Geschafft!, war der erste Gedanke, der Riley Andersson in den Sinn kam, während er in Visby von Bord ging. Als kurz darauf das Horn der Fähre ertönte, drehte der junge Mann sich im Sattel seines Nordschwedischen Kaltbluts Braveheart noch einmal um und sah dem Boot hinterher, das langsam in der Ferne verschwand.
Es war bereits früher Abend und die beiden waren schon wieder seit Stunden unterwegs. Gestartet waren sie kurz nach Mittag, in einer kleinen Stadt auf dem schwedischen Festland, wo sie einen Zwischenstopp am vorherigen Tag eingelegt hatten. Die Reise von London hatte sich doch als beschwerlicher und länger herausgestellt, als Riley es sich gedacht hatte. Mit einem geliehenen Auto nebst Hänger für sein Pferd, war der junge Mann über mehrere Tage und mit einigen Pausen, bis zu dem kleinen Dorf gefahren, das sich in der Nähe der Fährstation befand. Da das letzte Boot jedoch schon Richtung Gotland abgelegt hatte, hatte er das Gespann abgegeben und einen Platz zum Schlafen für sich und Braveheart gesucht, um am nächsten Tag seine Reise auf dem Pferderücken fortzusetzen.
Vier Jahre lang war Englands Hauptstadt seine Heimat gewesen, jetzt hatte er sie für immer verlassen. Es war die einzige Möglichkeit, um endlich Frieden zu finden und ein neues Leben zu beginnen.
Riley war hier auf Gotland aufgewachsen, genauer gesagt auf einem Reiterhof in der Nähe von Gothem. Wunderschön gelegen zwischen dem Meer auf der einen und dichtem Waldgebiet auf der anderen Seite. Aufgrund eines heftigen Streits mit seinem Vater, sah er sich aber schließlich gezwungen, der Insel den Rücken zu kehren.
Jetzt war er zurück, aber da sein Elternhaus keine Option mehr für ihn darstellte, hatte er sich für Visby entschieden. Der Ort lag im entgegengesetzten Teil der Insel und so würde er kaum Gefahr laufen, seiner Familie und vor allem seinem Vater zu begegnen.
Nur zu seiner Schwester Lily, die ebenfalls noch auf Gotland in einem kleinen Dorf lebte, hatte Riley noch Kontakt.
Es wäre einfach für ihn gewesen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, dann hätte der junge Mann nicht nach einem Quartier für sich und sein Pferd suchen müssen, aber er wollte erst einmal alleine sein.
Zu viel war passiert, womit er fertig werden musste und er mochte niemanden damit belästigen. Außerdem wollte er kein Mitleid und genau das wäre vermutlich der Fall, wenn er jetzt bei Lily aufschlug.
Nein, er musste erst einmal mit seinem Leben wieder zurechtkommen und den Verlust, den er erlitten hatte, verarbeiten. Darüber wollte er jetzt allerdings auf keinen Fall nachdenken.
Seufzend strich der junge Mann sich durch seine schulterlangen braunen Haare. Er war hundemüde und sein Magen machte sich bemerkbar.
»Auf geht’s! Wir müssen sehen, dass wir etwas zu essen für dich finden und außerdem brauchen wir beide noch eine Unterkunft. Die Nacht draußen zu verbringen ist keine Option, Dicker«, sagte er leise zu seinem Pferd, kraulte diesem kurz die Mähne und trieb es dann in einen leichten Trab.
Sie kamen an einem kleinen Café direkt am Hafen vorbei; anschließend folgten sie der Straße in Richtung Visby-Stall – so stand es zumindest auf dem Schild an der Gabelung hinter dem Café. Ein Stück weiter erhob sich rechts von ihnen die imposante Stadtmauer des Ortes. Die City zu erkunden würde bestimmt interessant werden, aber das war jetzt erst einmal nicht der Plan.
Während Riley sich noch den Kopf zerbrach, wie es weitergehen sollte, passierten sie ein schweres Eisentor und linker Hand tauchten die Gebäude des Reitstalls auf. Der junge Mann parierte sein Pferd durch, sprang vom Rücken des Wallachs und klopfte an die schwere Holztür. Es dauerte eine Zeit lang und er wollte es schon ein zweites Mal versuchen, als er Schritte hörte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben und die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren.
Vor Riley stand eine junge Frau, deren dunkle Haare zu einem Zopf geflochten, über ihrer linken Schulter lagen. Zwei braune Augen sahen ihn erstaunt und zugleich misstrauisch an.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte sie: »Oh ... Guten Abend! Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Guten Abend«, erwiderte der Angesprochene und zwang sich zu einem Lächeln. »Das hoffe ich doch sehr. Mein Pferd und ich sind vor einer halben Stunde hier auf der Insel angekommen und suchen nach einem Lager für die Nacht. Hätten Sie eine Box für uns frei?«
Die junge Frau musterte ihn von oben bis unten. »Ich denke, da lässt sich was machen«, meinte sie dann. »Sie haben Glück, dass unsere Touristensaison vorbei ist und wir im Winter die meisten Pferde, die nicht so kälteresistent sind, zum Festland schicken. Von daher haben wir zu dieser Jahreszeit immer ein paar Boxen zur Verfügung. Außerdem vermieten wir auch kurzzeitig an Einsteller, wenn diese auf Geschäftsreise gehen oder aus sonstigen Gründen ihre Pferde für eine Weile gut versorgt wissen wollen.« Sie schwieg einen Moment, dann lächelte sie und sagte: »Ich bin übrigens Johanna.«
Wo waren nur seine Manieren hin?
»Riley Andersson«, erwiderte er leise und ergriff die ausgestreckte Hand seines Gegenübers, »und das ist Braveheart.«
Johanna kraulte die Nase des Kaltbluts, anschließend drehte sie sich um. »Na, dann kommt mal mit, ihr beiden.«
Damit verschwand sie im Stall; Riley und sein Pferd folgten ihr.
