Es dauerte eine Weile, bis Riley wirklich begriff, was genau Lysander ihm in diesem Brief gestanden hatte. Langsam erhob der junge Schwede sich und ging zu seinem Pferd in die Box. Er lehnte sich mit der Stirn an dessen Hals, sog den typischen Geruch des Tieres in sich auf. Das und die Nähe Bravehearts beruhigten ihn für gewöhnlich sehr schnell – so auch heute.
Riley fuhr mit einer Hand durch die lange Mähne des Kaltbluts, die andere hielt immer noch das Papier umklammert.
»Was soll ich denn jetzt machen?« Leise redete er mit dem Wallach, der schnaubte und ihn vorsichtig nach Leckerlis absuchte.
»Es ist ja nicht mal, dass es mich abstößt, dass er ein Vampir ist, auch wenn ich nicht so recht weiß, was ich davon halten soll. Aber die Tatsache, dass er mir das vorenthalten hat, das schmerzt mich und macht mich gleichzeitig richtig sauer.« Eine ganze Weile blieb Riley stehen, bevor er sich von seinem Pferd löste und die Box wieder verließ.
Er fühlte sich hintergangen, belogen – wieder einmal.
Als ob die miesen Erfahrungen, die er in der Vergangenheit mit Tyler gemacht hatte, nicht genug gewesen wären. Sicher, sie hatten eine offene Beziehung geführt, weil seinem verstorbenen Freund ein Partner in puncto Sex nicht mehr genug gewesen war. Das hatte Riley gewusst und akzeptiert, auch wenn ihm dieses Verlangen seltsam vorkam – heute noch. Womit er aber nicht zurechtgekommen war, war die Tatsache, dass sie sich Offenheit sowie Ehrlichkeit versprochen, aber Tyler sich nicht daran gehalten hatte. Genauso wie er das Tabu für sexuelle Spielchen mit gemeinsamen Freunden gebrochen hatte, als er mit Jeremy in die Kiste gesprungen war. Durch all das war Rileys Vertrauen tief erschüttert worden und dies war sein großes Problem. Denn war nicht gerade das das A und O in einer Beziehung sowie auch in einer Freundschaft? Vertrauen?
Seine Gedanken wanderten zu Eric … Gestern hatte er Riley noch gefragt, wie er zu mystischen Wesen stehen würde und gesagt, er wolle nur wissen, wie seine Mitmenschen da so ticken.
Riley lachte bitter auf. Alles nur ein Vorwand, eine Lüge. Warum taten Menschen das? Einem etwas vormachen, die Unwahrheit sagen?
Der junge Schwede stopfte seufzend den Brief in seine Jackentasche, schloss den Reißverschluss und schlug den Kragen hoch. Etwas frische Luft, das war es, was er jetzt brauchte.
Also sollte eine kleine Runde durch Visby zu laufen das Richtige sein, bevor er zu den anderen zurückkehrte. Seine Enttäuschung war einfach zu groß. Er wollte einen einigermaßen klaren Kopf haben, wenn er sein Zuhause wieder betreten würde. So löschte er das Licht im Stall, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus in die Kälte. Einen Moment lang stand Riley nur regungslos da und sah hinüber zum Haus, dessen Fenster von den Lichterketten sanft erleuchtet wurden.
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Im Innern des Gebäudes hatten die drei anderen keine Ahnung, was draußen vorging. Wie auch?
Eric und Louis klebten auf dem kleineren der beiden Sofas förmlich aneinander, während Lysander immer wieder zum Flur schaute und unruhig seine Finger knetete.
»Ich geh jetzt nachschauen, wo Riley bleibt. Er ist schon eine halbe Ewigkeit im Stall. Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl dabei«, sagte er schließlich und stand auf.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Bestimmt kommt er in wenigen Minuten zur Tür herein. Ich denke …«
»Es ist mir egal, was du denkst, Louis. Ich gehe jetzt nachschauen, was er da so lange treibt.« Lysanders sonst so sanfte Stimme war nurmehr ein dunkles Knurren und ließ seinen Stallmeister augenblicklich verstummen.
