Maxi schlürfte noch an seinem Vanille-Kaffee, als Lisa das Telefonat annahm. Er schwelgte immer noch in Gedanken, wenn er an die kleine Luna dachte. Wie sie mutig und voller Elan sich mit ihrem Schicksal abgab. Wenn er an die Situation dachte, bekam er immer feuchte Augen, doch unterdrückte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Besonders, weil er sie nicht bei sich in der Wohnung hatte, sondern immer nur bei den einstündigen Besuchen in seiner Nähe haben konnte.
„Hannah?“, fragte sie und stellte den Hörer auf laut. Maxi strich dem Meerschweinchen gedankenverloren übers Fell. Er hatte Jelly aus dem Käfig geholt und genoss das Tierchen auf dem Schoß. Es fraß ein Salatblatt und auch Maxi aß von seinem üblichen Frühstück. Lisa strich sich gerade ein Brot, als Hannahs Stimme aus dem Telefon erklang.
„Guten Morgen, ihr Beiden!“, begrüßte sie Maxi und Lisa. Beide grüßten müde, wenn auch freundlich zurück. Sie wollten sich gerade wieder auf den Weg machen, um die Vierjährige zu besuchen. Luna war seit drei Tagen im Krankenhaus. Da die Ferienwohnung noch weitere Tage gebucht werden konnte, verblieben Manuel und Hannah bei ihrer Tochter und Lisa bei Maxi. Die Vierjährige machte sich prächtig und ihre Wunden verheilten gut. Nach dem üblichen Geplänkel kam Hannah zur Sache.
„Luna freut sich richtig, wieder nach Hause zu kommen. Ihre Wunden haben sich soweit gebessert, dass wir morgen wieder bei euch sind. Ihr müsst heute also nicht extra kommen. Außerdem packen wir alles Nötige, damit wir morgen fahren können.“, gab sie kurz durch. Dann legte sie wieder auf.
„Deine Tante scheint ja echt durch den Wind zu sein.“, murmelte Lisa gähnend ihn ihre Kaffeetasse.
„Ist ja auch kein Wunder. Sie kam ja jetzt schon nicht mit einem Blinden klar. Und der Tod meiner Eltern hat sie auch mitgenommen. Jetzt ist ihre Tochter auch ein Pflegefall und sie hat nebenbei noch ein Nagetier im Haus, obwohl es sie viel Überwindung kostet, Jelly hier zu behalten.“
Maxi und Lisa hatten Luna nichts von Jelly erzählt. Schließlich sollte es zum Leidwesen Hannahs auch eine Überraschung werden. Die Tante befürwortete das Tier, es würde Luna helfen in den Alltag zurück zu finden. Hannah würde zwar Schwierigkeiten haben, dennoch sprang sie über ihren Schatten und stimmte dem neuen Haustier zu.
„Deine Cousine ist nur zeitweise ein Pflegefall. Du bist immerhin nach drei Monaten damit klar gekommen.“, erinnerte sie ihn.
„Wenn man bedenkt, dass ich komplett allein war und auch keine andere Wahl hatte, dann ja.“, gab er säuerlich zurück. „Du bist zu dem Zeitpunkt ja schon in Kassel gewesen, meine Eltern tot und meine Tante derart überfordert, dass ich mich allein durchschlagen musste. Ja, ich bin innerhalb drei Monaten allein klar gekommen.“
Lisa atmete schwer aus, erwiderte aber nichts. Sie stand auf und richtete sich im Badezimmer.
Maxi gab sich dem süßliche-bitteren Geschmack hin und dachte an letzte Nacht. Die Bilder, die ihm im Geiste rumspuckten, waren sowohl gruslig als auch erschreckend.
Er war wieder als Irigion durch diese Stadt unterwegs gewesen. Silberhufe war komischerweise an seiner Seite. Und als er der Hexe wieder begegnet war mit diesem leeren Blick, hatte er wieder ihr gesagt, dass der Preis zu zahlen ist.
„Es ist nicht viel! Zahle ihn und springe!“, hatte sie ihm zugeflüstert. Maxi stand noch auf dem Außenpfosten und hatte in die Tiefe gestarrt, sich jedoch nicht gerührt. Aus Angst, Panik. Bevor die Hexe in den Himmel emporstieg und ihn plötzlich angegriffen hatte. Als wäre Maxi selbst Irigion, hatte er die Schmerzen gespürt, die durch einen Angriff der Hexe verursacht wurden. Auf der Spitze des Außenpostens rief sie ihm nochmal zu, wachsam zu bleiben und den Blick immer gerade auszurichten.
„Schaue immer geradeaus und springe!“, schrie sie ihm mit schallendem Gelächter zu.
„Irigion?“, fragte eine Stimme neben ihm. Sie wirkte so echt, und doch wusste er, wer es war.
„Angy, du bist die Hexe in meinen Träumen, oder?“, fragte er ohne Begrüßung.
Angy reagierte nicht, als würde sie kurz überlegen. Mit einem Grinsen im Gesicht schien sie zu sagen:
„Finde es heraus, öffne deine Augen. Und finde es heraus.“
Dass Maxi seine Augen seit einem Jahr nicht mehr geöffnet hatte, dafür gab es unterschiedliche Gründe. Doch tatsächlich wagte er es. Das innere Leiden und die stechenden Kopfschmerzen ignorierend tat er wie geheißen. Leichte Lichtreflexe trübten das sonst schwarze Blickfeld. Er konnte Angy direkt vor sich sehen, wie sie mit der kleinen Warze auf der Nasenspitze und das zerzauste rote Haar vor ihm schwebte.
„Du bist keine Küchengehilfin, du bist eine elende Hexe!“, kommentierte er und wollte zur Ablenkung Kaffee trinken. Seit wann war die Tasse bitte leer? Die Flüssigkeit schwebte durch den Raum und folgte den Bewegungen von Angys Fingern. Maxi beachtete ihren Zaubertrick nicht weiter. Er fokussierte sich voll und ganz auf sein Gegenüber
„Was willst du von mir?“, fragte er und stand erschrocken auf. Er würde sich ablenken müssen, sonst nahm es wieder überhand.
„Verliere nie den Fokus! Du hast dich schon seit Monaten nicht gemeldet und meinst wohl, einfach davon zu kommen. So läuft das aber nicht, Maxi. Ich werde mir meinen Preis jetzt holen!“, ihre Lache klang in seinen Ohren, er hielt sich die Ohrmuscheln zu.
Schnell wie eine Rakete raste die heiße Flüssigkeit auf ihn zu. Er schrie.
„Maxime!!“, schrie Lisa und schlug ihm in Gesicht.
Maxi keuchte. Schweiß rann von seiner Stirn. Er schloss die Augen und genoss die augenblickliche Schwärze, als er spürte, wie er in Lisas Armen lag. Beide waren auf dem Boden und neben ihm quiekte Jelly nervös.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie außer Atem. Maxi brauchte eine kurze Minute, um sich auf die Realität zu konzentrieren.
„Sind wir allein?“, fragte er. Lisa schien die Frage zu verwirren, doch sie bejahte.
Maxi entspannte sich und setzte sich auf.
Seine Tagträume wurden schlimmer, realistischer. Er rieb sich den Kopf. Lisa kannte diese Ausfälle nicht, keiner kannte sie. Seine Fantasie schien ein Ort des Rückzugs zu sein und doch waren sie für ihn nicht mehr als ein Albtraum. Ein Albtraum, aus dem er seit des Unfalls nie zu erwachen schien.