Natürlich konnte ich nicht schlafen. Es ging mir aber auch nicht schlecht, ich war einfach nur so voll mit neuen Eindrücken, dass sich alles in mir drehte. Heute Morgen hatte ich mich noch mit Rückenschmerzen von Mamas Gästecouch gequält, als wäre ich fünfhundert Jahre alt. Mindestens. Und nun lag ich nur ein paar Kilometer weiter in einem äußerst komfortablen und kuscheligen Bett. Aber ich hatte das Gefühl, dass der Tag mindestens drei Wochen gedauert hatte. Drei Wochen auf einem vollkommen fremden Planeten!
Während ich darüber sinnierte, wie viel ein Mensch an einem einzigen Tag erleben kann, stahl sich ein Licht in meine Wahrnehmung. Ich hob den Kopf und sah durch das tiefliegende kleine Sprossenfenster. Irgendwo in der Ferne fraß sich ein Auto mit grellen Scheinwerfern durch das ostfriesische Nichts.
Ich ließ den Kopf wieder fallen und lauschte auf die Stille. Bei uns in Hannover hörte man Tag und Nacht das Rauschen der Stadt. Tagsüber nahm ich diesen Lärmpegel gar nicht wahr, aber nachts war das Rauschen immer da. Hier hörte ich einfach nur Stille.
Meine Hand wanderte zu meinem Handy. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht. Ich spürte, wie mein Herz wieder anfing, heftig zu klopfen. Die Sehnsucht zerrte an mir wie der Wind auf der nächtlichen Weide. Ich fühlte mich so unsicher, so überdreht. Wie damals, als ich mich in Simon verliebt und mit meinem alten Nokia-Handy im Bett gelegen hatte. Manchmal hatte ich tagelang darüber nachgedacht, ob ich diesem neuen Klassenkameraden eine SMS schicken könnte und wie das wohl aussehen würde. Er sollte ja auf keinen Fall merken, dass ich in ihn verknallt war.
Also hatte ich ihm sinnlose Botschaften geschickt wie: »Hey, weißt du, was wir in Mathe aufhaben?«
Ich seufzte abgrundtief und konzentrierte mich wieder aufs Ausatmen. Ich fühlte mich wie vor zwanzig Jahren, aber alles war so anders. Konnte man sich neu in seinen eigenen Mann verlieben, wenn er eine Affäre hatte? Oder wieso war ich so aufgeregt? Wieso hatte ich Herzklopfen, wenn ich nur daran dachte, ihm eine Nachricht zu schicken?
Angst. Ich zog die Hand wieder vom Handy. Ich hatte einfach Angst. So spät war es noch gar nicht, es kam mir nur so vor. Und Simon ging spät schlafen. Also würde ich ihn sicher noch erreichen. Aber das war es gar nicht, was mir solche Angst machte. Angst hatte ich davor, dass er nicht antworten würde. Denn dann wüsste ich, dass er bei ihr ist. Und dann würde ich eine unerträgliche Nacht durchstehen müssen.
Ich starrte an die Dachschräge über meinem Bett, aber ich sah etwas anderes. Ich sah das Bild vor mir, wie Anna unbekümmert und voller Vertrauen den Kopf an Svens Arm gelegt und auf sein Handy geblickt hatte. Mir gingen unendlich viele Fragen durch den Kopf, die ich Anna unbedingt stellen wollte.
Ich seufzte und rollte mich auf die Seite. Svens Lieblingsgeliebte in Berlin. Hieß das etwa, dass er mehrere Geliebte hatte? Wie hielt Anna das bloß aus? Wie überstand sie die Zeit, wenn sie wusste, dass er bei einer anderen Frau war? Dass eine andere seine Aufmerksamkeit bekam, seine Wärme, seine Klugheit? Seine Zärtlichkeit und sein Begehren?
Ich nahm eins der bunten Kuschelkissen in den Arm und dachte darüber nach, wie selbstverständlich es sich schon für mich anfühlte, dass Sven da war. Und John, dieser stille Grübler, der vielleicht gerade, weil er sich so zurücknahm, eine unglaublich starke Präsenz in diesem Haus hatte. Wenn er nicht im Raum war, fragte ich mich sofort, wo er wohl steckte und was er machte. Ich lächelte traurig. Ich war einfach so daran gewöhnt, immer zu wissen, wo Simon ist und wann er nach Hause kommt.
Vielleicht war ich einfach nur eine klemmige, klammernde Hausfrau geworden. Ein Kontrollfreak aus purer Gewohnheit. Oder aus der bohrenden Angst heraus, von der Anna gesprochen hatte. Von der Angst, dass mein Schaf aus der Herde gerissen werden könnte.
