt, wie gut dieses selbst gemachte Buch zusammenhält.
Taissa scheint nicht zu entgehen, wie fasziniert ich von der ganz eigenen Bindung des Buches bin. »Ich hatte keine Zeit mehr, mein Geschenk richtig binden zu lassen. Vielleicht kann man das noch nachholen, wenn du willst. Ich hoffe, es gefällt dir.«
Ich nicke wieder nur und wende mich dann endlich dem Geschenk an sich zu. Der Titel kommt mir bekannt vor. Ich brauche trotzdem einige Momente, ehe ich verstehe, was ich mir hier eigentlich ansehe.
»Du hast meine Geschichte gezeichnet?«, frage ich etwas plump. Mir fehlen die Worte. Ich bin viel zu fasziniert davon, das, was ich einfach aus einer dummen Idee hinaus aufgeschrieben habe, nun direkt vor mir zu sehen.
»Ja, ich habe es zumindest versucht.« Taissa klingt verlegen. Ich kann sie nicht ansehen. Stattdessen schaue ich mir jedes einzelne Bild genau an. Ich weiß nicht, was genau ich sagen oder auch nur fühlen soll.
Taissa hat sich so viel Mühe geben. Ein einfaches Dankeschön reicht da bei Weitem nicht. Wie soll ich nur ausdrücken, dass ich unglaublich begeistert von diesem Geschenk bin? Es ist zu viel. Worte reichen da nicht aus. Ich fühle mich wieder den Tränen nahe. Womit habe ich das alles nur verdient? Ich kann das niemals zurückgeben. Und doch könnte ich gerade nicht erleichterter darüber sein, dass ich mit Taissa befreundet bin. Ohne sie wäre das hier ein Tag wie jeder andere. Nur dieses Mädchen macht ihn zu etwas Besonderem.
»Deine Geschichte hat mich so begeistert, dass ich dachte, dass ich versuchen will, dich sehen zu lassen, was ich beim Lesen gefühlt habe«, versucht sich Taissa zu rechtfertigen. »Zumindest so in etwa. Wenn du irgendeinen Fehler findest-«
Ich lasse sie gar nicht erst aussprechen. Ohne wirklich darüber nachzudenken, lege ich mein Geschenk zur Seite und umarme Taissa. »Es ist perfekt. Danke.«
Meine Stimme bricht weg. Die Tränen kann ich nun nicht mehr zurückhalten. Was ist nur heute los mit mir? Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint. Warum gerade heute? Ich schiebe es auf das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Mein Herz pocht wie verrückt. Heute ist wirklich ein besonderer Tag.
»Nicht weinen, Evan«, versucht Taissa mich zu beruhigen. »Das war auch noch nicht alles, was ich dir schenken möchte.«
Sofort löse ich mich wieder von dem Mädchen, das meine Umarmung etwas steif erwidert hat, wische mir über die Augen und schaute es dann überrascht an. »Noch mehr? Aber allein deine Bilder sind schon viel mehr, als ich jemals erwartet hätte. Danke. Ich liebe jedes Einzelne davon. Ich hätte nie gedacht, dass jemandem meine dummen Geschichten so gut gefallen könnten.«
Ich klinge so weinerlich, dass ich mich schäme. Doch eigentlich ist es mir egal. Ich bin lange genug stark gewesen. Jetzt ist es Zeit, ehrlich zu mir selbst zu sein und endlich wieder etwas zu fühlen.
»Ich habe ein Gedicht geschrieben«, übergeht Taissa mein Jammern einfach. »Ich weiß, dass es an dein Talent ganz sicher nicht rankommen wird, aber ich habe mein Bestes gegeben. Du hast mir gezeigt, dass Worte etwas bedeuten können. Da wollte ich mich auch mal am Schreiben versuchen.«
Sie reicht mir ein einzelnes Blatt Papier. Es wirkt so leer gegen die Bilder, die ich mir eben noch angesehen habe. Dennoch rühren mich die Worte, die Taissa da geschrieben hat. Allein beim Lesen habe ich das Gefühl, einen kurzen Einblick in ihre Seele bekommen zu können.
»Du hast mindestens genauso viel Talent wie ich«, fange ich an, während ich meinen Blick wieder Taissa zuwende. »Doch ich glaube, dem Gedicht fehlt noch etwas.«
Das Mädchen schaut mich überrascht und fast schon verletzt an. »Was denn genau?«
Ich gehe kurz hinüber, schnappe mir meinen eigenen Rucksack und suche darin nach einem Stift. Dann wende ich mich wieder dem Gedicht zu und tue das, was Taissa zuvor mit meiner Kurzgeschichte getan hat. Ich will ihr zeigen, was ich beim Lesen fühle. Deshalb versuche ich meine Gedanken zum ersten Mal in kleine Bilder umzusetzen. Es ist anstrengend und frustrierend, weil meine Kritzeleien unbeholfen sind und nicht aussehen, wie ich sie mir eigentlich vorgestellt habe, doch irgendwie macht es dennoch Spaß, ein wenig zu zeichnen. Vielleicht sollte ich das öfter machen. Dann werde ich sicher auch irgendwann besser.
