Die Umgebung brach ab, als Maxi aufschreckte. Er hörte jemanden in seinem Zimmer. Das Zittern kam unkontrolliert, als Lisa nähertrat.
Sie nahm ihn bei der Hand und strich zärtlich über den Handrücken.
„Alles gut. Ich bin´s nur!“, sagte sie leise. „Wie wäre es mit einem Bad? Heißes Wasser steht schon bereit.“
Maxi nickte gedankenverloren. Die Gedanken drehten sich, der Puls beruhigte sich langsam. Er hatte den Tripp durch seine persönliche Höhle hinter sich, hatte den Unfall hautnah miterlebt und hatte den Todeswunsch in mehrfacher Aufführung ein Jahr mit sich herumgeschleppt, ohne dass er selbst wusste.
Er wurde von seiner Schwester ins Badezimmer geführt, roch einen rosigen Duft zwischen dem schweren Dampf. Es fühlte sich wie Nebel an. Diese schwebende Nässe auf der Haut zu spüren wirkte beruhigend.
„Macht es dir was aus, wenn ich bei dir bleibe?“, fragte sie. Sie hatte wohl Sorge, dass er wieder in eine Panikattacke verfiel.
Er schüttelte den Kopf, entledigte sich seine Kleider. Bis vor einer Woche hätte er sie schreiend aus dem Bad verjagt, doch jetzt brauchte er Gesellschaft. Etwas, nachdem er sich auf gesehnt hatte und jetzt klammern würde. Er lachte auf und trat mit dem linken Fuß in die Wanne.
Genüsslich nahm Maxi die Wärme auf, die Kälte verschwand sofort aus seinen steifen Gliedern. Er gewöhnte sich an die Wärme, die mehr einer Hitze glich, legte den Kopf ans Wannenende und hörte seine Schwester zu, wie sie sich mit dem Wäscheholzkorb an die Wanne näherte.
„Gehts dir besser?“, fragte sie und Maxi nickte. Sie setzte sich auf den knarzenden Wäschekorb.
„Danke.“, sagte er leise und meinte es auch so. Für alles. Auch wenn seine Stimme sich anhörte, als wäre sie weit weg.
Sie schien ihm die Ruhe und Zeit geben zu wollen wie er ihr, doch sie platzte vor Neugier. Er musste schmunzeln, als er diese Unruhe spürte.
Sie gab ihm keine fünf Minuten, als das Knarzen des Wäschekorb alle drei Sekunden zu hören war. Sie rutschte wohl mit nervös auf der Sitzgelegenheit hin und her.
„Du wolltest mir etwas erzählen!“, forderte sie kleinlaut. „Ich habe noch nie so schnell einen Einkauf erledigt wie jetzt. Ich habe mir Sorgen gemacht, Maxi. Dass du…“
„Dass ich mir etwas antue?“, beendete er den Satz und sie schien zu nickend. Ein Aufkeuchen, dann ein unterdrückter Huster. Seine Schwester weinte. Er nahm seine nasse Hand und suchte nach ihrer. Er brauchte Halt, um ihr alles zu erklären. Ihr es erklären zu können.
Doch als wäre es viel zu einfach, fing Lisa einfach ein.
„Erzähl mir mal, was Irigion eigentlich für ein Magier ist und wie er mit Silberhufe durch das Land zieht!“, sie schien seine Geschichte einfach aufzunehmen.
„Es ist die Hexe, nicht wahr?“, fragte sie weiter. „Deine Hexe ist diejenige, die Irigion zu Fall bringt!“
Maxi brauchte eine Weile. War er so durchschaubar? Schließlich gab er nach und erzählte ihr die Geschichte. Ihn als der Magier, der vor einem Jahr erschaffen wurde und immer Maxis Begleiter zu sein schien.