Mein Handy leuchtete auf. Das Licht kam mir unglaublich grell vor. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, dann öffnete ich die Nachricht. Auf die Idee, dass Simon sich bei mir melden könnte, war ich gar nicht gekommen! Und jetzt hatte ich plötzlich ganz schreckliche Angst, dass er mit der Wahrheit herausplatzen könnte. Mit einem: »Ach, übrigens, ich habe jemanden kennengelernt und will die Scheidung.«
Ich straffte die Schultern, um mich zu wappnen.
Bist du noch wach, Liebes? Ich wollte dir eher eine gute Nacht wünschen, hab aber beim Lesen die Zeit vergessen.
Ich starrte auf die Nachricht und bekam schon wieder feuchte Augen. Mir schoss der bittere Gedanke durch den Kopf, dass er bestimmt nicht beim Lesen die Zeit vergessen hatte. Vielleicht hatte er sich gerade aus Annegrets Bett gestohlen, um pflichtschuldig seiner Ehefrau eine gute Nacht zu wünschen. Ich konnte den Stich in der Brust wirklich körperlich spüren, das war nicht einfach nur eine Redensart.
Dann fiel mir auf, dass er mich »Liebes« genannt hatte. So hatte er mich lange nicht genannt. Mich überkam eine unerträgliche Sehnsucht nach seiner Wärme. Außer Simon fand mich niemand lieb. Als Teenager hatte ich es sogar ausgesprochen schwer gehabt, Freunde zu finden. Weil ich kein Gespür dafür hatte, wann mein trockener Zynismus für andere verletzend war. Wirklich niemand fand mich damals lieb. Nur Simon. Er hatte das einsame Mädchen hinter meiner Fassade erkannt. Ich dachte kurz nach, dann tippte ich die Antwort.
Was liest du denn?
Selbst diese unverfängliche Frage kam mit vor wie eine Kontrolle, aber vielleicht wusste er nicht, was in meinem Kopf vorging. Nicht so ganz. Ich beobachtete die hüpfenden Pünktchen. Simon schrieb.
Du darfst aber nicht über mich lachen!
Ich antwortete: Versprochen!
Simon schrieb wieder und ich drehte mich auf die andere Seite und wartete. Ich streichelte das Kissen. Was wir hier taten, kam mir völlig absurd vor. Wir wussten beide, dass ich von seiner Affäre wusste, aber wir unterhielten uns wie oberflächliche Bekannte.
Ich hab mich durch einen Blog mit Beziehungstipps gewühlt und konnte nicht aufhören zu lesen. Ich fand das ganz spannend.
Ich setzte mich auf. Gnadenfrist, nur noch ein paar Sekunden Gnadenfrist. Für einen Moment kniff ich fest die Augen zu, dann beschloss ich, das Tabu auf den Tisch zu packen. Kurz und schmerzlos, für uns beide. Blöder Spruch. Kurz und schmerzhaft.
Ich weiß, dass du eine Affäre hast.
Das Handy blieb still. Mit einem tiefen Atemzug wälzte ich mich wieder herum und lauschte auf meinen Puls. Mein Herz raste wie ein Hamster im Laufrad. Ich schwang die Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den Boden. So war es besser.
Wann kommst du nach Hause?
Ich starrte auf die Nachricht. Mir kullerte eine Träne übers Gesicht. Ich zögerte kurz, dann fragte ich:
Hab ich denn noch ein Zuhause?
Die Antwort kam sofort.
Ich bin hier, Liebes, komm einfach nach Hause. Ich hab es beendet. Wir müssen nie wieder darüber reden.
Ich ließ das Handy sinken und blinzelte in die Dunkelheit. Gestern wäre ich nach dieser Botschaft vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Aber jetzt hätte ich fast laut geschrien: »Nicht darüber reden? Geht’s noch?«
Ich lachte hysterisch und presste mir vorsichtshalber mal die Hand auf den Mund. Meine Gastgeber waren vielleicht an bebende Wände gewöhnt, aber ich wollte auf keinen Fall ihren Schlummer stören, nicht nach allem, was sie schon für mich getan hatten. Aber ich konnte nicht aufhören, verkrampft zu kichern.
Ich sah die ganze Zeit Annegret vor mir. Auf einem Sockel, wie die Freiheitsstatue, mit einem schweigenden Handy am ausgestreckten Arm. Und einem verwelkten Blumenkranz auf ihrer flotten Frisur, von Glühwürmchen brautumjungfert. John hatte recht, die Vorstellung war geradezu episch. Absurd, aber episch.