Er und Eric wechselten einen kurzen Blick, bevor dieser das Wort an Lysander richtete: »Soll ich eben rübergehen? Draußen ist es saukalt.«
Eine Augenbraue hochziehend, musterte Lysander den jungen Mann. »Und? Was soll mir das jetzt sagen? Ich brauche niemanden, der mich in Watte packt. Kuschelt ihr zwei weiter auf der Couch und ich erledige das, was nun mal meine Sache ist.« Damit ließ er die anderen beiden zurück, ging in den Flur und schlüpfte in seinen Mantel, bevor er das Haus verließ. Der eisige Wind, der ihm entgegenschlug, nahm ihm für einen Augenblick den Atem. Der Vampir zog seinen Schal vor das Gesicht und stapfte durch den Schnee hinüber zu dem dunklen Stallgebäude. Lysander öffnete die schwere Holztür. Auch im Inneren war es stockduster. Der Vampir schnupperte, doch außer den Pferden und dem Duft nach Heu und Stroh, konnte er keine weiteren Gerüche ausmachen. Riley war nicht hier.
So schloss Lysander die Tür wieder und sah sich ratlos um. Wo konnte Rye sein? Der Vampir lauschte in die Dunkelheit, aber er konnte aufgrund des Windes keine klaren Geräusche ausmachen und sein überdurchschnittlich guter Geruchssinn ließ ihn da auch im Stich. Vielleicht hatte Louis ja doch recht gehabt und er hätte Riley einfach in Ruhe lassen sollen, anstatt ihm hinterher zu dackeln. Seufzend drehte Lysander sich um und ging zum Haus zurück.
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Zur selben Zeit, als der Unsterbliche wieder das Wohnzimmer betrat und die beiden anderen ihn mit großen Augen fragend ansahen, lief Riley durch Visby. Er hatte die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, den Brief immer noch mit den Fingern umschlossen. Der eisige Wind machte dem jungen Mann das Atmen schwer und seine Füße wurden zunehmend kälter, trotz der dicken Stiefel, die er trug. Lange würde er hier draußen nicht herumrennen können. Aber das wollte er auch gar nicht. Was er wollte, war einfach nur, sich zu beruhigen, bevor er sich auf eine Unterhaltung mit Lysander einlassen konnte oder mit Eric konfrontiert zu werden. Riley wollte vermeiden, dass er, wütend, wie er gerade war, etwas sagte, das ihm hinterher leidtun würde. Also stapfte er durch die Stadt bis zum Marktplatz von Visby, wo noch immer die Buden des Weihnachtsmarktes standen. In zwei, drei Tagen würde auch die letzte von ihnen abgebaut sein. Riley suchte Schutz vor dem Wind zwischen zwei der Häuschen und atmete durch. Seine Gedanken gingen zurück zu dem Tag, als Lysander und er sich zum ersten Mal getroffen hatten. Als er auf Eric gewartet hatte, der wegen der Genehmigung für seinen Stand auf dem Weihnachtsmarkt beim hier ansässigen Amt gewesen war. In der Nähe des Brunnens hatte er, Riley, gestanden, mit ihren Pferden und plötzlich war er da gewesen. Dieser junge Mann mit dem auffallend silbernen Haar und den ungewöhnlich verschiedenfarbigen Augen. Riley musste zugeben, dass Lysander ihn von der ersten Minute an fasziniert hatte. Wieder seufzte er leise. Was machte er überhaupt hier draußen? Sollte er nicht mit den anderen im Warmen sitzen, lachen, feiern, fröhlich sein?
Seine Füße waren mittlerweile Eisklötze und seine Finger begannen auch, einzufrieren. Zumindest fühlte es sich so an.
»Tja, Junge, wenn du nicht den Kältetod sterben willst, musst du wohl oder übel machen, dass du nach Hause kommst«, murmelte er und trat zwischen den Buden hervor auf den freien Platz, wo ihm sofort der eisige Wind wie ein Peitschenschlag ins Gesicht wehte. Noch einmal tief durchatmend, machte er sich auf den Heimweg. Hätte der heutige Abend nicht bei ihm, sondern bei Lysander stattgefunden, dann hätte dieser Riley heute nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber so hatte er keine Wahl, außer, er wollte im Stall schlafen. Aber das ... Riley musste über diesen kindischen Gedanken den Kopf schütteln. Nein, Feigheit vor der Konfrontation war keine Lösung. Es machte das Ganze nicht besser, sondern höchstens noch schlimmer. Das wusste er aus schmerzlicher Erfahrung. Außerdem würden die anderen sich bestimmt Sorgen machen. Riley lachte bitter auf. Ach, sollten sie doch. Geschah ihnen ganz recht.
