Kopfschmerzen waren Maxi bekannt, doch solchen Druck, der in seiner Fantasie aufgebaut wurde, Stand zu halten, strengte ihn an. Seine Nerven waren zum Reisen gespannt, seine Muskeln schmerzten, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Obwohl er sich körperlich nicht bewegte, merkte er, was Angy ihm antat. Doch je mehr er dagegen ankämpfte, desto eher hatte die Hexe gewonnen. Ihre Falle hatte bereits zugeschnappt.
Er trat aus dem Bereich seiner Fantasie, dass er bewusst lenken konnte. Und wurde in einen Teil gezerrt, der bis auf den letzten Winkel mit Schwärze ausgefüllt war. Auch wenn Dunkelheit seinen Alltag umgab, war diese Schwärze anders. Sie war erschreckend, kalt, durchtrieben und hielten seine Erinnerungen fest, die er nie wiedersehen wollte. Diese drangen sich an die Oberfläche, bis es Maxi nicht mehr aushalten konnte.
Mit einem Keuchen gab er nach. Sein Körper erschlaffte auf dem nassgeschwitzten Bett und ließ es mit sich geschehen. Angy lachte im Hintergrund stetig und immer lauter werdend, je schärfer die Bilder wurden. Nur fügten sich die Bilder zu einer Geschichte zusammen. Zu seiner Geschichte. Einer grausamen Geschichte.
Ich wusste nicht mehr, wie alt ich eigentlich an dem Tag geworden bin. Ich musste um sie fünfzehn gewesen sein, als ich mich wie jeder andere Junge in diesem Alter mit den wichtigsten Themen auseinandergesetzt hatte. Sich selbst finden, Streit mit den Eltern. Nur Schwachsinn im Kopf. Mädchen. Liebe. Maria.
Sie war ein Mädchen der Parallelklasse, das ich sehr gemocht habe.
Diese langen braunen Haare, ein bezauberndes Lächeln, eine wirklich grandiose Figur. Jedes Mal musste ich lächeln, wenn ich an den Bushaltestellen an ihr vorbeigelaufen war.
„Hallo Maxime!“, grüßte sie mich. Auch wenn ich diesen Namen hasste, dennoch sprach sie mich mit ihm an. Ich hatte mich ja auch so vorgestellt. Schließlich hatte keiner in meiner Klasse, nein, auf der ganzen Schule diesen Namen. Ich war einzigartig.
Wie blöd er damals gewesen sein muss.
Ein Streber, wie Torsten sagen würde. Er war mein bester Freund. Gemeinsam bildeten wir mit Tim die Nerds der Klasse. Nicht nur, dass jeden Abend gezockt wurde. Wir hatten uns in das System der Schule gehackt und erfolgreich die letzte Schulfeier gesprengt. Keiner wusste, wer die Übertäter im Nachhinein waren. Darauf waren wir mehr als stolz.
Was für ein Mist.
Und wie Fünfzehnjährige eben waren, war oft Alkohol im Spiel. Würden mich auch wundern, wenn man sich mit einer Flasche Bier zufriedengeben würde. Schließlich gibt es Kästen voller Hopfengenuss.
Heute würde er keinen Tropfen von diesem Teufelszeug trinken.
Ich war auf dem Höhepunkt meines Lebens. Ich hatte ein Mädchen, das auf mich stand und das ich liebte. Freunde, auf die ich mich immer verlassen konnte. Ich hatte die besten Schulleistungen, die man sich vorstellen konnte. Und trotz meines Aussehens als relativ magerer Junge ohne wirkliche Körperkraft wurde ich nie Opfer von Mobbing. Im Gegenteil, ich musste der Beste der gesamten Schule gewesen sein!
Was für ein Schwachsinn!
Von meiner Familie mal abgesehen, konnte mir keiner das Wasser reichen oder mich von meinem Hohen Ross runterbringen. Niemand würde man mir diese Zeit nie wieder nehmen können. Nichts auf der Welt würde dafür sorgen.
Natürlich dachte er als Halbwüchsiger so, der keine Ahnung von der Welt hatte. Absolut keine Ahnung.
Wir waren wieder bei Tim. Sein Vater hatte einen Hinterhof mit Schuppen, an dem wir regelmäßig trafen, austobten. Maria war da, wir hatten geküsst. Lief da noch mehr? Keine Ahnung, ich hatte schon ziemlich einen an der Kante.
Es muss schon ziemlich spät gewesen sein.
„Maxime!“, hörte ich die nervige Stimme meiner Mutter sagen. Sie war Krankenschwester, als würde sie mich wie immer tadeln. Ich bin doch erst 15, wieso ich auch immer so viel trinken muss.
