Maxi nutzte die Gelegenheit, um sie zu fragen.
„Mit wem hast du denn eigentlich telefoniert, als Hannah gegangen ist?“, er drehte den Kopf zu ihr und beäugte sie mit geschlossen Augen, um der Frage mehr Deutlichkeit zu verleihen.
Lisa schien etwas verwirrt, doch sie antwortete zögerlich.
„Mit Jannis.“ Er wollte schon Luft holen und fragen, weshalb er sie beleidigt hatte, doch ihr Drang ihm etwas zu erzählen glich einem Wasserfall. Im Redefluss erzählte sie alles auf einmal.
„Ich kann nicht länger so tun, als wäre nichts gewesen! Jannis ist...war... mein Freund und seiner Schwester Julia gehört Jelly. Die hat keine Lust mehr auf das Meerschweinchen und wollte es bereits ins Tierheim bringen, also habe ich es an mich genommen. Das arme Ding tat mir leid. Und weil ich nicht hinter Jannis und seiner Meinung stand, Haustiere seinen zu nichts zu gebrauchen, hatten wir einen heftigen Streit. Als ich dann wie vereinbart zu dir gefahren bin, wurde er noch wütender, weil er davon nichts gewusst hatte. Ich war einfach nur froh ihn los zu sein. Aber er hat mich wieder angerufen und irgendwie war alles Friede Freude Eierkuchen. Er hat nach Jelly gefragt, obwohl das dumme Ding immer gegen den Käfig rennt wie ein Bekloppter. Und dann gestern, nachdem ich ihm von dem Unfall und Luna erzählt habe, meinte er es ginge nur um mich. Also hat er…“ Ihre Stimme brach.
„Er hat mir dir Schluss gemacht?“, ergänzte Maxi prüde. Er kannte Jannis weder namentlich noch persönlich, noch hatte er jemals gewusst, dass seine Schwester so sehr in jemanden verliebt gewesen war. Eigentlich war er froh, dass nicht er derjenige war, der am Telefon beleidigt wurde, doch seine Schwester tat ihm leid.
„Ja.“, bestätigte sie. Ihre piepsige Tonlage war verklungen, sie fing wieder an zu schluchzen. Maxi war nicht gut im Trösten, denn er hatte seine Tränen bereits zu oft freien Lauf gelassen, als dass er jetzt noch welche übrig hatte. Stattdessen lächelte er und fing einfach an zu reden, was ihn in den Sinn kam.
„Es gibt ein fremdes Königreich, in dem wundersame Wesen leben.“ Lisa horchte auf. Er machte einfach weiter.
„Es besteht aus fruchtbarem Boden und weiten Feldern, im Norden die Berge des Eises und im Süden die Roten Dünen. Und im Herzen des Königreichs steht eine kleine Stadt, die Hauptstadt.“
„Wie heißt sie?“, fragte Lisa neugierig. Wie ein kleines Mädchen wartete sie auf seine weiteren Worte. Er zuckte mit den Schultern.
„Wie sollen wir sie nennen?“, fragte er.
„Deleus.“, sagte sie.
„Gut, in der Hauptstadt Deleus gibt es zahlreiche Wesen, die darin leben. Hexen, Zauberer, Feen, Elfen, Menschen. Und ein Zauberer sticht ganz besonders hervor.“ Er grinste. „Irigion.“ Er fand es witzig, sich selbst in höchsten Tönen zu loben, obwohl Lisa keine Ahnung hatte, wer durch Irigion eigentlich verkörpert wurde.
„Magst du in der Geschichte drin vorkommen?“, fragte er.
„Und was bin ich dann?“
„Eine Hexe? Oder der Hausdrache?“, lachte er. Lisa stieß ihm spielerisch den Ellenbogen in die Seite, doch Maxi hörte nicht auf zu kichern.
Mit Tränen in den Augen schlug er vor: „Ein Tier?“
„Ich bin ein Pferd.“, entschloss sie sich. „Ein weises Ross. Und ich heiße Silberhufe.“ Maxi spannte sich leicht an. Wenn sie wüsste, was sie grade sagte, würde sie das genauso erschrecken. Maxi sah in den See, dessen Tiefen ihn zu hypnotisieren schien. Die schwarzen Augen des Fisches sprangen ihm förmlich in die Augen.
„Die Freiheit sei dir gegeben, deine Pflicht sei zu zahlen.“, hatte er gesagt. Hatte er die Freiheit wirklich schon so ausgenutzt, dass er den Preis zahlen musste? Maxis Finger verkrampften sich. Er machte eine Faust und konzentrierte sich. Lisa schwelgte wohl in ihrer Idee eines weisen Reittiers, denn sie beachtete ihn nicht. Es war so unglaublich ähnlich, was in seinem Kopf vorging und in der Realität passierte, dass es ihm teilweise Angst machte. Doch wenn seine Fantasie seinen Alltag beeinflussen sollte, wie sollte er diesen Preis zahlen? Er wusste sich nicht zu helfen.
Es genoss die jetzige Ruhe und die spontan entstandene gute Beziehung zu seiner Halbschwester. War das die Freiheit, von der gesprochen wurde?
In diesem Augenblick klingelte die Melodie einer Boyband. Lisa schrak auf und zerrte das Handy aus ihrer Manteltasche.
„Ja?“, hauchte sie. Maxi konzentrierte sich auf die Stimme. Es war Hannah.
Mehrmals hörte er Lisa „Ja“ oder „Okay“ murmeln, bis sie sich verabschiedete und auflegte.
„Es war Hannah. Luna ist aufgewacht und wir können sie jetzt besuchen.“