Luna würde sicher nicht zu finden sein. Nachdem Jelly im kleinen Garten aus der offenen Terrassentür hinausspaziert war, weil keiner wirklich auf den kleinen Nager aufgepasst hatte, war Hannah ganz aus dem Häuschen gewesen. Jetzt suchte selbst Manuel nach dem kleinen Fellknäuel. Hannah weigerte sich bei der Suche mitzuhelfen und verzog sich ins Schlafzimmer, das automatisch auch als Büro diente, nachdem Maxi sein eigenes Zimmer bekommen hatte.
Also wuselte Lisa umher und suchte panisch nach dem Nagetier, während Luna es ihm gleich tat und dann Verstecken spielen wollte. Jetzt war es an Maxi, die Vierjährige zu suchen, während seine Schwester und der Onkel das Tier suchten.
Maxi musste einfach nur im Raum stehen bleiben und hören. Er hat ja ein viel besseres Gehör als alle anderen, dennoch schwieg die Kleine wie ein Grab. Auch die Absuche bei den anderen Beiden dauerte den gesamten Vormittag, als Jelly sich zwischen den eingepflanzten Salatblättern und dem Strauch zum Nachbargrundstück versteckt hatte. Es musste etwas gegessen haben, denn als Maxi durch das weiche Fell strich, spürte er ein kühles Blatt zwischen dem kleinen Zähnen am Maul. Kumpelhaft klopfte Manuel ihm auf die Schulter, als sein Onkel sich Richtung Küche wandte.
"Essen ist bald fertig!", rief Hannah in die Runde, während Maxi weiter nach der kleinen Cousine suchte.
Am Abend saßen alle beieinander und aßen schweigend das Mahl. Maxi kaute unruhig auf dem Fleischstück und dachte an den gestrigen Termin bei Dr. Hausmeier. Die letzten Nächte waren erstaunlich ruhig gewesen, wenn man bedachte, dass sich Luna in sein kleines Bett quetschte und mit ihm kuscheln wollte. Er strich ihr gerne durch die sanften Strähnen. Die Wunde verheilte gut, sodass sie kein Verband mehr brauchte.
Diese Nacht wachte die Kleine wieder auf und zog langsam, dann immer ungeduldiger an seinem Ärmel des Schlafanzugs. Maxi wurde wach, wenn auch träge erfasste er die Situation.
"Maxi, ich muss Pipi.", sagte sie müde und gähnte laut.
"Dann geh doch allein.", murrte er in sein Kopfkissen. Doch Luna war erst vier, das kam ihm erst später in den Sinn. Er stand daher trotzdem auf, denn Luna würde erfahrungsgemäß keine Ruhe geben. Müde schlichen beide zum Badezimmer und Maxi leistete ihr solange Gesellschaft, während Maxi noch im Land der Träume war.
Kaum waren beide wieder im Bett, fing die Kleine an zu reden. Seine Cousine hatte sich an seinem Kopfkissen bequem gemacht.
"Maxi?", fragte sie leise in seine Schulter.
"Mhh?" kam die Antwort. Sein Kopf lag schwer auf dem Kissen und Maxi wollte sich einfach nur umdrehen und weiter schlafen.
"Wie ist die Geschichte eigentlich ausgegangen?" Ihre leise Stimme wirkte fast, als würde sie wieder einschlafen und doch stand Neugier und Interesse darin. Wollte die Kleine wirklich jetzt eine Geschichte hören?
"Warte, ich hole dein Buch aus dem Wohnzimmer.", er wollte grade aufstehen, damit sie die Bilder der kleinen Ratte Rigast anschauen konnte, doch sie hielt ihn mit einem Ziehen an der Kleidung davon ab. Ihre Finger krallten sich energisch an dem Stoff, als sie sprach.
"Ich meine den Zauberer und das Pferd. Du hast erzählt, dass sie gegen eine Hexe gekämpft haben."
Maxis Müdigkeit wich aus seinen Knochen, als er sich an die Ereignisse letzter Nächte erinnerte. Die Müdigkeit wich schneller und die klaren Gedanken erfassten seinen Verstand. Stöhnend schwang er sich auf, suchte nach dem Knopf der Nachttischlampe. Er fühlte das warme Licht langsam auf der Haut und Luna kuschelte sich an seine Seite. Er lehnte an die kühle Wand und konzentrierte sich auf schönere Bilder. Maxi erwog, die Geschichte kreativ und schön enden zu lassen. doch er würde seine eigene Geschichte nicht verschönern können. Das kam ihm nicht richtig vor.
"Irigion hatte den Kampf gegen die Hexe verloren, weil er zu schwach war.", sagte er leise. "Er hatte zwar große Zauberkräfte, aber irgendwie schaffte er es nicht, gegen diese fiese Hexe anzukommen.", sagte er geistesabwesend.
Ehrlichkeit. Luna würde den Zusammenhang nicht verstehen, weshalb Maxi nun gedanklich nicht bei ihr war.
Ihre kleinen Finger verkrampften sich an seiner Schlafanzughose, während er ihr sowohl beruhigend, als auch gedankenverloren den Rücken strich.
"Und was ist dann passiert?" Ihre Stimme wurde kratziger.
"Er wurde gefangen genommen und seine schlimmsten Feinde näherten sich ihm. Er wurde in seine dunkelsten Tage zurückgeschickt.", sagte Maxi ohne Nachzudenken. Ob es für die Vierjährige überhaupt angemessen war, ihr eine solch gruslige Geschichte zu erzählen?
"Was hat er dann gemacht?", fragte sie leise, während sie scheinbar zu ihm hochschaute. Diese Neugierde in der Stimme überraschte den Sechszehnjährigen. Gleichzeitig wirkte es mehr als nach purem Interesse. Sorge? Erwartungsvoll wartete sie auf seine Antwort, doch die Heldengeschichte nahm hier sein Ende.
"Was soll er denn getan haben?", fragte Maxi träge. Er wollte weiter schlafen. Müde legte er den Kopf gegen die kühle Wand, während er durch die weichen Haare seiner Cousine strich.
"Er kann doch nicht einfach aufgegeben haben, oder? Er muss doch der Hexe zeigen, dass es auch Gutes gibt. Sie muss doch einen Freund gehabt haben.", sagte die Kleine voller Überzeugung und Hoffnung in der kindlichen müden Stimme und ihr Satz endete in einem leisen Gähnen.
Was hat Irigion denn getan, nachdem er gefangen genommen wurde? Er hat aufgegeben, zwanghaft versucht, aber dennoch aufgegeben.
"Was hat er denn jetzt gemacht?", fragte Luna weiter.
"Nichts.", sagte Maxi und wurde hellhörig. Sein Verstand wurde klarer, als würden sich Wolken verziehen und den Blick auf den unendlichen Sternenhimmel freigeben. Die Berge erhoben sich bildlich vor ihm und er musste lachen, denn die Antwort lag auf der Hand.
"Er hat einfach nichts gemacht."