Maxi wurde durch das Rauschen und Rascheln mehrerer Taschen wachgerüttelt. Seine Glieder waren streif und der Nacken schmerzte. Er hatte sich an der Sofalehne ausgeruht und war tatsächlich eingeschlafen. In sitzender Position hatte er die ganze Nacht geschlafen, also kein Wunder, wenn er sich sowohl müde also auch fluchend den Nacken rieb.
Kaum bekam er mit, dass Lisa nicht mehr neben ihm lag, wurde er von einem kleinen Bündel herzlich in den Arm genommen.
„Maxii!“, rief die kleine Luna ihm entgegen. Er war so überrascht, dass er sofort lächeln musste. Er kniete sich hin und nahm die kleine Luna hoch. Sie kicherte ständig vor sich hin und hielt ihn fest an dem Oberteil gepackt.
„Warum bist du gestern nicht gekommen?“, schmollte sie dennoch gleich. Ein bisschen verwegen strich Maxi mit der Hand über den immer noch vorhandenen Verband an ihrem Kopf. Anhand ihrer Stimme und ihren Griffen erkannte er, dass Luna nicht mehr wirklich eingeschränkt war. In ihrer Situation hatte sie wohl unbewusst angefangen, mit ihrem neuen Handicap umzugehen.
„Weil ich eine Überraschung für dich habe!“, sagte er etwas lauter, damit Lisa ins Wohnzimmer kam. Nach einem fröhlichen "Guten Morgen" stellte Maxi Luna wieder auf die Füße und strich ihr über den Kopf.
„Wooo?“, Lunas Kinderstimme verfiel in die höchsten Oktaven, als Lisa sie in ihr Kinderzimmer führte. Gleichzeitg hörte Maxi Taschen ins Wohnzimmer stellen und mehrmals ein Schnaufen, bis er Hannah ins Zimmer schleichen hörte. Der Geruch von Kaffee stieg ihm in die Nase.
Wie lange hatte er eigentlich geschlafen?
„Hallo Maxi!“, begrüßte Hannah ihn und blieb vor ihm stehen. Sie wusste wohl nicht wirklich, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er machte es ihr einfach und nahm sie wenn auch etwas steif in den Arm. Ein überraschter Laut entfuhr ihr, bis sie zögerlich die Umarmung erwiderte.
Im Hintergrund hörte Maxi die Kaffeemaschine surren. Er hatte spontan etwas entschlossen, was ihm einige Überwindung kosten sollte.
Er setzte sich an den Küchentisch und nahm dankend die nach Vanille riechende Tasse Kaffee von Manuel entgegen.
Im Hintergrund hörte er, wie das Quieken seiner Cousine dem Meerschweinchen gleichkam.
„Ein Hamster!“, schrie sie aufgeregt. Maxi lachte auf und Hannah schnaubte. Gleich daraufhin wurde sie von Lisa berichtigt, um welches Tier es sich wirklich handelte. Die Geschwister hatten am Abend ausgemacht, dass sie beide eine Rolle zu übernehmen versuchten. Lisa würde sich derweil um Luna kümmern, während Maxi sein Vorhaben in die Tat umsetzte.
Er holte tief Luft und fing an.
„Ich muss euch was gestehen.“, wieso konnte er so gut fiktive Geschichten erzählen, aber bei der Wahrheit tat er sich so schwer? Lisa hatte ihm geraten, Hannah und Manuel über seine schlimmen, fast schon realistischen Tagträumen zu berichten, sodass ihm bei erneutem Anfall besser geholfen werden könnte. Er hoffte nur, dass seine überfürsorgliche Tante keinen Herzinfarkt erleiden würde und der der sonst so stumme Manuel ihn komplett vergessen würde. Angst schlich sich durch seinen Verstand, sein Atmen ging schneller. Die Zunge wurde mit einem Mal schwer wie die plötzliche drückende Luft um ihn herum. Der bereits vorhandene Schluck Kaffee rumorte in seinem Magen und hinterlies neben den bitteren Geschmack im Mundraum auch einen stechendes Ziehen in der Magengegend. Er krallte sich Hilfesuchend an diese warme Kaffeetasse, dessen Dampf nach Vanille roch. Er musste schlucken, es tat in der trockenen Kehle weh. Ihm wurde plötzlich warm.
Eine kühle Hand strich ihm über die Finger, als er ein Stuhl zurück rücken hörte. Er roch Hannahs Parfüm neben sich, als sie ihre kühlen Finger auf seine Hand legte.
„Was gibt’s denn?“, fragte sie sanft. Sie hatte von Natur aus, wie Vater einen Touch zur Kühleu und eine Abneigung zur Hitze. Hannah riss gern die Fenster bei kaltem Wetter auf, wenn Maxi bereits innerlich zum Eisklotz wurde. Manuel schien sich nie zu beschweren und auch Luna hatte sich scheinbar an die kalten Temperaturen in der Wohnung gewöhnt.
Er holte nochmal Luft, dankbar schaute er zu Hannah und fing an zu erzählen. Es würde dumm klingen, er würde ausgelacht werden. Er würde Spott und Hohn ernten.
Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Der letzte Satz war gesprochen, das letzte Wort entwichen, der letzte Atemzug getan. Stille breitete sich aus, als Hannahs Finger sich leicht verkrampften. Sie hatte mit Luna sowieso schon genügend Sorgen und mit einem blinden Neffen erst recht. Als Köchin verdiente sie zwar gut, aber das würden die privaten Sorgen nicht aufwiegen, wenn auch der Job in der Küche alles andere als entspannt war. Das wusste er nur zu gut, wenn sie abends spät nach Hause kam und über ihrem Stress berichtete.
Manuel brummte etwas und schlürfte an der Tasse. Da er hauptsächlich durch Gestik und Mimik kommunizierte, fiel es Maxi schwer, seinen Onkel einzuschätzen. Maxi glaubte, ihn niemals reden gehört zu haben.
„Maxi...“, fing endlich Hannah an. Er hielt die Luft an, kniff die Augen zusammen und erwartete alles Negative, dass ihn in den Sinn kam.
„Ich bin dir dankbar.“
Seine Lungen entwich die Luft wie bei einem zerdrückten Ballon. Erleichterung machte sich ihn ihm breit, als er seine Tante weiter zuhörte. Sie holte abermals tief Luft.
„Dafür, dass du ehrlich zu uns warst. Ich hatte schon gedacht, dass ich dich zu sehr bemutterte. Ich war ehrlich gesagt überfordert, mit dir umzugehen, weil du nie jemanden an dich herangelassen zu haben schienst.“ Er hörte einen weiteren tiefen Atemzug. Ein Zittern in ihrer Stimme ?
„Und nachdem Luna jetzt auch auf einem Auge nur noch vierzig Prozent sieht, hatte ich ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.“ Ihre Ehrlichkeit überraschte ihn nicht.
Hannah zeigte gerne Gefühle, weinte oft und lachte umso mehr. Wie sie jetzt zu lächeln schien. Er stellte sich ihre markanten Grübchen vor und die verzogenen vollen Lippen.
Seine Schultern entspannten sich leicht, als sie die Hände von seinen schweißnassen nahm. Er dachte, sie würde einfach aufstehen, doch er hörte links von sich einen Stuhl schieben.
Er roch grade noch kalten Zigarrenrauch als er von Manuel in den Arm genommen wurde. Und Hannah tat es ihm gleich.
„Wir sind froh, dich zu haben, Maxi. Und wir werden eine Lösung finden. Versprochen!“
Er musste tatsächlich lächeln, als er Hannahs feuchte Wange an seinem Gesicht spürte.