Ich stehe schon wieder am Bahnsteig. Weder weiß ich, wie ich hierhergekommen bin noch, wo ich eigentlich hinfahren möchte. Doch das spielt keine Rolle. Mein Herz rast. Ich bin vollkommen allein hier. Der U-Bahnhof ist unheimlich still und wie ausgestorben. Ich kann nicht sagen, wie spät es ist. Es könnte Mittag aber auch Mitternacht sein. Aber sollten dann nicht zumindest die Obdachlosen mir Gesellschaft leisten? Am liebsten hätte ich eine Uhr. Oder irgendein Geräusch, das nicht mein eigener Atem ist. Der dröhnt viel zu laut in meinen Ohren und klingt so, als hätte ich mich beeilt, hierher zu kommen. Wozu? Ich weiß es nicht. Und ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich es herausfinden werde.
Ich komme mir dumm vor, dass ich mir so lange gewünscht habe, nur ein einziges Mal meine Ruhe zu haben, während ich auf meine Bahn warte. Jetzt hat sich dieser Wunsch erfüllt und ich könnte nicht unglücklicher sein. Es fühlt sich an, als wäre ich in der Zeit zurückgereist und wieder dort gelandet, wo ich am wenigsten sein möchte. Aber irgendetwas muss an dieser Zeitreise schiefgelaufen sein. Sonst wäre ich sicher nicht allein hier. Mir fehlt das Gewirr, das sonst am Bahnhof herrscht. Und vor allem fehlt mir dieser eine Junge, der eigentlich auf einer der Bänke sitzen und irgendetwas in sein Notizbuch schreiben sollte.
Ohne andere Menschen um mich herum wird das Chaos in meinem Kopf nur noch lauter. Meine Gedanken überrennen mich und so sehr ich mich auch oben zu halten versuche, die Spirale schickt mich immer weiter nach unten. Es ist wie eine Rutschfahrt ins Verderben. Ich würde mich so gern festhalten und so verhindern, dass mich meine Krankheit verschlingt. Doch ich habe nichts, nach dem ich greifen kann. Niemand ist da, um mich vor mir selbst zu beschützen. Ich bin allein. Darauf habe ich doch immer hingearbeitet.
Wieder habe ich diesen Drang, alles zu beenden. Es ist niemand da, der mich aufhalten könnte. Und auch niemand, der mich wirklich sterben sehen würde. Ich könnte niemanden verletzen, wenn ich so egoistisch war, an einem öffentlichen Ort sterben zu wollen. Alles scheint so perfekt. Und es trennt mich nur ein kleiner Schritt vom Ende. Dann wäre das Chaos endlich still. Ich könnte mich selbst verlieren. Im Jenseits gäbe es nur dieses Nichts, in dem ich weder denken, fühlen noch weiterleben müsste. Ich wäre nur noch ich selbst, auch wenn ohne das Chaos und die falschen Worte wenig von mir übrig bleiben würde.
Der Boden vibriert. Die Stille wird von dumpfem Dröhnen und dem Geräusch quietschender Bremsen unterbrochen. Eine U-Bahn fährt ein. Ich sehe kein Licht, aber ich höre, dass meine Zeit gekommen ist. Ich fühle mich unter Druck gesetzt. Soll ich es wirklich jetzt tun? Es wird eine endgültige Entscheidung sein. Gerade weil ich allein am Bahnsteig stehe. Doch ich will es so. Ich will sterben. Das Chaos lässt mir keine Wahl.
Schon befinde ich mich im Gleisbett. Diesmal sehe ich den Tod nicht kommen. Er überrennt mich einfach mit lautem Getöse. Vermutlich hat mich der Fahrer nicht einmal gesehen. Es konnte mich auch niemand mehr retten. Ich habe mir selbst keine Zeit gelassen, auch nur darüber nachzudenken, mich doch für das Leben zu entscheiden. Fast hätte ich meinen eigenen Tod verpasst. Ich konnte mich nicht einmal mehr richtig aufrichten, da kam die U-Bahn schon angerast.
Erst als sich dieser unglaubliche Schmerz durch meinen Körper frisst, wird mir bewusst, wie wenig ich doch nachgedacht habe. Ich weiß nicht einmal, was genau passiert ist. Ich bin überfahren worden. Mehr kann ich nicht sagen. Ich sterbe auch nicht so schnell, wie ich gedacht habe. Die spitzen Steine im Gleisbett bohren sich in meinen Körper, doch der Schmerz, den der Metallkoloss mir zugefügt hat, übertönt alles. Nur langsam blute ich aus. So fühlt es sich zumindest an. Ob ich sterbe, bevor ich gerettet werden kann? Ich will nicht, dass mich jemand so findet. Die Höllenqualen muss ich allein durchstehen. Immerhin wollte ich genau so sterben. Erbärmlich und würdelos, wie Evan es beschrieben hat. Doch er ist nicht da. Mir egal, was er von meinem Tod halten würde. Es ist meine Entscheidung gewesen. Und damit muss ich jetzt klarkommen.
