Meine Eltern haben es schließlich doch von allein herausgefunden. Spätestens dann, als der erwartete Streit wegen Taissas Bild an meiner Zimmerwand entbrach und ich mittendrin das Bewusstsein verlor. Ich schäme mich immer noch dafür, dass meine Krankheit auf diese Weise ans Licht gekommen ist. Ich hätte es von Anfang an nicht geheim halten sollen. Dann hätte ich selbst entscheiden können, wie meine Eltern auf diese Nachricht reagieren.
Stattdessen behandeln sie mich nun wieder so, als wäre ich schon längst gestorben. Der Schmerz, die Angst und das Mitleid in ihren Augen kotzen mich an, wann immer sie mich ansehen. Ich komme mir wieder so klein und hilflos vor. Und Taissa ist nicht hier, um es mir leichter zu machen. Ich bin wirklich allein, wie ich von Anfang an befürchtet hatte. Der Frühling hat sich verzogen. Zurück ist nur der ewige Winter geblieben, der alles noch dunkler und trister macht, als es ohnehin schon ist.
Ich fühle mich eingesperrt in diesem kahlen und unerträglich farblosen Krankenhauszimmer. Hier ist so viel Weiß, dass ich nicht anders kann, als die Farben zu vermissen, die ich nicht einmal sehen könnte, wenn ich denn wollte. Ich denke und gleichzeitig ist mein Kopf vollkommen leer. Ich hasse es hier. Das habe ich nie gewollt. Doch ich bin nicht mehr wütend auf Taissa oder irgendwen sonst, der vielleicht etwas damit zu tun haben könnte, dass ich jetzt hier sein muss.
Nein, ich bin nur noch wütend auf mich selbst. Denn ich bin es, der nicht stark genug war, den Tumor ein für alle Mal zu besiegen. Jetzt sitze ich hier, lausche dem Piepen der Maschinen um mich herum, ertrage die dumpfen Schmerzen nur noch, anstatt sie zu verdrängen und will nur noch weg. Warum habe ich nicht stärker sein können? Der Tumor ist wohl wirklich mein ältester und gleichzeitig einziger Freund, so allein, wie ich gerade auf dieser viel zu kleinen und trostlosen Welt bin.
Das Schlimmste ist, dass ich nichts mehr von Taissa höre. Ständig schreibe ich ihr, doch ich erhalte nie eine Antwort. Die Tage verstreichen und es ist so still, dass ich das Gefühl habe, den Verstand zu verlieren. Vermutlich hat das Mädchen mich schon vergessen. Wo auch immer sie jetzt ist, ist die Zeit bestimmt nicht so stehen geblieben wie hier, wo ich bin. Taissa lebt ihr Leben weiter und ich bin kein Teil mehr davon. Diese Erkenntnis tut mehr weh als jeglicher Schmerz, der ununterbrochen durch meinen Körper fließt. Wenn ich nicht so leer wäre, würde ich wohl aus dem Weinen nicht mehr herauskommen.
Nie hat es so wehgetan, allein zu sein. Doch letztendlich habe ich wohl das bekommen, was ich wollte. Ich bin vergessen worden. Von dem einzigen Menschen, mit dem ich mir eine Ewigkeit zusammen habe vorstellen können. Warum bin ich nur so dumm gewesen zu glauben, dass Taissa mich nicht verlassen würde? Sie hat doch selbst gesagt, dass sie mich nicht leiden sehen will. Und nichts anderes tue ich mehr.
Ich sterbe leise vor mich hin. An Taissas Stelle wäre ich wohl auch gegangen, wenn ich ehrlich bin. Dass ich bald tot sein werde, ist ein nüchterner Fakt, der andere vermutlich mehr verletzt als mich selbst. Aber gerade das ist es wohl. Man will niemandem beim Sterben zusehen müssen. Deshalb geht man lieber, bevor es zu spät ist und man sich nur Vorwürfe macht, zu lange geblieben zu sein.
Ich kann diesen Gedanken verstehen, doch das macht die Einsamkeit nicht besser. Wenn die Welt doch nur wüsste, wie sehr ich sie für alles hasse, was gerade passiert. Doch mehr bleibt mir ja nicht mehr übrig. Ich kann nur noch warten, bis das Ende kommt. Bis dahin hoffe ich einfach, dass Taissa sich irgendwann wieder meldet. Ich will noch nicht ganz glauben, dass sie mich einfach so vergessen haben soll. Immerhin hat sie mir versprochen, dass wir uns irgendwann wiedersehen. Wenn ich gesund bin. Hat sie etwa schon gewusst, dass das nie passieren wird? Wie hat sie mir nur so falsche Hoffnungen machen können?
Ich komme mir so erbärmlich vor, als ich einen Blick auf mein Handy werfe und mir die ganzen Nachrichten durchlese, die bei Taissa bisher nicht einmal angekommen zu sein scheinen. Wie kann ich so weinerlich klingen, obwohl das doch eigentlich nur nüchterne Worte sein sollten, die da aneinandergereiht werden, um so etwas wie einen Sinn zu ergeben? Ich habe Taissa gesagt, dass meine Eltern es jetzt wissen und dass ich im Krankenhaus bin. Dass ich alles hasse und sie vermisse. Dass es mir nicht gut geht und dass die Ärzte mir einfach nicht sagen wollen, wie lange ich noch habe, obwohl ich selbst weiß, dass es nicht mehr lang sein wird. Ich frage Taissa, wo sie ist, ob sie gut angekommen ist, wie es ihr geht und ob sie mich mal besuchen kommen kann.
Doch besonders bleiben meine Augen an der Nachricht kleben, in der ich davon rede, wie viel Angst ich doch vor dem Sterben habe. Jetzt kommt mir das wie eine Lüge vor. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich wirklich den Wunsch, einfach nur zu verschwinden. Wer sollte mich schon daran hindern? Wenn der Tumor mich nicht umbringen soll, muss ich es wohl oder übel selbst tun.
Der Gedanke gefällt mir nicht. Weil alles wieder so endgültig ist, dass es mich an den Abschied von Taissa erinnert. Auf der anderen Seite weiß ich, dass ich nur auf diese Weise diesen letzten Kampf gewinnen kann. Wenn ich das denn überhaupt will. Immerhin habe ich mir doch eben noch selbst versprochen zu warten. Weil ich die Hoffnung einfach nicht aufgeben kann, so sehr sie mich auch verletzt.