Jetzt verfluche ich, dass die Zeit mit Evan immer so schnell verfliegt. Wir haben unser Bestes gegeben, das Unvermeidbare zu verdrängen. Ich hätte wirklich gerne noch eine Ewigkeit zusammen mit meinem besten Freund verbracht. Doch der Monat ist jetzt rum. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen und es gibt nichts, was das Ende hinauszögern könnte. Jede Sekunde, die vergeht, fühlt sich wie ein riesiger Verlust an. Doch daran darf ich heute nicht denken. Ich will mir meinen letzten Tag mit Evan nicht davon vermiesen lassen, dass die Zeit auf niemanden warten will.
Der letzte Monat ist wohl die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Nicht einmal, weil wir etwas Besonderes gemacht haben, sondern eher, weil ich endlich Erinnerungen habe, die nicht von Schatten überlagert werden können. Evan und ich sind immer wieder im Park gewesen, haben so ziemlich jede Sehenswürdigkeit dieser Kleinstadt abgeklappert und haben so viel Zeit miteinander verbracht, wie es die Schule und sonstige Banalitäten zugelassen haben. Jeder Tag ist etwas Besonderes gewesen, auch wenn sie in meiner Erinnerung bereits zu einem einzigen verschwimmen.
Mehr denn je habe ich das Gefühl, meinen Seelenverwandten gefunden zu haben. Noch nie hat es sich so gut angefühlt, Zeit mit jemandem zu verbringen. Warum habe ich Evan nicht früher treffen können? Mein Leben wäre vermutlich vollkommen anders verlaufen. Doch vielleicht ist es genau das, was diese Freundschaft so besonders macht. Hätte ich Evan früher getroffen, hätte ich ihn nicht gebraucht, um mich vollständig zu fühlen. Seelen müssen erst verletzt sein, damit etwas kommen kann, das die Wunde zumindest versorgen kann. Diese Freundschaft ist aus Schmerz heraus entstanden. Aber das macht sie nicht schlechter als andere, die sich einfach so bilden.
Ich frage mich, wie unsere Seelensplitter aussehen müssen. Vermutlich sind sie ziemlich dunkel und sind wie Spiegel, die nur reflektieren, damit niemand ihr Innerstes sehen kann. Irgendwie deprimiert mich dieser Gedanke. Weder Evan noch ich haben andere Menschen wirklich an uns herangelassen und sind so einsam geworden, dass wir jetzt wissen, wie viel wir durch unsere eigene Schwäche verpasst haben. Aber es ist wohl gut, dass wir es jetzt eingesehen haben. So spät diese Erkenntnis auch gekommen sein mag.
Nur eine Sache hat sich innerhalb dieses letzten Monats nicht geändert. Evan geht es immer schlechter, doch noch immer hat er seinen Eltern nicht gesagt, dass es so ist. Wie sie es nicht selbst merken können, verstehe ich nicht. Klar, sie sind nicht oft zu Hause, demzufolge, was Evan mir erzählt hat, aber trotzdem sollte es doch klar sein, wie erschöpft ihr Sohn mittlerweile ist. Jetzt, wo der Frühling Einzug hält, wirkt Evan so blass und zerbrechlich, dass er noch im Winter festzustecken scheint.
Er ist immer öfter abwesend. Selbst den Lehrern fällt es schon auf, doch sie sagen nichts. Ihnen ist es vermutlich egal. Auch ist dem Jungen häufig so schlecht, dass er nichts isst. Und wenn er isst, ist ihm so übel, dass er sich übergeben muss. Evan sagt, es liegt daran, dass sein Hirn verwirrt ist. Das ist fast alles, was er mittlerweile sagt. Es wirkt fast, als hätte Evan sich selbst aufzugeben. Der Tumor wird dadurch nur noch mächtiger und Evan verfällt von Sekunde zu Sekunde mehr. Deshalb trauere ich vermutlich auch der Zeit so hinterher. Ich habe das Gefühl, dass alles viel zu schnell geht. Weil Evan keine Hoffnung mehr hat. Und ich bin so schlecht im Aufmuntern, dass ich nur hilflos dabei zusehen kann, wie es meinem Freund immer schlechter geht.
