Maxi lief den Weg zum Spielplatz. Um ehrlich zu sein, war es der einzige bekannte Weg, den er im Kopf hatte. Er kannte alle Kreuzungen, Ampeln, Gabelungen und Hindernisse. Außer, dass er mit zwei Menschen zusammengestoßen war, war er stolz auf sich. Immerhin hatte er sich bis hierher allein durchgeschlagen. Maxi wusste, das gegenüber der Rutsche eine Parkbank auf ihn wartete. Den Stock immer links und rechts schwenkend, folgte er seinem Gefühl an der Hand.
„Hey!“, rief eine weibliche schrille Stimme. „Pass doch auf!“
Maxi zuckte zusammen. Er hatte sich so auf den Weg zur Sitzbank konzentriert, dass er vergessen hatte auch auf seine Umgebung zu achten. Dass Kinder in den Weg treten können, war ihm bewusst, doch diese Stimme ordnete er in die ältere Kategorie ein.
„Hörst du nicht?“, wütend kam die Stimme näher. Er hörte genauer hin, doch er konnte sie nicht einordnen. War es eine junge oder eine ältere Frau? Die Stimme klang am Satzende immer schriller als am Anfang. Wie eine aufgeschreckte Vogelscheuche. Er musste schmunzeln, doch das brachte sein Gegenüber nur noch mehr zum Kochen. Das Geräusch von Schnauben und schnellem Aus- und Einatmen. Er konnte sich vorstellen, wie sie rot wie eine Tomate wurde.
„Das ist nicht witzig!“, kommentierte die Frau. Maxi machte sich die Mühe und unterdrückte das aufkommende Lachen.
„Es tut mir leid!“, entschuldigte er sich. „Es ist nur...“, er wollte aus Gewohnheit mitteilen, dass er leider nicht sehen konnte. Er rechnete schon mit der typischen Reaktion des Mitleids.
„Das ist kein Grund, deinen Stock an meine Einkaufstüte zu schmeisen. Jetzt sind alle meine Juliuisbeeren rausgefallen!“
Er hatte doch kein typisches Rascheln von Plastik vernommen. Und außerdem…
„Juliusbeeren?“, fragte er argwöhnisch. Er runzelte die Stirn.
„Ja, zusammen mit den Winterbananen und den halben Meter großen Äpfeln!“, meckerte sie weiterhin.
Maxi musste sich setzen, als er an der Bank ankam. Er hatte die Frau wohl unbeabsichtigt am Kopf getroffen.
„Entschuldigen lernt man auch nicht mehr, oder?“, fragte die Frau entrüstet.
Maxi konnte nicht anders, er musste auflachen. „Ich habe mich entschuldigt, als Sie...“
„Jetzt siezt du mich auch noch als wäre ich über siebzig!“, meckerte sie weiterhin.
„Ja wie alt bist du dann?“, fragte Maxi rund heraus. Er konnte die Stimme keinem Alter zuordnen. Sie wirkte junggeblieben, robust und trotzdem war das Kratzen typisch für Kettenraucher. Seine Nase konnte keine stechenden Gerüche ausmachen. Sie roch nicht wie sein Onkel Manuel, der mit seiner E-Zigarette die Wohnung benebelte. Dass sein Onkel mit dem Rauchen aufgehört hatte, befürwortete er ja, aber die E-Zigarette schien Maxi keine bessere Alternative zu sein. In jeglicher Hinsicht.
„Man fragt Damen nicht nach dem Alter, hat man dir das nicht gesagt?“, murrte sie beleidigt. Er stellte sich tatsächlich eine Vogelscheuche vor, die ihre Stroharme eingeschnappt verschränkte. Mit einem Lächeln kniete er sich nieder, hielt sich mit einer Hand an dem Holz und wollte besagtes Obst aufheben, als er nur einen Stein und einen gebogenen Ast zu greifen bekam.
„Lass mein Obst!“, rief sie und schnappte sich den Tannenzapfen aus seiner Hand. Er glaubte sich verhört zu haben. Andrerseits kam ihm eine Idee. Die Frau schien in ihrer eigenen Welt zu leben. Das konnte er auch.
„Als ich habe heute Orangensaft mit Rigastgetreide zum Frühstück gehabt. Und du?“ Er sagte einfach die ersten Worte, die ihm eingefallen waren. Rigast war eigentlich eine Ratte, die in einem Kinderbuch von Luna vorkam. Maxi setze sich wieder und hörte gespannt zu, wie er ein Aufatmen hörte.
„Ich kenne sonst keinen, der sowas isst. Ich mag lieber meine Winterbananen.“, sagte sie Frau. „Wer bist du, dass du Rigastgetreide kennst?“
Maxi kam sich vor wie ein Reisender in einem fremden Königreich. Er würde inmitten auf einem Markt stehen und sich von den Händlern anhören, woher er das angebotene Obst kannte. Und ihm gefiel es.
„Ich bin weit gereist.“, sagte er und stellte sich vor, die Angesprochene wäre eine Bewohnerin eben diesen fremden Königreichs. Wie ein alter Mann nahm er den Blindenstock zur Hand und stützte sich mit den Händen auf das obere Stockende. Er schlüpfte in eine andere Rolle; war nicht mehr Maxi, der blinde Sechzehnjährige.
„Nenn mich Irigion.“, sagte er und verstellte seine Stimme.
„Und wie heißt du, junge Dame?“, indem er mehr auf seine Bänder drückte, klang er tiefer als seine fünfzehn Jahre. Es strengte an mit verstellter Stimme zu sprechen, doch er hatte Spaß daran. Die Rolle als alten weisen Zauberer hatte er sich schon vorstellen können, als er im Kindesalter Herr der Ringe und Game of Thrones gesehen hatte. Sein größtes Vorbild war schließlich nicht umsonst Gandalf.
„Mein Name ist Angy.“, sagte sie nur und hob ihr Obst auf. Er schmunzelte, als er im Hintergrund Kinderlachen und die typische Lautstärke von Menschengetümmel vernahm. Durch die nahe stehende Kirchenuhr hörte er zwei laute Schläge.
„Ich muss dann mal. Die Klinge meines Messers ist stumpf, ich muss sie noch schärfen, bevor ich zur Arbeit gehe. Sonst ist die Küche wieder ganz dreckig und ich bekomme Ärger von meinem Chef.“, sagte die kratzige Stimme zu dem alten Zauberer. Maxi alias Irigion nickte langsam. Es war für ihn an der Zeit zu gehen.
„Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen, Angy.“, sagte Maxi und stand auf. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder!“
"Irgendwie mag ich dich, Irigion.", gab Angy zwischen zwei Räuspern zu verstehen. Es schien ihr unangenehm, dies zuzugeben, denn sie wandte sie bereits ab.
Damit standen beide auf und gingen ihrer Wege.