»Jetzt ist es perfekt«, sind die Worte, mit denen ich meine Arbeit schließlich beende. Taissa, die mir die ganze Zeit über zugeschaut hat, nickt. »Das ist es, ja.«
Dann herrscht wieder Schweigen. Keiner von uns weiß so recht, was er sagen soll. Wir wollen diesen Moment nicht mit Worten zerstören. Es kommt mir immer noch seltsam vor, dass wir so sehr auf einer Wellenlänge sind, obwohl wir am Anfang vollkommen unterschiedliche Menschen gewesen sind. Damit wäre wohl bewiesen, dass Gegensätze sich wirklich magisch anziehen. Und es ist auch nicht so unwahrscheinlich, dass man in Unterschieden Gemeinsamkeiten finden kann.
»Hast du Lust auf etwas Musik?«, unterbricht Taissa das Schweigen.
Fast schon erleichtert nicke ich. »Was wäre eine gelungene Geburtstagsparty ohne Musik?«
Damit vergessen wir beide die etwas seltsame Stimmung, die eben noch geherrscht hat und sind mit dem ersten Ton aus Taissas Musikbox nur noch ausgelassen, wie man es an so einem Tag sein sollte.
Erst als es wieder dunkel wird, verfliegt die Ausgelassenheit langsam. Wir sind beide müde, doch nach Hause zu gehen kommt für keinen von uns infrage. Deshalb entschließen wir uns, eine weitere Nacht im Baumhaus zu verbringen. Während ich meine Geschenke sicher im Rucksack verstaue, räumt Taissa den Tisch ab. Den Kuchen, die Tassen und das Besteck räumt sie wieder in die Tasse, die sie zur Seite stellt. Um den Rest, also das Konfetti, die Tischdekoration und die Lichterketten, wollen wir uns morgen kümmern.
Ich fühle mich gut, als ich neben Taissa auf unserem provisorischen Bett liege. Trotz meiner Müdigkeit habe ich noch nicht das Gefühl, schlafen gehen zu müssen. Lieber schaue ich hoch zur Decke und hänge meinen Gedanken nach. Ich kann sie selbst nicht greifen, aber ich bin zufrieden. Mehr muss ich nicht wissen.
»Wie fühlt es sich eigentlich an, jetzt volljährig zu sein?«, fragt Taissa leise.
Ich zucke mit den Schultern, obwohl sie das wohl kaum wird sehen können. »Nicht anders als vorher, irgendwie. Ich ändere mich ja nicht nur weil ich ein Jahr älter bin. Eigentlich bin ich ja jetzt sogar schon neunzehn.«
»Wie kommst du darauf?«
Irgendwas an Taissas Tonfall bringt mich zum Lächeln. »In Korea ist man, sobald man geboren wird, bereits ein Jahr alt. Außerdem funktionieren Geburtstage da ein wenig anders. Alles hängt von Seollal, dem koreanischen Neujahr, ab. Da werden wir nämlich alle offiziell älter. Wenn man also vor Seollal geboren wurde, ist man im Prinzip schon vor dem richtigen ersten Geburtstag zwei Jahre alt. Ist etwas kompliziert, ich weiß. Vergiss es am besten wieder.«
Für einen Moment ist wieder alles still. Vermutlich versucht Taissa gerade zu verstehen, warum ich das erzählt habe. Wen interessieren schon koreanische Traditionen? Ich sollte nicht so seltsam sein. Es fühlt sich an, als würde ich genauso in einer komischen Parallelwelt feststecken, wie meine Mutter es tut. Ich will das nicht. Warum kann ich mich nicht auf das Hier und Jetzt konzentrieren?
»Taissa?«, frage ich leise, um mich zu vergewissern, dass sie noch wach ist.
»Ja?«, bekomme ich als Antwort. Das Mädchen klingt so, als wäre sie schon im Halbschlaf. Ich sollte mich vermutlich beeilen, das zu sagen, was ich noch auf dem Herzen habe.
»Danke, dass du meine Freundin bist. Das heute war so ziemlich der beste Tag in meinem ganzen Leben. Wir sollten das wiederholen, wenn du Geburtstag hast. Wann ist der eigentlich?«
Ich höre Stoff neben mir rascheln. Erst glaube ich, dass Taissa doch schon eingeschlafen ist, doch als sie antwortet, wirkt sie so viel wacher als zuvor.
»Darüber reden wir morgen, in Ordnung? Heute geht es um dich, nicht um mich. Und wir sollten jetzt wirklich schlafen.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, also schweige ich lieber. Doch selbst als Taissa schon längst eingeschlafen ist, liege ich noch wach da und wundere mich darüber, warum sie so abweisend geklungen hat, nur weil ich nach ihrem Geburtstag gefragt habe.