„Magst du mit uns noch spazieren gehen?“, fragte Hannah freundlich. Doch ihre Stimme hatte einen belegen Klang. Maxi schaute nicht auf, als er ihre Stimme vernahm. Manuel hatte sich bereits wieder in sein Arbeitszimmer verkrochen. Luna hatte ihm den Blindenstock gestohlen und ritt darauf herum wie auf einen Hexenbesen. Es war kurz vor Halloween, also würde es sogar passen. Bei der Vorstellung, wie Luna aus dem Wohnzimmer flog und in der Nacht verschwand, schmunzelte er.
Er hörte, wie Hannah auf ihn zukam. Er konnte anhand des Laufstils mittlerweile ausmachen, mit wem er es zu tun hatte.
„Aber, Maxi!“, sie wollte ihn in den Arm nehmen, als er ihr immer noch nicht antwortete. Er versuchte sich aus der Umarmung zu ziehen. Maxi quetschte den Rücken gegen die Lehne und kippte mit dem Stuhl, als er sich von der Berührung seiner Tante entziehen wollte.
Krachend fiel Maxi auf den Fliesenboden der offenen Küche, Luna trällerte nicht mehr und lief erschrocken auf ihn zu. Sie brabbelte irgendetwas vor sich hin, doch er verstand es nicht. Maxi wurde wütend.
„Ich will es nicht, okay!“, schrie er Hannah an. Verstand sie es nicht? Wie konnte man nicht verstehen, dass Maxi keine Berührungen ertragen konnte. Er dachte, dass Hannah wohl zurückweichen und gehen würde. Jedenfalls wünschte er sich das. Doch er hörte nur, wie der Stuhl auf die Beine gehoben wurde und Hannah ihm eine Hand darbot.
Maxi spürte den kurzen Kontakt von Hand zu Schultern, daher konnte er sich vorstellen, wie Hannah ihm aufhelfen wollte. Doch er zog sich selbst auf die Füße, hielt sich mit einer Hand am Tisch und half sich somit allein auf.
„Es tut mir leid!“, entschuldigte sie sich. „Ich wollte dir nur vorschlagen, etwas Zeit mit uns zu verbringen. Du bist immer so häufig in deinem Zimmer und kommst gar nicht mehr heraus, seit du vor einem Jahr hier eingezogen bist.“
Er wusste, sie meinte es gut. Er wusste ihre Bemühungen auch zu schätzen, aber wie sollte er bitte damit klarkommen? Er wohnte seit einem Jahr komplett blind in einer für ihn fremden Wohnung. Seine Eltern sind tot, seine ältere Schwester Lisa interessierte sich nicht für ihn und er musste bei der überfürsorglichen Tante leben. Ein Gedanke schoss ihm in den Kopf, als er an den Aufprall dachte. Rote Funken sprühten durch das Bild, das sich in ihm auftat. Der Fokus lag auf einem umgekippten BMW, dessen Rot mit dem Feuer verschmolz. Aus der zerquetschten Fahrertür lag ein lebloser Arm. Das frische Blut auf dem Boden floss weiter. Die Farbe der Körperflüssigkeit kam stechend hervor, um die Dramatik des Bildes gänzlich auszufüllen. Rauch stieg dem schwarzen Himmel empor. Feuerwehrleute versuchten mit Nachdruck, die Funken zum Erlöschen zu bringen und die Autotüren aufzuhebeln, während Sanitäter nach seinen Eltern greifen. Der Airbag nahm ihm die Sicht, wenn er sich auf das Gesicht seiner Mutter konzentrieren wollte. Das Blaulicht der Polizeifahrzeuge erhellte die Nacht und blendeten ihn, wenn er sich auf die Einsatzkräfte fokussierte. Zwischen dem Blau und Rot stand Maxi und sah sich das Standbild an. Wie im Theater konnte er sich vorstellen, wie die Schauspieler nach dem „Cut“ des Regisseurs einfach aufstanden und in ihre Kabinen gingen.
Maxi sah es jede Nacht vor sich.
„Einfach nein, okay?!“, murmelte er, als er am Tisch Halt suchte. Er wollte nach dem Blindenstock greifen, doch Luna hatte es einfach auf dem Boden liegen gelassen. Er hatte vergessen, dass er nicht am üblichen Platz war. Maxi musste sich auf die Atmung konzentrieren, damit er nicht losbrüllte. Wütend stapfte er in sein Zimmer. Er hörte noch, wie seine Cousine ihm nachlief, doch er knallte die Tür wuchtig zu. Die Vierjährige fing an zu weinen, doch das interessierte ihn nicht.
Er nahm sich die Zeit, um der tosenden Ozean in ihm Ruhe zu gewähren. Er nahm ein Bild vom Schreibtisch, dessen Umrahmung er mit dem Finger nachzeichnete. Maxi ließ sich auf das Bett fallen, sah mit schwarzem Blick auf das Foto. Er konnte sich vorstellen, wie sein Vater ihm kameradschaftlich auf die Schultern klopfte und seine Mutter ihn mit strahlend blauen Augen fröhlich anlächelte. Und er war dazwischen, lächelte voller Stolz, als er den ersten Pokal seines Lebens gewonnen hatte.
Die wilde See in ihm beruhigten sich nicht. Wellen schlugen gegen seinen Verstand, bis die Tränen nicht mehr aufzuhalten waren und er nur noch weinte. Er spürte die Nässe auf seiner Hand, doch er krallte sich an diesem Bild fest, als wäre es der letzte schöne Tag in seinem Leben gewesen.
Mit dem Bild im Arm legte er sich wieder aufs Bett und ignorierte alles in seiner Umgebung und tauchte durch die Schwärze in die bunte Welt seiner Fantasie hinein.