Irgendwo am Rande bekomme ich mit, dass die U-Bahn angehalten hat. Alles ist so dunkel. Ich fühle mich blind. Ob ich gerade unter der Bahn liege? Wer weiß das schon. Und wen kümmert das? So kann mich immerhin niemand sterben sehen. Dumpf nehme ich wahr, wie Menschen aufgeregt durcheinanderreden. Ich bin nicht mehr allein, auch wenn man mich nicht sehen kann. Ich verstecke mich wieder vor der Welt. So zu sterben, passt doch zu mir.
Hoffentlich kommen die Sanitäter zu spät. Oder sie werden gar nicht erst gerufen. Ich will nicht mehr gerettet werden. Langsam gewöhne ich mich an die Schmerzen. Sie sind meine einzigen Freunde auf dieser Welt. Immerhin kann ich jetzt klar denken. Das Chaos will mich auch nicht sterben sehen. Es hat so kommen müssen. Deshalb will ich mich auch nicht mehr entschuldigen für das, was ich jetzt getan habe. Ich bin nicht so wichtig, dass man nicht über meinen Tod hinwegkommen könnte. Und egal wie sehr ich mich und meine Mitmenschen jetzt noch bemitleiden würde, niemand würde es je erfahren. Da kann ich es auch gleich lassen. Lieber hoffe ich, dass ich diesmal nicht versagt habe. Ich will nicht schon wieder jemandem für ein Leben danken müssen, das ich eigentlich gar nicht mehr haben möchte.
Dann ist es endlich vorbei. Die Schmerzen gewinnen gegen das letzte Bisschen an Lebenswillen, den ich noch habe. Ich lasse mich fallen. Warum sollte ich jetzt noch kämpfen, wenn aufgeben so viel einfacher ist?
Doch mit meinem Tod endet es nicht. Ich weiß, dass ich tot bin und trotzdem stehe ich wieder am Bahnsteig und sehe dabei zu, wie man meine Leiche von den Schienen kratzt. Die Unfallstelle ist abgesperrt worden. Menschen tummeln sich plötzlich überall. Sie schießen Fotos und wollen sich vordrängeln, um den besten Blick auf das erhaschen zu können, was da vor sich geht. Diese Leute kommen mir wie Tiere vor. Vor allem die Journalisten, die ich vereinzelt sehe. Immerhin können sie mich jetzt nicht mehr interviewen. Tote können immerhin nicht mehr so viel Auskunft über das geben, was mit ihnen passiert ist. Sonst wären Morde kein Problem mehr.
Als stiller Beobachter komme ich mir fehl am Platz vor. Ich frage mich, was man über diesen Vorfall schreiben wird. Werde ich wieder wie ein hilfloses Häufchen Elend dargestellt werden? Die Menschen sollten mir eher dankbar sein. Immerhin haben sie jetzt ein Problem weniger und niemandem hätte es etwas gebracht, wenn ich schon wieder gescheitert wäre. Man sollte nicht Mal um Mal versuchen zu sterben. Ein Selbstmordversuch sollte dafür ausreichen. Immerhin scheinen jetzt alle begriffen zu haben, dass sie mir nicht mehr helfen können. Sie können nur starren und sich ihren Teil denken.
Der Bahnhof verschwindet um mich herum. Ich falle ins Nichts und bin wieder blind für das, was um mich herum passiert. Kurz fühlt es sich an, als würde sich meine Seele erst jetzt von meinem Körper lösen. Jetzt bin ich frei, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Immerhin muss ich scheinbar immer noch auf der Erde sein. Ob das immer so ist, wenn man stirbt? Vielleicht gibt es gar kein Jenseits und man ist ewig dazu verdammt, anderen Menschen beim Leben zuzuschauen. Vielleicht ist es auch nur bei Selbstmördern so. Damit sie sehen, was sie verloren haben. Das ist wohl eine gerechte Strafe für mein Verbrechen. Ich werde mich dieser widerstandslos ergeben. Dann bin ich ab heute eben ein Wanderer ohne Ziel und ein Verbrecher ohne Zelle, die mich einengt. Ändern kann ich daran sowieso nichts mehr.