So mit seinen Gedanken beschäftigt, hatte der junge Mann gar nicht gemerkt, dass er schon fast vor seiner Haustür stand. Er holte den Schlüssel aus der Tasche, schloss auf und betrat den warmen Flur. Seine Jacke hängte er an die Garderobe und trat die Schuhe von den Füßen, bevor er weiter in das Wohnzimmer ging. Die anderen waren in eine lautstarke Diskussion verstrickt und hatten ihn gar nicht bemerkt. Vor allem Lysander und Louis standen da, als ob sie sich jeden Moment an die Gurgel gehen wollten.
Riley räusperte sich vernehmlich. »Soll ich euch irgendetwas bringen? Pistolen, Messer, Schwerter, Äxte? Aber wahrscheinlich schafft ihr es auch so, euch gegenseitig umzubringen. Ich bin wieder da, falls es wen interessiert.«
»Gott sei Dank, du bist unversehrt zurück.« Über Lysanders gerade noch vor Wut verzerrte Züge, legte sich ein erleichtertes Lächeln. »Geht es dir gut, mon Coeur?«
»Nun, wie man's nimmt, nicht wahr?« Der junge Schwede musterte den Vampir von oben bis unten, bevor er sich zur Küche abwandte und ihn wie einen begossenen Pudel stehenließ. Rileys Hals war trocken wie Sandpapier. Dagegen musste er etwas unternehmen, bevor er sich auf irgendwelche Gespräche einlassen wollte. Zuerst einmal trank er einen Schluck Wasser, bevor er sich eine Tasse Glühwein fertigmachte. Der war mittlerweile nicht mehr dermaßen heiß, dass man sich daran den Mund hätte verbrennen können, sondern hatte eine angenehme Trinktemperatur und so leerte Riley den Becher in einem Zug. Anschließend füllte der junge Schwede die Tasse erneut, ging wieder hinüber in die Wohnstube und ließ sich auf das große Sofa fallen.
Er spürte, wie die anderen, die sich nun nach und nach ebenfalls setzten, ihn fixierten. Riley nippte an seinem Glühwein und schaute in die Runde. Erst musterte er Louis, dann Eric, der neben diesem saß, die Augenbrauen zusammengezogen hatte und auf seiner Unterlippe kaute. Schlussendlich wanderte Rileys Blick zu Lysander, der mit etwas Abstand neben ihm Platz genommen hatte, und ruhte einen Moment auf diesem.
»Chéri, ich ...«
Doch Riley brachte ihn mit einem Fingerzeig zum Schweigen und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nicht ...«
Nachdem der junge Schwede noch einen Schluck seines Getränks genommen hatte, dessen Wirkung er, trotz des üppigen Essens eher am Abend, bereits deutlich spürte, stellte er die Tasse auf dem Tisch ab und stand auf.
»Ich werde jetzt nach oben gehen und mich etwas hinlegen. Mir schwirrt nämlich der Kopf, und zwar nicht vom Wein. Du ...« Er wandte sich zu Lysander. »Du kommst mit.«
Der Vampir nickte stumm und erhob sich ebenfalls.
»Du kannst doch jetzt nicht einfach raufgehen«, warf Eric ein und starrte Riley an, als hätte dieser einen schlechten Witz gemacht.
Langsam drehte Rye sich zu ihm. »Oh, ich kann und ich werde. Dann hast du Zeit darüber nachzudenken, ob man Freunden die Wahrheit vorenthalten sollte.«
Der Blonde zog scharf die Luft ein. »Ich hatte doch keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl, Eric. Und mir zu erzählen, dass man nur daran interessiert ist, wie andere Menschen so ticken, war definitiv die falsche. Es gibt eine Sache, die ich hasse wie die Pest und das sind Lügen. Spätestens als ich dir gesagt hatte, dass ich eine Hexe und einen Vampir kenne, hättest du ehrlich sein müssen.«
»Aber ich konnte doch Lysander nicht outen.«
»Das stimmt, aber dann hättest du dich vielleicht ganz raushalten sollen, denn es war nicht deine Sache, das zu klären. Du hast es aus deiner Sicht vielleicht gut gemeint, das will ich nicht anzweifeln, aber es war Scheiße, Eric. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich bin gerade nicht in der besten Stimmung und das hier soll nicht eskalieren. Vielleicht bin ich morgen dazu aufgelegt, mit dir darüber zu reden. In Ruhe! Wir werden sehen. Heute definitiv nicht mehr.« Damit wandte er sich wieder Lysander zu, bevor er sich in Richtung der Treppe in Bewegung setzte, die nach oben führte. »Kommst du?«
Und das tat der Unsterbliche. Mit einem letzten Blick auf seinen Stallmeister folgte er Riley und fühlte sich dabei wie bei einem Gang zur Guillotine. Aber zumindest hatte Rye ihn nicht vor die Tür gesetzt. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?