Doch ich will daran nicht mehr denken müssen. Heute ist der letzte Tag, an dem wir frei sein können. Das Chaos kann bis morgen warten. Ich muss aufhören, mir Sorgen zu machen, bevor überhaupt etwas passiert ist. Evan hat mir versprechen müssen Bescheid zu sagen, sollte es ihm nicht gut gehen. Dabei weiß ich genau, dass ihm dieser letzte gemeinsame Tag fast mehr bedeutet als mir. Der Junge redet nicht viel darüber, doch ich sehe ihm an, dass er glaubt, nicht mehr lange durchzuhalten. Heute muss er diesen Gedanken vergessen. Oder sich ihm zumindest stellen, ohne sich runterziehen zu lassen. Ich will Evan dabei helfen. So wie er mir geholfen hat, mich weiterzuentwickeln.
Deshalb haben wir abgemacht, keine Zeit verschwenden zu wollen. Es ist mitten in der Nacht, trotzdem bin ich hellwach. Ich traue mich nur nicht, das Licht anzumachen. Es ist manchmal schon vorgekommen, dass meine Eltern dieses nachts gesehen haben, wenn ich wieder einmal nicht habe Schlafen können, und dann ins Zimmer gekommen sind. Heute sollen sie sich jedoch keine Sorgen um mich machen. Mir geht es gut. Deshalb sitze ich vollkommen still und bereits fertig für den Tag auf meinem Bett und starre in die Dunkelheit, ohne wirklich etwas zu sehen. Ich warte und komme mir so seltsam dabei vor. Schlaf ist ein Konzept, das keine Bedeutung mehr hat. Denken scheint aber ebenso sinnlos. Doch ich kann nicht nicht denken.
Wie schön es doch wäre, sein Hirn einfach ausschalten zu können, wenn man nicht denken will. Ob es Leute gibt, die das können? Ich weiß nicht einmal, ob ich diese Fähigkeit auf Dauer haben möchte. Klingt irgendwie nicht sonderlich vorteilhaft, wenn man plötzlich aufhört zu denken. Was wäre, wenn man dann vergisst, wie man sein Hirn wieder einschaltet? Dann müsste man für immer vollkommen leer sein. Ich könnte das nicht. Nur ein wenig weniger denken wäre schön. Damit ich nicht ständig Kopfschmerzen kriege und Angst haben muss, dass ich auf der Gedankenspirale nach unten rutsche, bis ich mir nicht mehr selbst helfen kann.
Ein schrilles, fast schon metallisch klingendes Klopfen an meinem Fenster lenkt meine Aufmerksamkeit weg von diesen sinnlosen Gedanken. Ich zucke nicht einmal zusammen. Immerhin habe ich genau darauf gewartet. Das ist das Zeichen, von dem Evan gesprochen hat. Deshalb muss ich auch nicht überlegen, ehe ich von meinem Bett aufstehe, zum Fenster gehe und dieses öffne. So ist es abgesprochen gewesen. Evan ist so zuverlässig.
Es fühlt sich seltsam an, ihn da unten stehen zu sehen. Kurz kommt mir das Bild eines heldenhaften Prinzen in den Sinn, der die Prinzessin aus ihrem turmhohen Gefängnis rettet. Doch schnell schiebe ich diesen Gedanken zur Seite. Ich will mich nicht fühlen, als wäre ich eingesperrt oder so hilflos, dass ich gerettet werden müsste.
Jetzt gebe ich Evan das Zeichen, dass er um das Haus herumgehen und dort vor der Tür warten soll. Er scheint meine etwas wirren Gesten zu verstehen und ist im nächsten Moment schon aus meinem Sichtfeld verschwunden. Kurz schaue ich noch nach, ob die Kieselsteine, die Evan geworfen hat, irgendwelche Spuren an meinem Fenster hinterlassen haben, ehe ich dieses schließe. Dann schleiche ich mich aus meinem Zimmer und leise zur Tür hin, um diese für meinen nächtlichen Besucher zu öffnen. Ich hasse es, dass diese Tür so schwer aufzuschließen ist und manchmal klemmt, wenn man sie öffnen will. Wie alt ist dieses Haus eigentlich? Ich hoffe einfach, dass heute alles nach Plan läuft. Die Tür hat das letzte Mal, dass ich Evan reinlassen musste, auch nicht gestreikt.