Irgendwann höre ich auf zu fallen. Ich stehe in einem riesigen Saal voller Menschen. Viele dieser kenne ich nicht. Das hier ist wohl eine Kapelle, so wie es aussieht. Es herrscht eine unangenehm bedrückende Stimmung. Ohne von einem der Anwesenden gesehen zu werden, streife ich durch die Halle und schaue mir an, was diese Versammlung soll. Viele schauen drein, als versuchten sie, traurig zu sein. Doch schon auf den ersten Blick sehe ich, dass das nur eine Fassade ist. Trauer scheint das zu sein, was man von den Leuten hier erwartet. Die meisten in der Kapelle sind ungefähr in meinem Alter. Es scheinen Leute von meiner Schule zu sein. Die meisten kommen mir aber nicht im Geringsten bekannt vor. Warum sind sie hier? Vermutlich, weil man es von ihnen verlangt hat.
Meine Eltern sitzen ebenfalls hier. Ihre Trauer ist echt, so wie die Tränen über ihre Gesichter rinnen und alle Stärke, die sie einst noch gehabt haben, wegwaschen. Erst als ich direkt vor diesen beiden Menschen stehe, die mich von allen Menschen auf dieser Welt am meisten geliebt haben, wird mir bewusst, dass das hier eine Beerdigung ist. Meine Überreste befinden sich in der Urne, die da vorne am Altar steht. Mehr ist wohl nicht von mir übrig geblieben. Immerhin muss so niemand meine zerfetzte Leiche sehen. Das macht es bestimmt leichter für alle, die mich gekannt haben.
Ich fühle nichts, als mir das alles bewusst wird. Vermutlich werde ich noch eine Weile brauchen, um zu verstehen, dass es hier wirklich um mich geht. Ich fühle mich nicht halb so tot, wie ich gedacht hätte. Unsichtbar für alle anderen zu sein, ist nichts unbedingt Neues für mich. Alles ist wie immer. Ich fühle mich nur ein wenig besser, weil ich als Geist nur noch eine Idee und kein vollwertiges Wesen mehr bin. Irgendwann werde ich verblassen. Vermutlich hält mich sogar die Erinnerung dieser ganzen Menschen hier noch auf der Erde fest. Wenn sie mich erst vergessen haben, kann ich endlich frei sein. Was auch immer im Jenseits auf mich warten wird. Wenn es denn überhaupt existiert.
Die Worte des Pfarrers, der da vorn steht und seine übliche Rede hält, verstehe ich nicht. Alles, was ich wahrnehme, ist das leise Weinen meiner Eltern und die falsche Betroffenheit, die alle anderen im Raum an den Tag legen. Keiner der Anwesenden erhebt sich, um selbst ein paar Worte zu sagen. Ist das nicht sonst auf Beerdigungen üblich? Zumindest von meiner Familie hätte ich das erwartet. Doch alle schweigen. Wie ich es über die letzten Jahre meines Lebens hinweg immer getan habe. Deshalb kann wohl niemand etwas über mich sagen. Meine Geheimnisse habe ich alle mit ins Grab genommen. Nicht einmal meine eigenen Eltern haben mich genug gekannt, um eine Trauerrede verfassen zu können. Warum habe ich nur immer so einsam sein wollen? Jetzt muss ich den Preis dafür zahlen. Warum muss ich nur mit ansehen, wie sehr ich mich doch aus meinem eigenen Leben ausgesperrt habe?
Die Beerdigung endet einfach. Meine Urne verschwindet, ohne dass jemand sie in die Erde lässt. Ebenso sehe ich niemanden aus der Kapelle gehen und doch sind die Bänke plötzlich leer. Ich bin wieder ganz allein. Wie ich es immer gewollt habe. Nichts von mir ist übrig geblieben. Weil ich mich niemals jemandem anvertraut habe. Wie einsam ich gewesen bin, wird mir erst jetzt bewusst. Kein Wunder, dass das Chaos in meinem Kopf mich am Ende umgebracht hat. Ich habe mich an niemandem festhalten können. Weil ich alle von mir weggestoßen habe. Stumm sein ist feige, wenn man eine Stimme hat, die man benutzen kann. Doch das habe ich nie getan. Weil ich Angst vor mir selbst und den Abgründen gehabt habe, die sich irgendwann in mir aufgetan haben.
Diesmal falle ich nicht aus der Szenerie. Stattdessen ziehen Bilder an mir vorbei, die mir zugleich vertraut und vollkommen fremd vorkommen. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass das meine eigenen Erinnerungen sind. Alles wirkt verschwommen und nichtssagend. Als hätte ich niemals ein Leben geführt. Ich erinnere mich an nichts. Schließlich habe immer nach jedem Umzug alles begraben, was zuvor passiert ist. Ich bin eine leere Hülle. Weder kann jemand richtig um mich trauern, noch weiß ich, was für eine Person ich eigentlich gewesen bin. Mir wird klar, dass ich gestorben bin, bevor ich überhaupt gelebt habe. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas unglaublich Wertvolles achtlos weggeworfen. Ich habe mir selbst keine Zeit gegeben. Vielleicht wäre es irgendwann besser geworden. Das Chaos hätte irgendwann schon aufgehört, mich zu quälen. Warum muss mir das alles erst nach meinem Tod bewusst werden?
