»Grüß schön!«, hatte meine Mutter noch gesagt, als ich losgefahren war. Ich hatte nur fahrig genickt und sie viel liebloser umarmt, als ich es eigentlich gewollt hatte. Aber der Weihnachtsbesuch bei Mama hatte mich wie jedes Jahr mit einem verwirrenden Gefühlsmix zurückgelassen. Wie jedes Jahr hatte ich ihr angeboten, sie zu uns nach Hannover zu holen. Und wie jedes Jahr hatte sie abgewunken. Weihnachten ist was für verlogene Christen und hohlköpfige Konsumtrottel, hatte sie gesagt.
Trotzdem war ich dann zu ihr nach Emden gefahren. Wie jedes Jahr. Und nach einer Nacht auf der Gästecouch in ihrem von Tierschutz-Katzen bevölkerten Wohnzimmer war ich völlig zermürbt wieder aufgebrochen.
Ich starrte auf die schnurgerade, finstere Landstraße.
Dieses Jahr hatte der Herbst sich besonders schlimm angefühlt. Immer nur so trübe Tage, als würde es nie wieder richtig hell werden. Während ich darüber nachgrübelte, wieso ich meine schrullige Mutter jedes Jahr unbedingt zwingen musste, mit mir Weihnachten zu feiern, quatschte das Navi in meine konfusen Gedanken.
Ja, ich hatte das Bedürfnis nach heiler Familie dieses Jahr noch viel stärker gespürt als sonst. Weil meine eigene heile Familie nämlich drei Tage vor Weihnachten ganz leise implodiert war. Es hatte noch nicht mal einen Knall gegeben. Ich hatte einfach nur in Simons Handy geschaut, weil er es auf dem Küchentisch vergessen hatte und ständig Nachrichten eintrudelten. Es hätte ja etwas Wichtiges sein können.
Weil man immer brav tun soll, was das Navi sagt, bog ich auf einen dunklen Parkplatz und ließ den Wagen ausrollen. Ich blickte misstrauisch auf das kleine Hotel im ostfriesischen Nirgendwo. Alles war dunkel. Ich checkte noch einmal meinen schlauen Zettel und das Navi, aber ich war hier definitiv richtig. Mit einem leisen Stöhnen ließ ich den Kopf in den Nacken fallen und schloss die Augen.
Ich fühlte mich so unglaublich schwer und kraftlos. Alles kam mir so sinnlos vor. Ich hatte spontan für ein paar Tage dieses Hotelzimmer gebucht, weil ich einfach nicht nach Hause wollte. Ich wollte nicht zu meinem Mann, der immer nett und freundlich war. Zu meinem Mann, der eine heimliche Affäre hatte und mir offen ins Gesicht log.
Annegret. Als ich den Namen in Simons Kontakten gelesen hatte, hatte ich zuerst noch an eine Kollegin geglaubt. Annegret. Das war der perfekte Name für eine ältere Dame, die im Büro still und unauffällig alles am Laufen hält und die in ihrer Freizeit Waldorf-Püppchen für ihre Enkel filzt. Aber dann war mein Blick an den ersten Worten ihrer Nachricht hängengeblieben. Ich kann es gar nicht abwarten, bis die Ziege weg ist! Die ganze Nacht für uns!
Ich hab keine Ahnung, wie lange ich auf diese Buchstaben gestarrt hatte, bis in mein Hirn gesickert war, dass mit der Ziege ich gemeint war. Die ganze Nacht für uns!
Und trotzdem war ich zu meiner Mutter gefahren. Weil ich das Gefühl hatte, nach Hause zu müssen. Aber ich hatte es nicht geschafft, meiner Mutter von Simons Affäre zu erzählen. Weil ich genau wusste, was sie sagen würde. Sie hatte mich für verrückt erklärt, weil ich gleich meinen ersten festen Freund geheiratet hatte.
»Probier um Gottes willen erst einmal ein paar andere Kerle aus!«, hatte sie auf ihre dramatische Art gefleht. Aber wir waren uns einfach sicher gewesen, Simon und ich. So sicher. Zwölf Jahre war das jetzt her.
Am Seiteneingang des dunklen Hotels sprang ein Licht an. Jemand trat aus einer Tür, ging mit einer großen blauen Tüte zu den Mülltonnen und aktivierte dabei eine Reihe von Bewegungsmeldern.
Das Licht kam mir unerträglich grell vor und ich wischte mir schnell über die Augen. Um zu prüfen, ob meine Wimperntusche verlaufen war, blieb mir keine Zeit, denn der Mensch klappte die Mülltonne laut zu und bewegte sich dann zielstrebig in meine Richtung.