Das Glück ist auf unserer Seite. Ohne Probleme kann ich die Tür öffnen und meinen besten Freund ins Haus lassen. Er zittert. Es tut mir leid, dass er da draußen in der Kälte hat warten müssen. Doch der Junge scheint mir nicht böse zu sein. Stattdessen verschwendet er keine Zeit mit Worten und schleicht an mir vorbei in mein Zimmer. Ich folge ihm. Wie ich es immer tue. Evan scheint die verstreichende Zeit genauso sehr zu spüren wie ich. Vielleicht sogar ein bisschen mehr, so sehr, wie er leiden muss. Ich sehe ihm an, dass es ihm nicht sonderlich besser als sonst geht. Doch Evan will sich vermutlich zusammenreißen. Weil heute eben ein besonderer Tag ist.
Der Junge spricht das erste Mal, als wir in meinem Zimmer angekommen sind. »Kommt es nur mir so vor, oder ist die Welt irgendwie kälter geworden?«
Evans Stimme zittert ebenso sehr wie sein Körper. Obwohl man nicht einmal wirklich sagen kann, dass ich das höre, so leise, wie er spricht. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob er mit mir spricht. Deshalb antworte ich auch nicht direkt darauf. Wie sollte ich auch, so viele Sorgen wie gerade wieder auf mich einströmen. Natürlich ist die Welt kälter, wenn man so dünn und erschöpft ist wie Evan. Doch ich will das nicht sagen. Es würde mein Gegenüber nur verletzen.
»Wir sollten etwas essen, bevor wir gehen«, breche ich irgendwann das Schweigen, als es mir zu viel wird.
Evan wirkt nicht sonderlich begeistert von dieser Idee. »Du weißt doch genau, wie das enden wird.«
»Schon, ja«, antworte ich im Flüsterton. »Das ist aber kein Grund, nicht mehr zu essen. Du vereinfachst dem Tumor nur die Arbeit, wenn du dich so selbst schwächst. Lass mich dir etwas zu Essen bringen, okay? Ich lasse dich sicher nicht einfach verhungern.«
Mein Gegenüber lächelt etwas müde. »In Ordnung. Du hast ja recht.«
Es tut mir weh, wie erschöpft Evan ist. Warum kann ich nichts tun, um ihm wirklich zu helfen? Vermutlich wäre ich ein guter Freund, wenn ich meine Bedürfnisse jetzt hintanstellen und den Jungen überreden würde, ins Krankenhaus zu gehen. Dort kann man ihm helfen. Doch irgendetwas sagt mir, dass Evan sich dann erst recht selbst aufgeben würde. Er würde sich verraten fühlen, wenn ich das täte. Deshalb muss ich wohl weiterhin ein stummer Zuschauer sein, während mein Freund sich immer weiter von sich selbst entfernt.
»Setz dich, bin gleich wieder da«, weise ich ihn an, als ich merke, dass ihm wieder schwindelig wird.
Von selbst setzt sich Evan nie. Als würde er sich nicht erlauben, Schwäche zu zeigen. Ich hätte gedacht, dass er sich mittlerweile bei mir fallen lassen kann. Stattdessen baut er wieder seine Mauer auf und versteckt sich hinter dieser, anstatt zuzulassen, dass andere sehen, wie sehr er leidet. Es stört mich so sehr, dass ich nicht mehr zu Evan durchdringen kann. Vielleicht ist es ganz gut, dass heute der letzte gemeinsame Tag ist. Ich habe eh schon das Gefühl, meinen Freund verloren zu haben.
