Irigion lag nicht mehr auf dem Boden des Außenpostens. Er war an eine Höhlenwand gekettet, die dünnen Arme des alten Mannes über dem Kopf mit Eisenketten fixiert. Die Atmosphäre war durch die Kälte in einen blauen Schleier gehüllt. Sein magerer Leib zitterte, als der Adrenalinstoß abklang und er einfach nur erschöpft zusammensank. In seinem Kopf drehte sich alles, ihm war schwindelig
„Ich habe dich gefangen!“, erklärte die Hexe mit säuselnder Stimme. Die grauen Augen wurden aufgeschlagen, als Irigion die bucklige Gestalt sah. Das Grinsen wurde breiter, als wäre sie mit ihren Foltern noch nicht fertig.
„Dachtest du, du könntest mich besiegen?“, fragte sie noch. Angy stand neben einem brodelnden Kessel. Das Feuer darunter züngelte bedrohlich, als würde die Hexe ihn wie in einem Märchen nun verspeisen.
Irigion zuckte leicht mit den Schultern, was in seiner Position ein wenig schwierig war. Zu mehr war er nicht im Stande. Es war nicht das erste Mal, dass diese Bilder über ihn hereinbrachen. Aber das erste Mal, dass jemand ihn aktiv manipuliert hatte. Und das in seinem eigenen Verstand. Kopfschüttelnd gab er sich geschlagen und sank schlussendlich völlig zusammen. Das Rasseln der Metallketten erklang an den Höhlenwänden wieder.
„Ich bin noch nicht fertig!“, grinste die Hexe und seine Umgebung verschwamm. Maxi ließ es mit sich geschehen. Dass die Gefühle wieder so erlebt wurden, wie beim ersten Mal. Dass sein Verstand all die Schmerzen wieder sprühte. Dass er wieder dieser kleiner schwache Junge von damals wurde, sodass all das, was er zum eigenen Schutz um diese kleine verschlossene Kiste aufgebaut hatte schien, sofort zusammenbrach.
Die Umgebung entglitt ihm abermals, sein Körper schüttelte sich und er erinnerte sich.
Ich schlug die Augen auf. Schwärze umgab mich. Nein, ein paar Lichtsprenkel waren zu erkennen. Ich blinzelte mehrmals und spürte etwas Schweres auf den Augen. Kein Wunder sah ich nichts. Immerhin hatte ich meine Decke über meinen Kopf gezogen. Kaum hob ich meine Hand, wurde ich davon abgehalten.
„Nicht!“, sagte meine Schwester neben mir. Lisa war hier? Ich blinzelte wieder. Warum konnte ich nichts erkennen? Warum hörte sich Lisa so komisch an? Was war hier los? Mein Blutdruck schoss in die Höhe, als ich mich an den Aufprall erinnerte. Wir hatten einen Autounfall. Meine Ohren rauschten wieder und ein Stechen an den Augen ließ mich zusammenfahren.
„Maxime!“, wollte Lisa anfangen, doch sie wagte es nicht, mich zu berühren.
„Ich will alles wissen!“, fuhr ich sie an. „Alles!“, der weinerliche Ton kam tatsächlich von mir.
Und so hörte ich es. Der Tod meiner Eltern.
Glassplitter waren mir in die Augen gelangt, als ich bei dem Verkehrsunfall durch die Windschutzscheibe gekracht war. Ein Auto vor uns hatte stark gebremst und Papa war zu schnell unterwegs gewesen. Lisa lies keine Details aus und füllte ihre Erzählungen mit Farben und Formen, beschrieb alles, was sie gesehen hatte. In der Hoffnung, sie würde mir nichts vorenthalten.
Ich sah es bildlich vor mit. Der umgekippte rote BMW vermischte sich mit dem stetig fließendem Blut meiner Eltern. Der leblose Arm meiner Mutter, wie er aus dem Auto ragte. Ich wollte ihn greifen, doch das ewig drehende Blaulicht der Polizei und Einsatzkräfte machten mich wahnsinnig. Weit entfernt schrillten die Sirenen und holten die leblosen Körper aus dem zerbeulten Wagen.
Ich schrie im Inneren, mein gefährliches Innerstes sollte sich öffnen, die Kiste, die ich seit jeher verschlossen hatte. Ich schaffte es, meine Tränen fließen zu lassen. Das war der einzige und letzte Moment, an welchem ich diese Gefühle zuließ.
Sofort baute ich innerliche Mauer auf, zog sie hoch, bis sie meterdicke Wände hatten.
„Du wirst nie mehr sehen können! Nicht richtig jedenfalls!“, sagte sie. „Der Arzt meint, dass du Lichteinflüsse noch wahrnehmen kannst, aber ansonsten für immer dein Augenlicht verloren hättest.“
Und das war Moment, an dem mein Leben gestorben war. Mein Inneres war leer. Verdorrte. Tot.