Als die beiden aus der Wohnstube verschwunden waren, lehnte Eric sich zurück und sah Louis an. »Findest du auch, dass ich mich hätte raushalten sollen?«
Der dunkelhaarige Franzose legte einen Arm um ihn und zog ihn zu sich. »Das habe ich dir im Grunde schon beantwortet, als du mir davon erzählt hast. Ja, wahrscheinlich wäre es wirklich besser gewesen. Aber auf jeden Fall hättest du, wenn du dich schon einmischst, nicht mit einer Ausrede daherkommen dürfen. Er fühlt sich von dir hintergangen. Du bist ein guter Freund für ihn, vielleicht sein bester, und da ist es eben ein No-Go, was du gemacht hast. Aber zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf. Er wird dir vergeben, da bin ich mir sicher. Und für die Zukunft weißt du Bescheid.«
Eric schmiegte sich an Louis, vergrub die Nase an dessen Hals und nickte wortlos. Er hoffte, dass Rye ihm seinen Fehler verzeihen würde. Wenn er gewusst hätte, dass es seinen Freund dermaßen treffen würde, die kleine Notlüge, dann hätte er den Mund gehalten. Seufzend presste Eric sich enger an den Stallmeister, der ihm sanft über den Rücken strich.
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Im Obergeschoss des Hauses betraten die anderen beiden Rileys Schlafzimmer. Während dieser sich auf das Bett fallen ließ, blieb Lysander unschlüssig in der Tür stehen.
»Worauf wartest du? Willst du da übernachten? Komm rein und setz dich zu mir. Ich glaube, wir haben einiges zu bereden«, sagte Rye, den anderen musternd, und der Unsterbliche kam seiner Aufforderung nach.
Zögerlich nahm er ebenfalls auf der Matratze Platz und schaffte es sogar, sich Riley zuzuwenden, ihm in die Augen zu schauen.
Trotzdem herrschte eine Weile Stille zwischen ihnen, bis Lysander es nicht mehr aushielt und das Wort ergriff.
»Du hast meinen Brief gelesen, das schließe ich aus deiner Reaktion vorhin. Würdest du mich also bitte nicht weiter auf die Folter spannen, sondern mir verraten, was du denkst? Hat das hier, das mit uns, überhaupt noch eine Zukunft? Jetzt, wo du weißt, was ich bin?«
Langsam erhob sich Riley und ging hinüber zum Fenster. Dort blieb er einen für Lysander schier unerträglich langen Moment schweigend stehen, bevor er sich wieder umdrehte und an die Fensterbank anlehnte.
Mit einem Blick, den der Vampir in keiner Weise deuten konnte, musterte Riley ihn, bevor er anfing zu reden. »Nun ... ich bin vorhin, nachdem ich deinen Brief gelesen hatte, eine ganze Weile durch die Stadt gelaufen. Ich musste den Kopf freibekommen und auch ein wenig nachdenken. Das, was du mir da gestanden hast, ist für einen Menschen nicht so leicht zu begreifen und zu akzeptieren. Selbst wenn er wie ich Vampire kennt. Na ja, einen. Aber das ist eben nicht dasselbe wie einen zu lieben, denn das tue ich nach wie vor, geschweige denn mit ihm zu leben. Die Frage ist halt, ob ich das kann. Aber weniger, weil du bist, was du bist, sondern aufgrund dessen, dass du es mir so lange vorenthalten hast. Ich muss sagen, dass mich das schwer enttäuscht hat. Wie ich schon mal erwähnte, bin ich von Tyler einige Male belogen und betrogen worden. Das ist zwar nicht deine Schuld, aber … Was ich damit sagen will, ist, dass ich mich gerade wieder verraten fühle und nicht weiß, was ich tun soll. Ich möchte nicht noch einmal in einer für mich toxischen Beziehung feststecken, in der mein Partner mir wichtige Dinge verheimlicht oder mich belügt.«
»Soll ich besser gehen?«, fragte Lysander leise.