Wir sind am Tiefpunkt angekommen. Trotzdem will ich die Hoffnung nicht aufgeben. Ich brauche etwas, um zumindest zum Teil loslassen zu können. Vielleicht gelingt mir das heute, wenn ich den ganzen Tag mit Evan verbringe. Sein Verfall tut zu sehr weh, um lange zu bleiben. Ich habe nur das Gefühl, von seiner Negativität angesteckt zu werden. Sonst wäre mein Kopf nicht schon wieder so laut, wenn ich daran denke, dass ich Evan gerade an die Dunkelheit verliere.
Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, konzentriere ich mich darauf, so leise wie nur möglich in die Küche zu schleichen. Ich bin froh, dass sich meine Augen mittlerweile so sehr an die Dunkelheit gewöhnt haben, dass ich keine Probleme habe, allem auszuweichen, was auch nur den leisesten Laut von sich geben könnte, würde ich dagegen stoßen. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich Schuldgefühle, Evan allein in dieser Finsternis zurückgelassen zu haben, in der er so verloren wirkt. Doch dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich ihm nur helfen will. Heute müssen wir beide stark sein.
Für mehr als zwei Sandwiches für jeden von uns reicht heute meine Geduld nicht aus. Es kommt mir wieder vor, als würde ich kostbare Zeit verschwenden. Ich will zurück zu Evan. Was er wohl von mir denkt, dass ich ihn warten lasse, obwohl wir beide wissen, dass er nicht viel essen können wird? Vermutlich hält mein bester Freund mich für einen Feigling, dass ich mich der traurigen Realität immer noch nicht stellen möchte. Doch was ist falsch daran, zumindest für diesen kurzen Augenblick in einer Traumwelt leben zu wollen? Ich wache schon noch früh genug auf, da kann ich mir noch ein wenig länger einreden, dem Menschen helfen zu können, dem ich buchstäblich mein Leben verdanke.
Zurück in meinem Zimmer kommt es so, wie schon erwartet. Evan isst zwar mir zuliebe, aber es dauert kaum fünf Minuten, da kommen ihm die wenigen Bissen schon wieder hoch. Ich habe kaum die Zeit gehabt, ihm den kleinen Mülleimer zu reichen, der für solche Fälle immer in Reichweite steht. Während Evan sich übergibt, wende ich beschämt den Blick ab. Ich will meinem besten Freund nicht beim Leiden zusehen. Es macht meine kleine Traumwelt nur kaputt. Der Gestank kümmert mich dagegen weniger. Hätte ich gesagt, dass ich bereits an ihn gewöhnt bin, wäre es zwar die Wahrheit gewesen, doch für diese bin ich noch längst nicht bereit. Heute soll ein guter Tag werden.
Deshalb ringe ich mich auch zu einem aufmunternden Lächeln durch, als Evan sich wieder aufrichtet und den Mülleimer zur Seite stellt. Mein Gegenüber schaut mich kurz an, ehe er meinem Blick ausweicht und leise seufzt.
»Tut mir leid.«
Als Evan Anstalten machen will, den Mülleimer wieder an sich zu nehmen, um ihn vermutlich sauber zu machen, hindere ich ihn daran.
»Lass nur. Dafür ist später noch Zeit.«
Mein Gegenüber sagt nichts, doch er schaut mich an, als wüsste er genau, dass das eine Lüge ist. Und dass ich einfach nicht will, dass er in diesem Moment, in dem er noch schwächer und dünner wirkt als jemals zuvor, aufsteht, um so etwas Nutzloses zu tun. Doch um meinen besten Freund auch nicht weiter in seiner Schande baden zu lassen, nehme ich den Mülleimer, ignoriere einfach weiterhin den Gestank und den aufkommenden Ekel und stelle ihn so dicht ans Fenster wie nur möglich. Dieses öffne ich und fröstle, als mich ein Schwall kalter Nachtluft umfängt. Jetzt nach draußen zu gehen, fühlt sich plötzlich nach reinem Wahnsinn an. Doch gleichzeitig kommt mir mein Zimmer wie eine Gefängniszelle vor. Ich ersticke fast an all der Negativität, die hier drin herrscht und von Sekunde zu Sekunde mehr zu werden scheint. Wir müssen hier raus.