„Irigion war ein mächtiger Magier, der immer alles konnte und jeden beschützte. Eines Nachts verlor er aber alles, weil er etwas gesehen hatte, dass er nicht hätte sehen sollen.“
„Was hat er gesehen?“, fragte Lisa. Ihr Finger krallten ich in seine nasse warme Hand. Der Nebel schien Maxis Kehle schleichend zu umfangen, seine Stimmbänder schmerzen bei der Anstrengung, einfach so alles von ihm Preis zu geben. Er erwog, alles umschweifend zu erklären, doch irgendwie wollte er so schnell wie möglich hinter sich haben.
„Er hatte schlimme Albträume, die am Tag wahr wurden. Er fühlte sie, als würden sie ihm tatsächlich passieren. Fast wie eine Psychose.“, gab er kurz zu. „Irigions Fantasie war stark ausgeprägt. Er hatte es oft unter Kontrolle, doch manchmal überkamen ihm die Gedanken und er konnte gegen die Hexe nicht ankommen, die ihn verfolgte. Und er teilweise den Wunsch nach Freiheit verspürte, der nur durch den Tod gewonnen werden könnte.“ Wenn Maxi nun weinte, dann wegen der Anstrengung, die ihm die Wahrheit gekostet hatte.
„Hat Irigion denn jemals Hilfe angenommen?“, fragte Lisa. Es war eine rhetorische Frage, denn sie erzählte weiter.
„Die Geschichte von Silberhufe ist ähnlich.“, sie schien zu lächeln. „Ein weises kleines Pferd inmitten ihrer Herde wurde nicht wirklich als Teil der Familie gesehen, weil es gerne ausgelassen feierte und oft weggerannt war. Vor ihren Gefühlen und vor den wichtigen Dingen des Lebens. Und als es sich in jungen Jahren in ein Brauen verliebte hatte, war sie vollkommen glücklich. Doch das braune Pferd beachtete sie nicht weiter, als er einen wunderschönen koralllenroten Fuchs kennen lernte und beide ein Paar wurden.“ Ihre Finger schlossen sich fester um seine.
„Zwei Jahre hatte Silberhufe gehofft, dass der Braune sich noch umentscheiden würde. Es war ein Hin und Her. Mit Trauer im Geiste zog Silberhufe durchs Land und traf zufällig den Magier, der einsam und allein war. Beide verstanden sich anfangs nicht sonderlich, aber irgendwie mochte Silberhufe den Magier namens Irigion. Und wollte für immer an seiner Seite bleiben!“
Ihre Stimme wurde leiser, je mehr sie erzählte. Sie hatte eine sanfte Tonlage angenommen, ein Singsang, der sich in Maxis Gehör wie ein Engel anhören musste.
Lisa lachte auf.
„Du weinst ja.“, sagte sie und drückte seine Hand.
„Ich war damals nicht an deiner Seite, als du mich gebraucht hast.“, sagte sie. „Deswegen werde ich jetzt umso mehr für dich da sein!“
Maxis freie Hand fuhr zu seiner Wange und wusste nicht, wie Nebel und eine kleine fiktive Geschichte eine solche Wirkung auf ihn hatten. Seine Augen brannten, aber nicht wegen der Seife im warmen Wasser.
Am Abend kuschelten sich beide zusammen und hörten Radio. Es gab einen Jazz-Abend und Maxi trank Tee, während Lisa den Wein köpfte. Beide lachten ausgelassen und erzählten sich Geschichten aus Kindertagen.
Als Maxi das schlafende Etwas an seiner Schulter spürte, als Lisa leise schnarchte, überkam ihn zum ersten Mal ein Gefühl der Freude, Zusammenhalt. Das warme Gefühl von Liebe umschloss ihn und im Geiste zogen sich die Ketten der Geschwisterliebe zusammen und wurden stärker.
Er hatte keine Angst mehr, in die Dunkelheit hinabzutauchen, denn sein weiser Schimmel würde ihn begleiten. Mit diesem Gedanken schlief Maxi ein und sank hinab. Ließ seine Gedanken frei schweben und verfiel in einen traumlosen Schlaf.