Jetzt erst bemerkte der junge Mann, wie eisig kalt es draußen war. Hier im Gebäude war es dagegen durch die Pferde, das Heu und Stroh richtig angenehm, fast warm. Der 22-Jährige sog den Stallduft tief in seine Lungen ein, schloss für eine Sekunde die Augen und genoss den Moment.
Schließlich öffnete Riley die Lider wieder und sah sich genauer um.
Es gab geschätzt zwanzig große, helle Boxen, zehn auf jeder Seite, die durch eine breite, sauber gekehrte Stallgasse voneinander getrennt waren. In einer Ecke stand der Futterwagen für Hafer, Pellets und alles andere. Links über den Boxen gab es ein Heulager, rechts oben befand sich das Stroh. Auf einer Seite des Gangs, ziemlich in der Mitte zwischen zwei Boxen, war ein Raum, in dem Schubkarren, Mistgabeln und sonstiges Arbeitsgerät abgestellt waren und der in der Decke einen Zugang zum Heuboden hatte. An dieser Luke nach oben lehnte eine Leiter, die Johanna jetzt hinaufstieg und eine Minute später landete ein Ballen Grünfutter unten auf dem Boden.
Braveheart stupste Riley mit der Nase an, sodass dieser fast kopfüber in der Stallgasse gelandet wäre.
»Hey, was soll der Blödsinn?«, knurrte er sein Pferd an.
Johanna lachte, während sie die Leiter wieder herunterkletterte. »Der arme Kerl hat wohl Hunger. Das haben wir gleich.«
Damit öffnete sie eine der leeren Boxen, nahm einen Ballen Stroh und streute ihn schnell auf, bevor sie ein paar Arme voll Heu holte und dieses in die Ecke neben der Futterkrippe warf. »Ich denke, das sollte reichen. Morgen früh gibt es mehr.«
»Vielen Dank für die spontane Hilfe«, meinte Riley leise. »Du musst mir noch sagen, was du für Unterkunft, Einstreu und Futter bekommst.«
Johanna sah ihn an. »Da lass ich mir schon was einfallen, aber darüber können wir morgen reden. Kann ich sonst noch was tun? Was ist mit dir? Du musst doch selbst ganz ausgehungert sein.«
Ganz selbstverständlich hatten sie vom Sie zum Du gewechselt.
»Nein, danke schön, ich hab alles, was ich brauche, in meinem Gepäck«, erwiderte Riley, der seinen Wallach in die Box führte und ihm Zaumzeug und Sattel abnahm. Während er die Sachen vor der Box parkte, stürzte sich Braveheart auf das Heu.
»Sicher?«, fragte Johanna skeptisch und Riley lächelte.
»Wirklich, ich komm klar. Du hast mir schon genug geholfen, indem du uns ein Dach über dem Kopf und meinem Pferd Futter gegeben hast.«
»Okay, dann lass ich euch beide mal alleine … Ach ja, neben dem Eingang ist linker Hand ein kleines Reiterstübchen, da gibt’s eine Toilette und natürlich auch ein Waschbecken.« Sie zwinkerte ihm zu. »Na, dann mal Gute Nacht!«
Riley nickte. »Gute Nacht und noch mal danke für alles.«
Nachdem Johanna das Gebäude verlassen hatte und die schwere Stalltür ins Schloss gefallen war, lehnte der junge Mann sich seufzend gegen die Boxenwand.
»Da haben wir aber verdammtes Glück gehabt, Dicker«, sagte er zu dem Kaltblut, das mit dem halben Kopf im Heu verschwunden war. Wie immer hatte der Wallach so herumgewühlt, dass einige Halme zwischen seinen Ohren hingen und in seiner Mähne verteilt waren. Riley konnte nicht anders und fing an zu lachen, bis ihm die Tränen kamen. Für einen Augenblick fiel die Spannung der letzten Monate von ihm ab. Der ganze Horror, den er erlebt hatte, war für einen kurzen Moment vergessen, als er sein albernes Pferd dort stehen sah.
Nach einer Weile fing er sich wieder und begann, in seinem Rucksack herumzukramen. Riley hatte sich zum Glück etwas zu trinken und ein paar Brote eingepackt, für den Fall der Fälle. Das war, wie sich herausstellte, eine gute Idee gewesen. Müde ließ er sich ins Stroh von Bravehearts Box fallen, verputzte erst einmal zwei Käsebrote und trank die halbe Flasche Wasser leer. Anschließend zog er seinen Schlafsack und eine Wolldecke aus seinem Gepäck.
Nachdem sein Lager auf dem Boden an der hinteren Boxenwand fertig war, machte er sich doch noch auf ins Reiterstübchen. Besser gleich, als später aus dem warmen Schlafsack aufstehen zu müssen.
Nach etwa einer halben Stunde war Riley wieder zurück. Braveheart hatte sein Heu mittlerweile aufgefressen und sich auf dem dicken Strohlager niedergelassen. Er hob kaum den Kopf, als sein Besitzer die Box betrat und die Türe hinter sich schloss. Auch Riley machte es sich bequem, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Seite des Pferdes und kraulte ihm die Mähne. Die Wärme, die von seinem tierischen Freund ausging, gab ihm den Rest. Riley schloss die Augen und wie jede Nacht schlich sich der Name eines jungen Mannes in seine Gedanken, bereit ihm weitere, schlaflose Stunden zu bescheren.
Doch heute wollte Riley sich nicht davon überwältigen lassen, er wollte nur schlafen. Keine Gedanken an Tyler und hoffentlich auch keine Träume von ihm. Einfach nur schlafen …