Deshalb greife ich nach meiner Lunchbox, die ich ebenfalls sicherheitshalber heute mal im Zimmer deponiert hatte, stopfe die Reste unseres kargen Frühstücks hinein und verstaue diese kleine Schande in meinem Rucksack. Mir fällt auf, dass ich so beschäftigt damit gewesen bin, mich um Evan zu sorgen, dass ich selbst nichts gegessen habe. Doch das kümmert mich jetzt nicht weiter. Fürs Essen habe ich später noch Zeit.
»Vielleicht kriegen wir ja später Hunger«, rede ich mich etwas lahm heraus, als ich wieder den verletzend skeptischen Blick meines Gegenübers auf mir lasten spüre. Doch immerhin schweigt Evan, anstatt mir noch zu widersprechen. Ich hätte ihm vermutlich nicht standhalten können.
Der Junge scheint begriffen zu haben, was ich vorhabe. Als er aufstehen will, helfe ich ihm. Allein hätte er zu lange gebraucht, so sehr wie er zittert. Ich lasse meinen Freund auch nicht los, als er schon längst auf den Beinen ist und sein Gleichgewicht wiedergefunden hat. Er scheint mir auch insgeheim dankbar für diese Geste zu sein, auch wenn er sich die Worte spart. Evan hat endlich verstanden, dass er bei mir nicht stark sein muss, wenn es ihn nur noch schwächer macht.
Als wir zusammen das Zimmer verlassen, werfe ich noch einen kurzen, fast schon verstohlenen Blick auf die Notiz, die ich gestern Abend auf meinem Schreibtisch abgelegt habe. Ich hoffe, dass meine Eltern diese finden werden und dass sie alle Fragen beantwortet, die sie sich im ersten Moment vielleicht stellen. Sie sollen sich keine Sorgen um mich machen. Heute ist ein Tag, an dem nichts schieflaufen kann. Weil ich das einfach nicht zulassen werde.
Wir haben uns dazu entschieden, heute keine Erinnerungen mehr zu sammeln. Es hätte nur das zerstört, was unseren letzten Tag ausmacht. Stattdessen haben wir uns einfach nur zwei Zugtickets gekauft und fahren jetzt ins Blaue hinein. Wir schweigen, doch es fühlt sich nicht an, als müsste jemand etwas sagen. Stattdessen lassen wir die Welt für eine Weile einfach an uns vorbeiziehen. Am Morgen ist der Waggon, in dem wir sitzen, noch überfüllt, doch mit jedem Mal, das wir an der Endstation ankommen und wahllos in den nächsten Zug steigen, leert sich dieser Mikrokosmos.
Es muss schon später Nachmittag sein, als wir schließlich ganz allein sind. Es wundert mich etwas, dass gerade jetzt niemand unterwegs zu sein scheint. Doch vielleicht ist das auch so etwas wie ein Wink des Schicksals. Oder einfach ein dummer Zufall, wie so vieles in meinem Leben, was mich zu diesem einen Tag geführt hat.
Ich bin auf eine seltsame Art zufrieden. Während ich hier neben Evan sitze, habe ich nicht mehr das Gefühl, einfach nur Zeit zu verschwenden. Mir wird klar, dass ich das Unabwendbare nicht aufhalten kann und stattdessen die Zeit genießen sollte, die uns noch bleibt. Selbst wenn das eben schweigend geschieht. Ich bin bei meinem besten Freund und weiß, dass er für den Augenblick in Sicherheit ist. Was sollte ich mehr wollen?
Ich frage mich nicht einmal, worüber er gerade nachdenkt, sondern hoffe einfach, dass er so zufrieden ist wie ich. Endlich habe ich das Gefühl, loslassen zu können. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich gerade nicht wirklich nachdenke. Ich habe zwar Gedanken, doch sie verfliegen genauso schnell wie die Menschen, die über den Tag an mir vorbeigezogen sind. Ich kann mich weder an die einen noch die anderen im Detail erinnern. Warum sollte ich auch? Zum ersten Mal in meinem Leben lebe ich für den Moment. Warum sollte ich mir das von ein bisschen sinnlosem Grübeln kaputtmachen lassen?
