Maxi glaubte seinen Ohren nicht.
„Du hast ein Meerschweinchen gekauft? Für Maxi? Der blind ist?“, Hannahs Stimme wurde bei jeder Frage höher und quiekte mehr. Maxi wusste nicht weshalb, aber Hannah hatte panische Angst vor diesen Tieren.
„Ja!“, half sich Lisa schnell mit einer Ausrede. „Immerhin ist er doch so allein und hat noch nicht wirkliche Freunde gefunden, seit er aus Kassel nach Karlsruhe gezogen ist.“ Bei jedem weiteren Wort stieg in Maxi weitere Wut auf, als würden gleich seine Ohren pfeifen wie bei einer überhitzten Teekanne.
Hannahs heftiges Keuchen legte sich langsam, bis sie einen überlegten Laut ausstieß.
„Naja, ich finde das ja eine gute Idee.“, fing sie zögernd an, doch Maxi protestierte mit einem Schnauben.
„Aber wir können kein Haustier pflegen. Immerhin steht die Wohnung über den Tag hinweg leer und keiner kann sich um das Nagetier kümmern. Und Maxi hat auch keine Möglichkeit, allein mit dem Tierchen umzugehen. Aber an sich...“, Maxi stellte sich vor, wie Hannah ein überlegtes Gesicht in seine Richtung machte. Gleichzeitig schien Lisas Freude überhand zu nehmen, denn er hörte ihre Füße nervös von einem auf den anderen tippeln.
„Wir sehen weiter, wenn wir wieder da sind!“, entschied seine Tante. Maxi stöhnte auf und seine Schadenfreude verpuffte mit einem Mal.
Hannah sprang in das Schlafzimmer und holte etwas für Luna. Kaum an der Haustür, rann sie nochmal auf Maxi zu, strich ihm liebevoll ein paar Strähnen aus dem Gesicht.
„Es freut mich, dass du dich so gut mit deiner Schwester verstehst!“, flüsterte sie ihm zu, gab ihm einen leichten Abschiedskuss. Maxi musste sich zwingen, keine Anstalten zu machen und wegzurennen. Lisa dagegen bekam nur ein flüchtiges "Tschüss" zu hören. Und damit verschwand sie.
Lisa und Hannah waren nicht miteinander verwandt. Hannah war die Schwester seines Vaters, und Lisa stammte aus erster Ehe seiner Mutter. Bevor er geboren wurde, gab es Lisa bereits. Also schien Ärger vorprogrammiert, sobald Maxi das Licht der Welt erblickt hatte.
„Was sollte das?“, schnauzte Maxi, als Lisa wieder in den Küchenbereich verschwand.
„Ich muss mich halt um das Vieh kümmern.“
„Es ist nicht Mal deins?“, fragte Maxi erstaunt. Was hatte sie sich wieder eingebrockt?
„Es gehört der Schwester meines Freundes. Und seine Familie ist halt die nächsten zwei Wochen im Urlaub und sie hatten keinen, also habe ich gesagt, ich kümmere mich um ihn. Außerdem hat dich das ja nicht mehr zu interessieren!“, Maxi spührte einen warmen Luftzug. Sie schwang wohl drohend mit dem Kochlöffel. Was sie nicht bedachte war, dass die Käsereste nicht an dem Holz kleben blieben und gradewegs in seinem Gesicht landeten. Er war ihr gefolgt, doch scheinbar zu nahe an ihr dran gewesen.
Lisa entschuldigte sich nicht, als er genervt das Essen vom Gesicht entfernte. Maxi wartete nicht ab, ging wütend in sein Zimmer, schlug die Tür demonstrativ zu und warf sich aufs Bett.
Womit hatte er so eine verlogene Schwester verdient, die ihn einfach nur herumschob, wie ihr es passte? Maxi stöhnte genervt, als er die Tür öffnete.
„Essen ist fertig.“, erklang ihre Stimme durch den Spalt.
„Verschwinde!“, rief er ihr entgegen. Sein Hunger war vergangen. Er wollte wieder sinnvolle Dinge tun, wie in seine Gedankenwelt schweben, einfallsreiche Gemüse und Obstsorten probieren, sich schick kleiden und so schnell tanzen, dass seine Partnerin über das Parkett fliegen sollte. Er hatte das Gesicht von Maria im Sinn und spürte seine Wangen erröten.
„Verlierst du dich wieder in deiner Fantasie und bildest dir ein, einen Drachen zu reiten?“, fragte Lisa hämisch. Sie wusste um seine ausgeprägte Fanatsie. Immerhin sind ja beide zusammen großgeworden, bis seine Eltern gestorben waren.
„Der einzige Hausdrache bist du!“, knurrte Maxi. „Und jetzt raus aus meinem Zimmer!“ Seine Schwester kam endlich der Aufforderung nach und schloss schnaubend die Tür.
Er hörte nicht mehr, was sie sagte, sondern verlor sich bereits in dem entstandenen Bild des fremden Königreichs. Eigentlich hatte er in jungen Jahren nur selten Tagträume gehabt, doch ihm gefiel die Erschaffung seiner eigenen Welt. Natürlicherweise kam er dem Drang nach seiner Erblindung nach und hatte eine wahnsinnige Vorstellungskraft entwickelt. So verbrachte er nun die meiste freie Zeit. Mit sich selbst und seiner Fantasie.
Eine Burg im Geiste entstand, auf einer bewaldeten Anhöhe tummelten sich kleine Häuser. Maxi sah den Markt, auf dem sich allerlei Menschen tummelten. Ein Pferd schnaubte unter ihm, als er das weise Ross entdeckte, auf dem er saß. Es schüttelte die Mähne, als Maxi ihm beruhigend auf den Hals klopfte. Das Weis des Reittieres glich fast der Farbe seines langen Bartes. Die runzlige Haut an der Hand zeugte von hohem Alter.
Maxi stellte sich vor, wie er mit einem schwarzen langen Mantel und einem Holzstab zu der Stadt ritt, einsam und allein auf dem Feldweg.
Kaum war der Zauber namens Irigion erschaffen, so krächzten die Vögel der Abendsonne entgegen und das Wasser plätscherte im Bachlauf. Maxi musste zwei Mal hinsehen, als er einen Fisch entdeckte. Der kleine Fisch durchquerte die Wasseroberfläche und sprang aus dem Wasser. Doch der Sprung war zu hoch, sodass das Tier auf dem Feldweg landete und keuchend nach Wasser verlangte. Er zappelte verrückt, als Irigion abstieg und ihn in die Hand nahm. Sofort erklang eine Stimme in seinem Kopf.
„Die Freiheit sei dir gegeben, deine Pflicht sei zu zahlen.“
Maxi sah den geöffneten Maul des Fisches, der verschwand und ihn allein mit dem Ross im Wald zurücklies.