„Was denkst du?“, fragte mya rundheraus und sah zum Himmel hinauf. Es zogen verheerend dunkle Wolken hinauf. „Wenn wir mal nicht mehr sein werden“, sinnierte sie, „was denkst du was ‚die die nach uns kommen‘ dann mal sagen werden?“ Sie drehte sich um, sah zur anderen Seite, doch auch wenn von dorten keine Wolken zu sehen waren, im Gegenteil der blaue Himmel wurde vom Gold der Sonne erhellt, so sah sie auch hier nur das Traurige. Denn hunderte Vögel flogen eilends davon.
„‚Die die nach uns kommen‘ und finden was wir jetzt sind und für sie einst gewesen waren, was werden sie denken über uns?“ Jetzt sah sie an sich selbst herab. Sie trug nicht viel am Leib. Vor allem Perlenketten, Schnüre aus geflochtenem Haar. Tierhaar, aber vor allem Menschenhaar. Den Haaren ihrer Familie, ihrer Sippe, ihres Stammes. Sie trug es mit Stolz, jede Perle stand für eines der Leben. Und in Yariḫ, lebten so viele Menschen, dass mya kaum noch eine Perle mehr tragen konnte. Und hätte sie zählen können in so großen Zahlen, wären es ebenso viele Menschen gewesen wie Ohrwürmer im heiligen Haus in der Grube schliefen.
Ihre Stadt war dem Mondgott geweiht und weit weg, hinter den Bergen, viele Tagesreisen entfernt, stand ihre Schwesterstadt. Die Sonnenstadt. Doch seit vielen Mondumläufen hatten sie keine Kunde mehr erhalten. Womöglich gab es die Stadt nicht mehr. Und genau diese Vermutung sorgte mya. Sehr sogar, denn wenn es in der Sonnenstadt geschehen konnte, dann konnte Yariḫ dasselbe Schicksal ereilen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie die erste „Sicht“ gehabt und davon erzählt, was sie gesehen hatte im Mondlicht. Daraufhin hatten sie den ersten Wall gebaut. Er war nicht gut gewesen. Er hatte die Flut nicht halten können. All ihre Lehmhütten waren schwer beschädigt worden, das mit den Perlen hatten sie da noch nicht gemacht. Doch viele Menschen starben.
Und die große ya vor mya hatte entschieden, dass sie für jeden Toten etwas geben mussten. Es waren so viele gewesen.
Und myas „Sicht“ war so detailliert gewesen, da hatten sie gehofft, das Mädchen würde das Wunder wiederholen, bevor die nächste furchtbare Flut kam. Aber mya enttäuschte ihr Volk. Sie sahen das nicht so, sie hatten es nur gehofft, aber sie erwarteten nicht, dass die Gottessicht zweimal dieselbe Person traf, ebensowenig wie ein Himmelsfeuer zweimal dieselbe Stelle traf. So verließen sie sich lieber auf die Käfer, die im Volksmund „Würmer“ waren, wenn man sich Beine und Flügel wegdachte. Und wenn man sie trocknete oder röstete und dann zu feinem Mehl zerrieb, waren sie ein Mittel gegen Taubheit, vor allem aber auch, um die Stimmen der Götter hören zu können. Mit den Geistern zu sprechen und die „Sicht“ zu erhalten.
Schon wenige Jahre später war Yariḫ um das doppelte angewachsen und zog immer mehr Menschen an. Denn auch wenn myas "Sicht" nicht gut genug war bei der ersten Schwemme, mit der Zeit wurden die Wälle höher. Sie bauten sie aus, sie gruben, sie schoben, sie verdichteten, sie experimentierten so lange, bis die Mauer fest genug war und ihre Stadt Stand hielt.
Und dieser Erfolg, diese Sicherheit, wog so schwer um myas Körper. Sie trug sie um den Hals, die Last auf den Schultern drückte ihren Körper krumm und das Gewicht zog an ihrem Busen hinunter, bis sie eines Tages auf dem drei Mann hohen Turm stand, in den Himmel sah und in ihrer zittrigen Hand viele von den kleinen Tierchen zuckten, die sie in die Glut des Feuers werfen würde. Um die Götter milde zu stimmen, vielleicht auch mehr, um all die Menschengeister, für die die Perlen standen, zu beruhigen. Auch diesmal würde der Damm halten, bestimmt, hoffentlich.
„Was würden wohl sonst ‚die die nach uns kommen‘ sagen?“