Ich sehe der Sonne beim Scheinen und der Welt beim Vorbeiziehen zu. Alles ist so schnelllebig und doch fühle ich mich nicht im Geringsten überfordert davon. Immerhin sitzt meine einzige Konstante direkt neben mir. Wäre es mir nicht peinlich gewesen, hätte ich wohl Evans Hand genommen. Einfach um ihm noch ein wenig näher sein zu können und um mich zu vergewissern, dass er noch bei mir und nicht schon meilenweit weg in der Dunkelheit ist. Doch es reicht nur ein kurzer Blick zur Seite, um sicher zu sein, dass mein Begleiter das Licht genauso sehr genießt wie ich. Selbst wenn es für ihn nur farblose Helligkeit sein muss, ist ihm vielleicht wenigstens warm, wo ihm doch sonst immer so kalt ist.
Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Sonne sich schlafen legen wird. Da beschleicht mich wieder diese Angst vor dem Ende, der ich mich jetzt jedoch stelle, anstatt nur vor ihr weglaufen zu wollen.
»Wir sollten uns wohl langsam auf den Rückweg machen«, breche ich die Stille. Meine Worte sind kaum laut genug, um gegen das Rumpeln des fahrenden Zuges anzukommen. Trotzdem habe ich das Gefühl, an jedem Wort ersticken zu müssen, so sehr schmerzen sie beim Aussprechen.
Als auf diese zunächst nur wieder Schweigen antwortet, habe ich kurz Angst, Evan hätte mich gar nicht gehört.
»Und wenn wir einfach weiterfahren?«
Überrascht wende ich meinen Blick Evan zu. Doch er erwidert diesen nicht. Stattdessen schaut er weiter aus dem Fenster, als würde er jeden Moment in sich aufsaugen wollen.
Ich muss nichts erwidern, um meinen Begleiter zum Weitersprechen zu bewegen. »Ich weiß, es ist verrückt, aber ich will nicht, dass dieser Augenblick endet. Lass uns zusammen abhauen. Was hält uns hier? Es hat vermutlich nicht einmal wer mitbekommen, dass wir heute die Schule geschwänzt haben. Wir bedeuten der Welt nichts. Warum sollte sie also das Recht haben, uns zu trennen? Wenn wir jetzt einfach nicht umkehren, können wir für immer Freunde bleiben. Klar, du sagst, dass wir das auch noch nach dem Umzug sind, aber du weißt genauso gut wie ich, dass das gelogen ist. Es wird nie wieder dasselbe sein. Selbst wenn ich nicht mehr genug Zeit habe, dass du mich vergessen kannst, will ich nicht, dass es endet. Ich war lange genug allein. Jetzt lasse ich nicht zu, dass man mir meinen einzigen Freund so kurz vor dem Ende noch wegnimmt.«
Nun sieht Evan mich doch an. Doch ich erkenne ihn nicht wieder. Die Angst steht diesem Fremden ins Gesicht geschrieben, genauso wie der verzweifelte Wille, an Vergangenem festhalten zu wollen. Mein Freund, der selbst in Momenten der Schwäche immer so stark gewesen ist, als würde er so viel von der Welt wissen, dass sie ihm keine Angst mehr machen kann, ist gänzlich verschwunden. Deshalb lässt er mich auch nicht erst an eine Antwort denken, bevor Evan weiter auf mich einredet.
»Ich weiß, das Ausreißerleben ist hart und vermutlich werden wir irgendwann bereuen, diese Entscheidung getroffen zu haben. Doch wir wären frei und so viel mehr als nur die Freaks, die niemand wirklich beachten will. Es würde trotzdem nur wenig Zeit bleiben, aber wenn ich gehe, fühlt es sich wenigstens nicht an, als würde ich irgendetwas mittendrin einfach abbrechen müssen. Für den Moment könnten wir noch zusammen sein und lernen, wie wir mit dieser Welt fertig werden können. Wer weiß, vielleicht geht es mir irgendwann sogar wieder besser. Du warst bisher mein Heilmittel, Taissa. Ohne dich wird es nur schlimmer werden. Zusammen können wir ganz sein, warum also wieder alles zerbrechen lassen? Vielleicht wartet da draußen ein normales Leben auf uns und irgendwann lachen wir über das, was uns jetzt zum Weinen bringt.«
Jetzt nehme ich doch Evans Hand und drücke sie kurz. Hoffnung glimmt in seinen Augen auf. Ich bringe es kaum noch übers Herz, ihn anzusehen.
