Das Summen der sich automatisch öffneten Tür war das Erste, das Maxi störte. Dann diese Ruhe, als würde man auf einem verlassenen Friedhof laufen und nur vereinzelt irgendwelche geflüsterten Worte mitbekommen. Schniefen, Husten, Röcheln und dann wieder Schweigen. Ein Kind meckerte die leicht gereizte Mutter an, die ihn zischend zur Ruhe ermahnte. Das Quietschen der Schuhe auf dem sauberen Parkett und dieser allzu klinischer Geruch hasste es aber am meisten. Seit er sein Augenlicht verloren hatte, konnte er umso besser Hören und Riechen. Und natürlich auch das, was er am wenigsten mochte. Dazu kamen noch die schwitzigen Hände, die rasenden Gedanken, der knurrende Magen, die schlaflose Fahrt von zwei Stunden nach Nordrhein-Westfalen. Er stöhnte und konnte genügend Gründe aufzählen, nicht hier sein zu wollen.
Und es gab einen, der ihn dennoch dazu drängte. Lisa führte Maxi schweigend durch das Foyer. Er musste den Stock draußen lassen, also war er auf Lisa angewiesen.
„Es ist am Boden und der ist nass und dreckig und somit voller Bakterien. Das ist doch vollkommen logisch.“, argumentierte die Personaldame hochtrabend.
Er steckte den Blindenstock doch nicht in irgendwelche fremden Münder, doch das Klinikpersonal bestand darauf, seine einzige Orientierung draußen zu lassen.
Maxi lag bereits ein Kommentar auf der Zunge.
„Das einzige, was voller Bakterien ist, ist Ihr Hirn, Madame! Den brauchen sie ja auch nicht zur Orientierung, oder?!“ Das sagte er allerdings nicht laut.
Lisa schien sein angesäuertes Gesicht richtig gedeutet zu haben, denn sie schnappte sich den Stock, tat ihn in den Schirmständer und nickte bestimmt der Empfangsdame freundlich zu.
„Natürlich!“, trällerte seine Schwester, bevor Maxi seine Ausflüche laut aussprechen konnte. Auf dem Weg zum Sofa ermahnte sie ihn zur Ruhe.
„Wir sind wegen Luna hier und nicht wegen deinem Reflex, alles anzuschnauzen was du nicht magst!“, sagte sie so leise, dass selbst sein feines Gehör nur die Hälfte verstand. Er nickte nur und setzte sich.
Eine halbe Stunde später hörte Maxi die helle Stimme seiner Tante. Hannah raste auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Da sich Hannah nicht um die typischen Krankenhausmanieren kümmerte, schluchzte sie laut.
„Oh Maxi, es tut mir so leid!“, schnäuzte sie in seiner Schulter. Maxi wusste nicht Recht mit der Berührung umzugehen, also ließ er sie gewähren. Er konnte aber Hannah nicht umarmen, etwas hinderte ihn daran.
„Ist schon okay...“, wollte er sagen, doch Hannah schüttelte so energisch den Kopf, dass selbst Maxi es sich bildlich vorstellen konnte.
„Du hasst Krankenhäuser und trotzdem bist du hier! Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Du kannst auch mit Lisa...“,
„Nein!“
Hannah wurde durch einen bestimmten Laut unterbrochen. Doch es war nicht Maxi, der sprach. Lisa stand auf und legte Maxi eine Hand auf die Schulter.
„Darf ich auch mitkommen?“, fragte sie Hannah nebenbei. Seine Tante stimmte zu und ihre Atmung wurde unruhiger. Sie schien nicht wirklich zu wissen, was Lisa vorhatte. Maxi dagegen schon.
„Dann würde ich mit Maxi kurz mal allein zu Luna. Ich glaube, das wäre auch für Luna wichtig.“, ihre Stimme klang äußerst kontrolliert.
„Welchen Plan verfolgst du wieder?“, fraget er, als sie seine Tante und Onkel allein gelassen hatten. Im Aufzug bekam er die nötige Antwort.
„Du kannst nicht immer flüchten, Maxime. Du musst auch lernen, mit solchen Sachen umzugehen. Und grade du verstehst, wie es ist, in einem Krankenhaus nach einem Unfall aufzuwachen und keine Ahnung zu haben, was passiert ist!“
Irgendwie hatte er Lisa die letzten Tage etwas mehr liebgewonnen, aber grade fiel ihre Sympathieleiste auf unter den Gefrierpunkt. Auch wenn Lisa Recht behielt, hasste er seinen Vornamen mehr als deutlich. Und das wusste sie nur zu gut.
„Natürlich, Elisabetha!“, antwortete er säuerlich, in der Hoffnung, sie mochte ihren vollen Namen auch nicht.
Lisa schob Maxi aus dem Aufzug und ging zielstrebig Richtung Lunas Zimmer.
„Und sie ist erst vier. Du bist derjenige, den sie grade am meisten braucht! Ich komme nur mit, damit du nicht wieder verschwinden kannst oder einfach dumm dastehst.“
Lisa blieb vor einer Tür stehen, die mit einem heftigen Luftzug aufgemacht wurde. Maxi konnte nichts erkennen, dennoch wurde er zielstrebig um ein Bett geschoben. Wie ein abgestelltes Paket stand Maxi vor einem Bett. Er sah es wie ein Sehender vor sich. Er spürte das kalte Metall, stellte sich dieses weise Bettlaken vor und die kleine Luna, wie sie mit ihren blauen Kuhaugen ihn anstarrte.
„Hallo Luna.“, sagte er belegt. Das Krächzen konnte unmöglich von ihm kommen. Er schluckte die trockene Kehle. Die kleinen Tropfen, die sich auf seiner Stirn bildeten in Kombination mit den Tränen in den Augen, flossen seine Wange hinunter. Es schmeckte komisch.
„Warum weinst du?“, fragte Luna in ihrer typischen Kinderstimme. Sie klang weder klagend noch weinerlich noch jammernd noch traurig. Einfach, als würde Luna Maxi eine einfache Frage stellen.
Er konnte nicht anders. Sein innerer Panzer bekam Risse, bröckelte und fiel binnen Sekunden auseinander.
„Lisa?“, fragte er seine Schwester noch. Sie gab ihm die nötige Distanz, um die er sie stumm bat, spürte die Matratze unter sich nachgeben. Er fühlte Luna direkt vor sich.
Und umarmte sie.
Und weinte.