Hätte er auf sie gehört, wären sie noch am Leben? Nein. Der Unfall war nicht seine Schuld. Aber dass sie an diesem Tag im Auto gesessen hatten. Wenn sie ihn nicht abgeholt hätten, ... Die Bilder formten sich weiter auf der Kinoleinwand, dessen Projektion er mit schreck geweiteten Augen weiter verfolgte.
Mein Vater als IT-Spezialist für Sicherheit in Betriebssystemen war das egal, solange „er keinen dummen Sachen mache!“, sagte er immer. Lisa war eh wieder irgendwo weg, also hatte ich keine weiteren Verpflichtungen.
Meine Eltern holten mich an diesem Tag mit dem neuen roten BMW ab. Ich war so stolz auf das Prunkstück, denn es war auch ein Statussymbol. Mein Vater verdiente gut, sehr gut. Wieso sollte ich auch nicht stolz sein. Mein Leben lief eben.
Geistig schnaubte er.
Ja, es lief bergab, aber das wusste sein früheres Ich nicht.
Ich lief zum Wagen und gab Maria einen Kuss. Das Versprechen, wir würden uns morgen wiedersehen, hielt ich.
Dennoch anders als gedacht, fügte er gedanklich hinzu.
Mein Vater saß am Steuer.
„Na, wieder zu viel getrunken?“, fragte er mit Hohn in der Stimme. Ich grunzte irgendwas und scheuchte meine Mutter auf den Beifahrersitz. Mann, war ich voll gewesen.
Mein Vater fuhr den Wagen, mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
Mit einem Mal drehte sich alles, ich musste würgen. Das Geräusch schrak auch meine Mutter auf, denn sie fuhr das Fenster herunter. Im Hintergrund das Lachen meines Vaters.
Mit frischem Wind im Gesicht kotzte ich alles, was ich hatte, aus dem fahrenden Auto. Hinter uns hupte jemand, wohl das arme Schwein, dass meine Kotze mitten auf die Windschutzscheibe abbekommen hatte.
Und jetzt fängt es an, dachte Maxi. Jetzt kommen die Sekunden, die er nie wieder vergessen würde. Als wäre er selbst in diesem Film gefangen, als wäre er selbst der kleine dürre Junge, der er einmal gewesen war.
„Nein!“, hauchte er nur. Tränen traten ihm aus den Augen und als wäre das nicht genug, fing der dürre Leib an zu zittern.
Alles drehte sich. Die Dunkelheit brach über mich herein und kommt anschließend wieder. Immer wurde werde ich bewusstlos und wache auf. Was hatte man mir ins Bier gemischt?
Mein Mageninhalt war draußen, dennoch war mir schwindelig. Die Welt drehte sich. Ich hörte die Worte meine Eltern nicht mehr, die vor mir lachten. Auf der Rückbank nahm mich alles dumpf war. Als wäre das ein schlechter Film. Als wäre ich gar nicht da.
Mein Blick in die Dunkelheit offenbarte mir eine mir unbekannte Person.
Eine Hexe mit roten Haaren, einer Warze auf der Nase. Vor solch einer sollten man eigentlich keine Angst haben. Aber nicht, wenn man realistische Albträume hatte. Wenn man alles so hautnah miterlebt, als wäre man selbst das leidende Opfer in einem kranken Psycho-Thriller.
Das war seine Achillesferse. Keiner wusste, dass er eine so ausgeprägte Fantasie besaß, keiner wusste, dass diese Fantasie in seinem Alltag so fest verankert war wie das Atmen anderer. Er hatte es bisher immer geschafft, davon gedanklich Abstand zu nehmen und es so zu akzeptieren, dass er keine Nachteile davongetragen hatte. Es zu unterdrücken und damit sein innerstes Ich in eine Kiste einzusperren, das nie mehr nach außen treten sollte. Er hatte es bis zu diesem Zeitpunkt kontrollieren können. Auch in diesem alkoholischen Rauschzustand. Bis der Knall kam.
Dennoch fühlte es sich so an, als würde in mir alles zerbersten, mein Schädel platzte gleich wie ein Luftballon bei zu hohem Druck. Meine Ohren rauschten. Mein Blutdruck erhöhte sich auf das Maximum. Diese Hitze in meinem Körper sprengte meinen Verstand, die Gedanken rasten, als wäre der Leibhaftige hinter mir.
Angst umwallte meine Gedanken, die Panik lähmte mich.
„Hilfe!“, flüsterte ich durch die trockenen zerrissenen Lippen. Das waren meine letzten Worte, bevor ich zusammenbrach. Der Knall ertönte im Vordergrund, die Schwärze brach über mich herein.
Und wurde zu einem Teil meines Lebens.