»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.«
Für den Bruchteil einer Sekunde scheint mein Gegenüber nicht ganz zu begreifen, was ich meine, ehe ich sehen kann, wie ihm das Herz bricht. Es tut mir so weh, Evan so sehen zu müssen. Doch es kommt mir vor, als müsste ich jetzt die Stimme der Vernunft sein.
»Selbst, wenn wir weglaufen, wo sollen wir hin? Nur weil wir aus dieser Stadt flüchten, lösen sich nicht alle Probleme in Luft auf. Man würde nach uns suchen und vermutlich auch irgendwann finden und zurück nach Hause bringen. Es wäre nur ein Herauszögern von dem, was scheinbar passieren soll. Es tut mir leid, Evan. Aber nur hier kann dir richtig geholfen werden. Für deine Behandlung bräuchten wir Geld, das wir beide nicht haben. Es wäre dumm, vor deiner echten Chance auf Heilung wegzulaufen. Da draußen wäre ich noch mehr schuld an deinem Tod als ohnehin schon. Ich will dir nicht beim Leiden zusehen. Dafür bedeutest du mir zu viel. Und du wirst nicht allein sein. Das verspreche ich dir. Stell dir doch einfach vor, dass wir irgendwann wieder zusammen sein können. Bis dahin kannst du dich aufs Gesundwerden konzentrieren. Dann können wir zusammen in das Leben starten, dass du dir jetzt wünschst.«
Darauf erhalte ich keine Antwort mehr. Evan wendet seinen Blick wieder von mir ab und ich muss nicht einmal genauer hinsehen, um zu wissen, wie verletzt und enttäuscht er ist. Doch tief in seinem Inneren scheint er zu wissen, dass ich recht habe. Denn über den Rest der Fahrt lässt der Junge meine Hand nicht los. Selbst dann nicht, als ich ihn aus dem Zug ziehe und versuche, den Rückweg zu finden.
Ich habe keine Ahnung, wo wir gerade sind. Doch ich bin noch immer von dieser tiefen Zufriedenheit erfüllt, sodass für die Angst kein Platz mehr bleibt. Ich bin froh, dass Evan mir sein stummes Einverständnis gegeben hat. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, gegen die Verzweiflung in seinen Augen anzukämpfen, wäre diese nicht augenblicklich verloschen. Dieser Junge scheint mir wirklich zu vertrauen. Deshalb ist mir auch egal, was die Leute denken, die uns sehen, wie wir Händchen halten und versuchen, unseren Weg nach Hause zu finden. Sie haben uns eh im nächsten Moment wieder vergessen.
Es ist bereits dunkel, als wir schließlich vor meiner Haustür sehen. Ich habe etwas Angst, Evan jetzt allein zu lassen. Doch wenn ich ihn anschaue, sehe ich, dass meine Worte eine Wirkung gehabt haben. Er will kämpfen. Zumindest für eine Weile. Doch das reicht schon, um mir wenigstens jetzt die Sorgen zu nehmen.
Niemand sagt etwas. Worte hätten diesen Abschied nur noch schwieriger gemacht. Vermutlich hat keiner von beiden bis jetzt wahrhaben wollen, dass es heute wirklich das letzte Mal ist, dass wir uns für eine ganze Weile sehen werden. Doch auch Angst oder der Versuch, alles noch einmal in die Länge zu ziehen, hätte nur alles zerstört, was dieser letzte Tag uns gelehrt hat.
So ziehe ich Evan einfach nur kurz zu mir hinunter und hauche ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Er ist überrascht davon, doch bricht das Schweigen nicht. Stattdessen lächeln wir beide, bevor er sich umdreht und seiner Wege geht.
Und damit bricht unser Kartenhaus letztendlich in sich zusammen.