Maxi stand an der Tür und schluckte schwer. Er war allein hier, Lisa fungierte lediglich als Fahrerin.
"Ich habe noch was zu erledigen und hole dich nach deinem Termin wieder ab. Wenn was ist, kannst du ja via Schnellsprechtaste mich anrufen." Und damit war seine Schwester schnell ins Auto gesprungen und abgehauen. Maxi half sich allein, orientierte sich anhand Geräusche und dem Gefühl an der Hand des Blindenstocks.
Die Türen surrten und gingen automatisch auf. Er roch eine seltsame Mischung aus verschiedenen Blumendüften und diesen Stäbchen, die man im Badezimmer immer stehen hatte. Er rümpte leicht die Nase, als er den stechenden Orangengeruch wahrnahm. Wo war er hier nur gelandet?
"Willkommen in der Praxis Dr. Hausmeier. Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte eine Empfangsdame den üblichen Standarttext. Er konnte sich vorstellen, dass sie nicht mal von den Papieren, die vor ihr auf dem Tisch lagen, aufschaute. Doch genau konnte er es nicht beschreiben. Ein wenig nervös meldete er sich bei vollen Namen und erinnerte die Dame an seinen Termin.
"Ja okay, ich melde, dass Sie da sind. Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz.", er konnte sich gut vorstellen, dass sie in eine beliebige Richtung zeigte. Er wartete ein paar Momente ab und blieb an Ort und Stelle stehen. Die Blöße, gegen eine große Topfpflanze zu laufen oder die Türöffnung nicht zu erwischen, gab er sich nicht. Trotzig bewegte er sich keinen Meter, bis die Frau ihn wieder ansprach.
"Haben Sie noch ein Probl...?", wollte sie fragen, doch da erkannte sie wohl, dass Maxi als Nicht-Sehender leider ihrer Anweisung nicht hatte folgen können. Er hörte Rollen über den Holzparkett und Stöckelschuhe in den Ohren klackern. Als er stechende Geruch eines eklig riechendes Parfums in seine Nase gelang, hielt er instinktiv die Luft an.
Kaum war die Empfangdame bei ihm, hielt sie ihn am Arm und schob ihm mehr, als dass er selbststänig lief, in einen Nebenraum. Er spürte durch den Stock einen naheliegenden Stuhl und setzte sich hin.
"Wenn Sie noch etwas brauchen, dann melden Sie sich bitte.", meinte sie freundlich, doch betonte jedes Wort einzeln und deutlich.
"Haben Sie vielen Dank, nette Dame.", sagte er trotzig, jedoch genauso langsam wie deutlich betonte er jeden Vokal. Er hasste Berührungen und diese gezwungene Hilfe, die man ihm oft zu Teil werden ließ. Warum konnte man nicht einfach normal mit ihm umgehen? Er würde sich schon melden, wenn er Hilfe bräuchte.
Nach einer halben Stunde Warten wurde er von der gleichen Frau in ein weiteres Zimmer geführt. Diesmal gab sie ihm die Freiheit, selbst zu laufen und sprach normal mit ihm, er solle auf gewisse Hindernisse achten. Er dankte Gott im Stillen über diese schnelle Lernfähigkeit und setzte sich in einen Raum, der noch mehr nach künstlicher Orange stank. Die Verbindung mit kaltem Zigarettenrauch und Kaffee kombiniert mit der drückenden Luft, als wäre schon lange keine frische Luft mehr in diesem Raum gelangt, setzte sich Maxi und wartete auf den Doktor.
"Guten Tag Herr Dubois.", begrüßte ihn eine nasale Stimme im Vordergrund. Er nickte ihm zu und riss ihn damit aus den tiefen Gedanken.
"Sind die Franzose?", fragte der Therapeut und gleichzeitig sein Psychologe. Der vor ihm stehende oder sitzende Mann war Dr. Hausmeier, Diplom-Psychologe und der Erste, der mit ihm über seine Blindheit gesprochen hatte. Er war ihm im Krankenhaus eine Woche nach dem Unfall Maxi zugewiesen worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Maxi sich geweigert, jegliche Auskünfte zu geben. Zum einen, weil er sich anhörte wie Gimli aus Herr der Ringe und eventuell auch so aussah. Er mochte Gimli, und würde seinen Lieblingscharakter niemals mit dem Vergleich eines dahergelaufenen Therapeuten beleidigen. Zum anderen, weil er immer nebenher telefoniert hatte und sich nicht aktiv auf die ersten Gespärche fokussieren konnte. Doch er war der Erste, den Hannah kontaktiert hatte. Und was blieb Maxi anderes übrig, wenn er keinen anderen Therapeuthen kannte, dem er nicht vorerst seine ganze Lebengeschichte erzählen musste.
Also gab der Sechszehnjährige nach und saß nun vor dem Zwerg in der Praxis.
"Nein, meine Mutter war Franzosin. Das habe ich Ihnen aber letztes Jahr schon erzählt.", knurrte Maxi leise und krampfte sich an. Eigentlich wollte er aus der Praxis verschwinden, aber das hier war viel zu notwendig. Hannah würde ihm die Hölle heiß machen, würde er einfach aufstehen und gehen.
Maxi hörte das Knarzen von Leder und das Umdrehen von Blättern.
"Gut, Herr Dubois. Wie kann ich Ihnen helfen? Sie haben letztes Jahr Ihre Aussage wehement verweigert und nun suchen Sie aktiv Hilfe. Nicht umsonst hatte Frau Weber dringlich um diesen Termin gebeten, oder?"
"Ich bin hier, weil ich einen Rat brauche.", fing Maxi an. Wie sollte er sonst seine Situation erklären?
"Sie wollen also "in Ihrer Gefühlswelt graben wie ein Hund"?", fragte er mit jugendlichen Slang in der Stimme. Damit hatte er Maxi zitiert und den ersten Kontakt von dem Zwerg und ihm. Dr. Hausmeier hatte es auch faustdick hinter den Ohren.
Maxi versuchte sich von den drohenden Erinnerungen loszureisen, die ihn überkamen, wenn er an den ersten Kontakt von ihm und dem Doktor sowie den Treffgrund im Krankenhaus denken musste. Er schluckte den Klos hinunter. Überrascht und gleichzetig schockiert holte Maxi tief Luft und berichtete.