Ich ließ das Fenster herunter und grüßte mit dem obligatorischen: »Moin!«
»Mohoin! Sind Sie vielleicht Frau Braun?«
»Lena Braun, genau. Ich hab hier ein Zimmer gebucht!« Geblendet von den Bewegungsmeldern versuchte ich, etwas zu erkennen. Offenbar handelte es sich bei meiner Gesprächspartnerin um eine Frau undefinierbaren Alters mit einem praktischen Kurzhaarschnitt. Meine Friseurin versuchte auch seit Jahren, mich zu einem Kurzhaarschnitt zu überreden, sie bezeichnete diesen Look als »flott«. Aber ich wehrte mich jetzt seit Jahren mit Händen und Füßen dagegen, in die Liga der Frauen abzusteigen, die es gern »praktisch« hatten.
Ich wollte lieber weiblich bleiben. Ich mochte mein langes braunes Haar. Ausgerechnet Annegret hatte mir dann auf ihrem Profilbild mit einem flotten Kurzhaarschnitt entgegen gelächelt. Aber dafür konnte diese ostfriesische Hotelangestellte ja nichts.
Sie beugte sich zu mir und verkündete vorwurfsvoll: »Wir haben dreimal versucht, Sie anzurufen!«
»Ach, ist das so?« Ich merkte, wie ich automatisch wieder in den norddeutschen Singsang meiner Jugend verfiel und fühlte mich ein bisschen mehr wie ich selbst. Nicht ganz so wie die betrogene Ehefrau aus Hannover.
Ich hatte nur überhaupt keine Lust, mein Handy einzuschalten, um meine Nachrichten zu checken. Ich war auf der Flucht. Ich wollte nicht erreichbar sein.
»Wir haben einen Wasserschaden! Ihr ganzes Zimmer hat einen nassen Teppichboden und die anderen Räume sind gar nicht vorbereitet und geheizt.« Meine Nicht-Gastgeberin lächelte entschuldigend. »Und weil sie unsere einzige Buchung zwischen den Jahren sind, hab ich das Personal nach Hause geschickt. Mein Mann und ich müssen jetzt erst mal gucken, was wir noch retten können. Zum Glück ist mein Schwager ja Handwerker.«
Ich kniff überfordert die Augen zu, dann blinzelte ich diese Frau, die von hinten beleuchtet war und aussah wie ein schwarzer Schatten mit praktischem Kurzhaar-Heiligenschein, an. »Und wo soll ich jetzt übernachten?«
Der Schatten zuckte die Schultern. »Das tut mir ja nun man leid, dass ich gar nichts für Sie tun kann. Wollen Sie denn mein Internet mal haben?«
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Gestrandet in Ostfriesland, fantastisch. Ich dachte einen Moment nach, dann schüttelte ich den Kopf. »Lassen Sie mal, ich hab noch Datenvolumen. Haben Sie denn einen Tipp für mich, wer hier außerhalb der Saison noch geöffnet haben könnte? Gibt es vielleicht in Esens was? Oder ein Hotelzimmer in Wittmund? Allzu weit möchte ich heute nicht mehr fahren.«
Frau Schatten kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann verschränkte sie zufrieden die Arme. »Sie können das ja mal bei den Künstlern versuchen.«
»Bei wem?«
»Gucken Sie mal auf einer von diesen Webseiten für Bed mit Breakfast oder wie das heißt. Da sind die wohl vertreten. Gucken Sie einfach nach der Künstler-WG in Bensersiel. Die Zimmer sind da wohl nicht so chic, aber das Essen soll wirklich gut sein.« Mit einem stolzen Lächeln fügte Frau Schatten hinzu: »Die haben da wohl eine Köchin, die soll aus Aurich kommen.«
»Aha.« Lustlos fragte ich: »Und was sind das für Leute?«
Frau Schatten lachte unbekümmert. »Ach, die kommen ja nicht von hier weg. Aber wir Ostfriesen sind da ja nicht so. Wir haben ja nichts gegen Schwule und Hippies.«
Ich atmete resigniert tief durch. Eine Übernachtung bei schwulen Hippies, das hatte mir gerade noch gefehlt. Wahrscheinlich ernährten die sich auch vegan und rauchten Gras aus eigenem Anbau. Ich rieb mir die müden Augen und musste gegen meinen Willen lachen. Mama hätte mir für meine reaktionären Vorurteile die Ohren langgezogen. Aber ich spürte eine diffuse Wut in mir brodeln und es schien mir besser, im Stillen eine »Randgruppe« zu beschimpfen, als meinen Mann anzurufen und ihm die Hölle heiß zu machen.
Mit einem tiefen Seufzer nickte ich der Frau zu und ließ das Fenster hoch surren. Ich fuhr vom Parkplatz, um an einem stillen Feldweg meine Lage zu überdenken und diese Hippies mit ihrem Gästezimmer zu googeln. Ein Bett war ein Bett.