"Luna!", rief Maxi seine kleine Cousine entgegen. Lisa zog sich neben ihm noch das Paar Schuhe an und mühte sich stöhnend mit den viel zu langen Schnürsenkeln ab.
Die kleine Vierjährige trottete durch den Flur und summte vor sich hin. Maxi würde Hannah und Manuel ein paar Stunden Zeit geben, sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen. In dieser Zeit würde Maxi seiner Cousine den Spielplatz zeigen, den er mittlerweile sogar ohne Probleme selbst fand. Lisa kam mit, zum einen aus Sorge um ihm, zum anderen als zusätzlichen Aufpasserin für Luna.
"Tschüss, Jelly.", rief sie ihrem neuen kleinen Freund hinterher. Hannah gab ihrer Tochter einen kleinen Kuss, verabschiedete sich mit einer schnellen Umarmung. Als die Köchin an Maxi herantrat, wusste er sofort um ihre ersten Worte.
"Pass bitte auf dich auf.", ihre ständige Sorge um ihre Tochter war berechtigt, dennoch war der Sechszehnjährige selbst in der Lage, gefahrlos einen Spaziergang zu machen. Außerdem war Lisa dabei. Vor allem war es eine Wegstrecke, die er allein gefunden hatte, ohne jegliche Hilfe.
Obwohl Maxi die Bereitschaft ihrer Hilfe und ihr Verständnis für seine Situation zu schätzen wusste, wurde er nun eher wie ein rohes Ei behandelt als ein fast erwachsender junger Mann. Lisa wurde weder getadelt beim Essen, noch wurde ihr die Gefahren jeglicher Alltagssituationen genaustens beschrieben. Er verdrehte innerlich die Augen, hielt allerdings den Mund. Die Wahrheit war schwer über seine Lippen gekommen, also hatte er keine Lust mehr, über Belangloses zu diskutieren.
Luna nahm ihn bei der Hand, in der Linken den Blindenstock. Die Drei traten nach außen und liefen den kurzen Weg von zehn Minuten zum Kinderspielplatz. Während des Weges wurde wenig gesprochen. Luna lachte immer wieder und summte vor sich hin. Doch anders als erwartet zog sie nicht an seiner Hand oder riss sich von ihm los wie ein kleiner Wirbelwind. Sie lief ruhig neben ihm her und konzentrierte sich auf seine Laufgeschwindigkeit. Manchmal passte sie sogar ihre kleinen Schritte auf ihn an, wenn er langsamer wurde. Auch wenn unterbewusst erfüllte Stolz seinen klaren Kopf. Seine Cousine kam mit solcher Leichtigkeit mit ihrem Handicap klar und gab sich so cool, wie er es nie sein könnte.
Er befürchtete, dass Angy vor seinen Augen auftauchen könnte. Doch er erinnerte sich, dass sie bevorzugt angriff, wenn er allein war. Solange also Lisa oder Luna an seiner Seite liefen, würde ihm nichts geschehen.
Am Spielplatz angekommen, tippelte die Kleine nervös umher. Das Kindergeschrei war laut und störend, doch irgendwie auch voller Leben und Glück.
Maxi lächelte, als er sich auf die übliche Bank setzte und Luna freigab. Sofort sprang sie los und er hörte die schnellen Schritte im dumpfen Sand. Lisa würde ein Auge auf die Kleine haben. Und so gut, wie Luna sich orientieren bereits konnte, würde auch Maxi keine Bedenken haben, dass der Kleinen etwas passierte.
Ein Quietschen ertönte nach ein paar Minuten sowie ein helles Lachen.
"Huii", rief sie, als das Quietschen aufhörte und ein dumpfes Metallgeräusch folgte bei jedem weiteren Schritt auf der kleinen Sprossenleiter der Rutsche. Beim Klettern war Luna fix.
"Du machst dich gut als großer Bruder!", lobte Lisa ihn und setzte sich an seine Seite. Sie gab ihm durch eine kleine Distanz den benötigten Abstand, den er brauchte. Es war teilweise zu viel für ihn gewesen, was er die letzten Tage durchgemacht hatte. Und doch fühlte er sich zum ersten Mal wirklich leer im Kopf. Nichts wirbelte wirklich in seinen Gedanken oder bereitete ihm Sorgen. Als wäre sein Kopf mit Watte gefüllt, trieben sie wie kleine Schafwolken im Geiste ruhig und friedlich vor sich hin. Einen Zustand, den er seit dem Unfall bisher nie erlebt hatte.
Er lächelte wie ein alter Opa auf dem Balkon, der zufrieden war mit den einfachen Dingen im Leben. So stützte er sich auf den Blindenstock und hörte der kleinen Luna zu, wie sie mit ebenso wenig wie er Spaß am Leben hatte.
Er genoss diesen Moment und es füllte ihn ganz aus.
Bis er eine bekannte Stimme hörte.
"Maxime?", rief eine männliche Stimme. Die friedvolle Stimmung war vorbei und Klarheit drang sich in seinen Verstand. Er hatte sie seit gefühlt Jahren nicht mehr gehört und es überraschte ihn umso mehr.
Er drehte sich nicht um. Er tat so, als würde er ihn nicht bemerkt haben. Doch er hörte die typisch stampfenden Schritte. Lisa neben ihm richtete ihre Aufmerksamkeit von Luna zu dem Sprecher, der sich mit schweren Fußtritten der Bank näherte. Anspannung lag in der Luft.
Bis der Unbekannte zu sprechen begann.