Luna wirkte unbekümmerter, als er dachte. Er fühlte ihren Kopf ab. Die rauen Mullbinden wickelten sich um ihren kleinen Kopf. Doch an sich schien alles in Ordnung zu sein. Er musste lachen.
Wieder umarmte er sie.
„Maxi zerdrückt mich noch!“, meckerte die Vierjährige und schob ihn weg. Er gab ihr die Freiheit und zog die Nase hoch. Es ging ihr gut. Was für eine Erleichterung.
„Wie geht’s es dir, Luna?“, fragte Lisa und kam etwas näher. „Kennst du mich noch?“, die zärtliche Stimme seiner Schwester wurde sanfter, als sie seine Cousine fragte. Obwohl beide nicht miteinander verwandt waren, benahm sich Lisa wie eine besorgte große Schwester.
„Ja, du bist die große doofe Kuh!“, trällerte Luna. Maxi musste auflachen und Lisa schrak zurück.
Mit einer Hand vor dem Mund unterdrückte Maxi das Lachen. Es hatte sich einmal im Beisein von Luna über Lisa aufgeregt. Dass sie das so aufgenommen hatte, hatte er nicht geahnt. Bevor Lisa ihren Protest Kund tun konnte, griff Maxi ein.
„Das ist Lisa. Und sei bitte nett zu ihr.“, sagte Maxi ruhig. Sein Grinsen entsprach seiner Laune und er kicherte noch ein wenig.
„Ich hab ein wenig Kopfaua.“, sagte Luna und wollte sich die Mullbinden vom Gesicht reisen. Maxi hinderte sie daran und sprach wieder die ersten Worte, die ihm einfielen.
„Magst du eine Geschichte hören?“, fragte er.
Luna wurde neugierig, als sich ihre kleinen zarten Finger um seine raue Hand schlossen.
„Sind da auch richtige Monster und Gozillas?“, fragte sie ängstlich. Ihre Hand zuckte zurück und krallte sich an den Kopf.
„Nein, aber Elfen und Feen!“, er lächelte sie an. „Und riesige Wälder und ein unglaublich schöner Sternenhimmel!“
Luna schien das Interesse an dem Verband verloren zu haben und vergriff sich abermals in Maxis Hand.
„Und ein ganz großer See mit viel Wasser?“, ihre Augen mussten größer werden.
„Natürlich.“, Maxi wusste um ihre Liebe zum Schwimmen. Sie hatte das Seepferdchen bereits mit ihren vier Jahren gemeistert und darauf war sie wirklich stolz. Also fing Maxi einfach an zu erzählen.
„Es war einmal ein Königreich, mit großen Wäldern, riesigen Seen und einer Hauptstadt namens Deleus. Es gibt einen großen und mächtigen Zauberer mit einem weisen Ross.“
„Silberhufe!“, mischte sich Lisa ein.
„Und mit Silberhufe reitet er durchs Land und beschützt alle Kleinen und Schwachen und Großen und Mächtigen vor dem Bösen!“
„Wie heißt der?“, fragte Luna. „Der Gute meine ich.“
„Irigion. Er heißt Irigion.“
„Das ist ein doofer Name. Er sollte lieber Herbert heißen.“
„Wie dein Teddy?“, fragte Maxi lächelnd. Luna nickte, doch Maxi schüttelte den Kopf.
„Nein, es heißt leider schon so. Und eines Abends kommt Irigion und Silberhufe in Deleus an. Die ganze Stadt ist leider ziemlich leer und einsam. Nur eine einzige Frau begegnet er. Er geht auf sie zu und fragt sie, wo er denn heute Nacht schlafen könne. Und weißt du, was die Frau macht?“
Luna wurde unruhig und klammerte sich fester in seine Hand. „Was?“
„Es ist eine Hexe und hat den Zauberer erschreckt. Er fällt auf den Boden und Silberhufe läuft voller Schrecken davon. Auf einmal gewittert es. Es donnert und kracht und der Zauberer steht allein vor der Hexe. Sie hat eine ziemlich hässliche Warze auf der Nase und ihre roten Haare stehen ihr in alle Richtungen.“ Demonstrativ nahm er sein langes Haar, wuschelte darin herum und formte eine Igelfrisur. Luna lachte auf.
„Und was ist dann passiert?“, fragte sie.
Maxi streckte die Hand aus und legte sie ihr auf den Kopf. Er strich über die Binden.
„Das erzähle ich dir morgen, okay?“ Luna gab einen klagenden Laut von sich. Sie schüttelte sich und nahm beleidigend die Hände aus seiner.
„Na gut.“ Er räusperte sich und erhöhte den Druck auf seine Stimmbänder.
„Der Zauberer steht auf und schreit der Hexe zu: ‚Du wirst mich niemals besiegen!‘“
Lisa stimmte mit ein und imitierte mit hoher Stimme die Hexe.
„Oh doch, Irigion. Ich werde dich besiegen! Muahahah!“ Luna schrak auf, krallte sich wieder in seine Hand.
„Der Zauberer schwebt auf einen Außenposten der Burg zu und die Hexe folgt ihm auf ihrem Hexenbesen.“
„Sieht der aus wie dein Stock, mit dem du immer rumläufst?“, fragte sie.
„Natürlich. In dieser Welt fliegen alle mit Blindenstöcken.“, Maxi lachte auf. Wie konnte diese Kleine nur so viel Fantasie besitzen?
„Jetzt müssen wir leider gehen, Luna.“, sagte Lisa. „Wir kommen gerne morgen nochmal vorbei und erzählen dir die Geschichte weiter, ja?“, Maxi erkannte die Tonlage seiner Schwester.
Luna schien zuzustimmen, verzog sich aus seinem Griff. Schließlich hörte er die Decke rauschen.
Er umarmte seine kleine Cousine noch, selbst Lisa berührte sie leicht an der Schulter.
Als beide wieder im Aufzug waren, redete Lisa mit ihm.
„Gut gemacht, du Zauberer.“, Lisa hatte herausgefunden, wer Irigion scheinbar darstellte. Doch ihre Stimme wurde belegter.
„Du hast es gespürt, nicht wahr?“ Maxi nickte. Die Mullbinden gingen nicht nur um ihren Kopf, sondern auch um ihr Gesicht. Er wagte sich nicht mehr vorzustellen und verdrängte die aufkommenden Bilder.
Die Aufzugtüren gingen auf und beide fuhren inmitten der Dunkelheit schweigend zu Jelly zurück.