Die Gefühle in einer kleinen Kiste verstaut, verschlossen und sollten für immer in den Tiefen meiner gedanklichen Schwärze hinter dicken Mäuer in Vergessenheit geraten.
Torsten und Tim waren die Ersten, die mich besuchen kamen. Sie erzählten mir von dem Schulalltag, doch kamen immer seltener. Maria war es, die mich zwar regelmäßig besuchte, aber die Liebe zwischen uns verflog schnell. Sie hatte einen neuen, meinte sie.
Lisa kam unregelmäßig, wegen ihres Studiums, meinte sie immer.
Ich lernte schnell, mit dem Blindenstock umzugehen. Ich half mir selbst, brachte mir die Blindenschrift bei. Ich wollte wieder in die Schule gehen, meinen Alltag meistern und wieder allein klar kommen. Und damit verschloss ich mein Ich im Inneren.
Meine Tante und Luna waren es, die regelmäßig übers Jahr verteilt kamen. Sie erzählte mit von der Beerdigung, von ihrem Leben, von Luna, die mich in die Arme schloss wie ihren eigenen Bruder.
Ich zog bei ihnen ein, bekam ein eigenes Zimmer.
Doch aß ich nicht viel, dachte mehr. Und ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.
Maxime, der ausgelassene Schüler war gestorben.
Maxi, der blinde Fantasievolle war geboren.
Ich hielt mich oft an die Bilder, die mir noch geblieben waren und formte sie. Dachte an die schönen Formen und Farben, an Erlebnisse und Erinnerungen. Ich hielt mich an mein Inneres, meinem Kopf, meiner eigenen Welt. Trotz der Angst, meinen schlimmem Tagträume könnten wieder so realistisch wiederkehren wie am Tag des Unfalls im Auto.
Das Lachen der Hexe weckte ihn aus dieser Erinnerung. Maxi hing nicht mehr an der Wand, er war nicht mehr in Gestalt Irigions unterwegs. Er war nun er selbst, seine Umgebung war völlig schwarz.
Die dürre Gestalt, die er damals gewesen war, lag auf dem kalten Steinboden. Die Sorge, Angst und Panik zerfraßen ihn von innen. Die meterdicken Mauer lagen bröckelnd auf dem Boden. Wie
Vor ihm tat sich ein See auf, der am Grund leuchte. Maxi sah Angy nicht mehr, stattdessen aber einen Fisch, der sich vor ihm auftat und ihn mit tiefen schwarzen Augen ansah. Es war der Gleiche. Seine Augen weiteten sich. Er wurde von ihm in die Tiefen des Sees gezogen, wenn er nach Freiheit verlangte. Diese Illusion kam ihm das erste Mal des nachts, als er mit einer Krankenschwester auf offene Straßen ging und er zum ersten Mal seinen Blindenstock führte. In dieser Nacht erschien ihm die Berge, der prächtige Nachthimmel, der saftig grüne Rasen, der See und die wohlige Tiefe.
Er zitterte leicht, als er sich an den Traum erinnerte, den er vor kurzem gehabt hatte. Es war der gleiche Fisch, da war er sich sicher.
Der bunt geschuppte Fisch öffnete das Maul und sprach.
„Deine Freiheit.“, sagte er nur und wartete auf Maxis Antwort. Er zitterte, als die Erinnerungen noch ihren Nachklang hatten. Maxi sah auf, erkannte die rötlichen Schuppen des Tieres. Er starrte in diese schwarzen Augen.
„Was willst du von mir?“, fragte er den Fisch.
„Ich bin ein Teil von dir selbst, Maxime!“, antwortete der Fisch mit sanftem Tonfall. Maxi traute seine Augen nicht, als der See blau leuchtete, Korallen sich auftaten und er eine völlig bewohnte Unterwasserwelt unter der Oberfläche sah.
„Deine Angst und Panik vor dem, was geschehen war und wird. Daraus wurde die Hexe! Du hast sie erschaffen, damit du einen Grund hast, dich zu hassen.“
Maxi verstand nicht, doch horchte auf. Es dauerte ein paar Minuten.
Sein Ängste und Panik hatten unbewusst seine Gefühle personifiziert. Diese hässlichen und wirren Gedanken, die er mit Logik nicht erklären konnte. Die Freiheit, einfach nicht mehr mit diesem Gefühlen leben zu müssen. Die Trauer, Panik und Angst aufgrund des Unfalls vor dem Neuen Unbekannten ergaben die wirre Hexe, die ihn wieder seit neustem verfolgte. Durch Lunas Unfall erinnerte er sich an sich selbst und dadurch litt sein innerer Panzer. Er hatte Gefühle zugelassen und somit erschien ihm nun wieder Angy in Form der Hexe.
Er war so klar, und doch hatte er nichts verstanden.
Der Fisch schwamm zurück in die Tiefe, sodass Maxis Umgebung wieder dunkler wurde.