Die Bilder verschwinden im Nichts. Alles um mich herum ist wieder so dunkel, dass die Finsternis mich blendet. Ich schließe meine Augen und lausche der Stille, die mich zerfrisst. Ich habe alles falsch gemacht. Doch jetzt ist es zu spät. Den Tod kann man nicht rückgängig machen. Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass man mich vergessen und von dieser Welt erlösen wird, die mich selbst als Geist noch quält.
Als ich aufwache, brauche ich eine Weile, um zu verstehen, dass alles nur ein Tram gewesen ist. Ich ringe nach Atem und alles fühlt sich an, als wäre ich gerade wirklich gestorben. Es ist nur ein Albtraum gewesen. Nur ist es gerade in der Realität genauso dunkel wie in der Welt, die sich mein Unterbewusstsein zusammengesponnen hat.
Ich will nicht wieder einschlafen. Zu sehr hängt mir noch das nach, was ich in diesem Traum erlebt habe. Alles ist so real gewesen. Vor allem der Tod, der viel zu langsam vonstattengegangen ist. Das ist wohl das erste Mal gewesen, dass ich mir wirklich Gedanken über das gemacht habe, was am Freitag fast geschehen wäre. Vermutlich würde mich dieser Albtraum noch eine Weile lang verfolgen. Deshalb sollte ich den Rest der Nacht auch damit verbringen, mich zu sammeln, anstatt mich in ein neues Horrorszenario zu werfen, das mein Verstand erschafft, um mir klar zu machen, was für ein naiver Idiot ich doch bin. Sterben ist nicht leicht. Dass mir das erst jetzt klar wird, spricht wohl eher nicht für mich.
Mein Kopf blockiert. Ich finde keine Worte, um das eben Gesehene verarbeiten zu können. Da bleibt mir nur noch ein Ausweg, um nicht mehr das Gefühl haben zu müssen, in der Dunkelheit zu verschwinden.
Plötzlich hellwach schwinge ich mich aus dem Bett und hole eine der leeren Leinwände hinter meinem Schreibtisch hervor. Sonst habe ich immer das Gefühl, dass meine Bilder nicht ausreichen, um über ein Blatt Papier hinauszukommen. Doch heute fühlt es sich anders an. Das, was ich malen werde, wird wichtig sein. Und etwas, was ich nicht überarbeiten werde. Deshalb muss das Bild auch mehr sein als irgendeine Kritzelei, die ich im Unterricht oder in der Bahn produziere.
Beim Malen schaltet sich mein Gehirn aus. Ich weiß nicht einmal, welche Farben ich gerade benutze. Ich lasse mein Unterbewusstsein arbeiten und komme mir dabei wie eine Wahnsinnige vor. Es lässt mir während der eigentlichen Tätigkeit noch Zeit, darüber nachzudenken, wie wichtig doch Evans Timing gewesen ist. Er hat mich nicht allein gelassen, als es alle anderen getan haben. Er ist mein Lebensretter. Weil er nicht hat wegschauen können.
Vielleicht macht ihn genau das zu der wohl vertrauenswürdigsten Person in meinem Leben. Ich sollte versuchen, mich an ihm festzuhalten. Immerhin hat er mir nun schon zweimal seine Hand gereicht. Warum sollte ich sie da nicht ergreifen und versuchen, etwas von mir in dieser Welt zu hinterlassen?
Irgendwann fühlt sich das Bild fertig an. Ich weiß selbst nicht, was genau ich da erschaffen habe. Doch für diesen Moment ist mir das gleichgültig. Dieses ganze Verarbeiten hat mir das letzte Bisschen an Kraft geraubt, was ich nach diesem Albtraum noch gehabt habe. Plötzlich möchte ich nur noch schlafen. Hoffentlich wird der Rest dieser Nacht traumlos sein. Noch mehr Tod und Verderben würde ich nicht aushalten.
Bevor ich schlafen gehe, drehe ich die Leinwand weg von mir. Ich will nicht morgen früh aufwachen und an das erinnert werden, was ich jetzt fühle. Morgen soll ein guter Tag werden. Ich will anfangen zu leben. Dann werden Leute irgendwann auch Grabreden halten können, wenn ich irgendwann sterbe.