Bevor ich verstanden hatte, was passiert ist, hatte ich völlig aus dem Bauch raus die nächste Nachricht abgeschickt.
Simon, du kannst sie nicht einfach so fallenlassen wie eine heiße Kartoffel! Das ist respektlos und verletzend! Selbst, wenn sie eine Mono-Bitch ist, das hat sie nicht verdient!
Sofort kam ein Emoji mit fassungslosen Glubschaugen.
Ich erschrak vor meinem eigenen wütenden Knurren, dann ließ ich mich auf den Rücken fallen. Das Handy rutschte mir aus der Hand und verschwand irgendwo in der Bettwäsche. Es war mir egal. In dem Moment war es mir tatsächlich total egal. Sollte er doch schmoren, der Blödmann. Ganz langsam nahm ich wahr, wie mich eine tiefe Ruhe überkam. Der sichere Stand, von dem John gesprochen hatte. Ich würde Zeit brauchen. Ich würde heulen, ich würde strampeln, ich würde Wut und Schmerzen erleben, aber es war okay. Das waren meine Gefühle.
In einer Fernsehkomödie bekam eine betrogene Frau gerade mal eine Szene, um ihre verletzten Gefühle auszuleben. Eine. Danach wurden Reifen zerstochen, Karrieren ruiniert und Mono-Bitches ausgelacht. Sehr befreiend, wirklich. Vielleicht warf die Heldin auch ihr ganzes bisheriges Leben über den Haufen, weil sie einen attraktiven jungen Kerl kennenlernte, aufs Stichwort. Vielleicht einen italienischen Kellner oder einen glutäugigen Spanier auf Mallorca. Einen, der nur darauf gewartet hatte, sein freies Leben als Gigolo über den Haufen zu werfen, um in einer deutschen Hausfrau im geblümten Schlabberkleid seine große Liebe zu finden.
Aber in diesem Moment begriff ich, dass das Leben nicht funktionierte wie ein Quotenkracher im Zweiten. Ich hatte einen langen Weg vor mir. Aber Wege entstehen, indem wir sie gehen.
Ich beschloss, mir jedes Gefühl zuzugestehen, das ich brauchen würde, um mich wieder lebendig zu fühlen. Ich beschloss, mich erst mal um meine Baustelle zu kümmern, und dann um meine Ehe.
Ich setzte mich mit einem Ruck wieder auf und fischte das Handy aus der Bettwäsche.
Simon, hör mir bitte zu. Ich will dich auf keinen Fall verletzen, aber ich weiß noch nicht, ob ich morgen schon nach Hause kenne. Ich hab ein zauberhaftes kleines Zimmer gebucht in einer sehr netten Künstler-WG und hier eine faszinierende Frau kennengelernt. Ich genieße die Gespräche mit ihr sehr. Sie betrachtet die Welt aus einer völlig anderen Perspektive als wir und sie lebt mit zwei wundervollen Männern zusammen. Ich brauche jetzt einfach ein bisschen Abstand, um einen klaren Kopf zu bekommen und bei diesen liebevollen Menschen zu sein, tut mir gerade einfach gut. Ich melde mich wieder bei dir, sobald ich weiß, wann ich komme. P.S. Ich kann jetzt heulen wie ein Wolf.
Mit einem befreiten Schnaufen ließ ich mich wieder zurück ins weiche Bett fallen. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich gut. Warm und geborgen. Fast genervt griff ich wieder zum Handy, ich hatte gar keine Lust auf eine Antwort, für mein Gefühl hatte ich das Gespräch soeben beendet.
Ja, klar! Du lässt dir von einer Hippie-Oma die freie Liebe erklären. Aber okay, du verarschst mich. Das hab ich verdient, ich halt das aus.
Ich prustete los und schlug mir sofort schuldbewusst die Hand vor den Mund. Aber die quirlige, wilde Annika als »Hippie-Oma« zu bezeichnen, hätte garantiert auch unten am Küchentisch fröhliche Lacher ausgelöst. Annika, die schwule Hippie-Oma. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie alt Anna war, aber sie war garantiert jünger als Simon und ich. Auf jeden Fall im Kopf. Ungefähr tausend Jahre jünger. Simon schickte gleich die nächste Nachricht. Offenbar war bei ihm Dampf auf dem Kessel.
Wenn du da mit irgendwelchen Typen rummachst, brauchst du gar nicht wiederzukommen!
Ich nagte mir angespannt an der Lippe. Wie war das? »Baut jetzt hier mal keine Täter-Opfer-Umkehrung?«
Ich dachte daran, mit wie viel einfühlsamer Wärme die drei über Menschen gesprochen hatten, die Verlustangst und Eifersucht verspürten und Fehler machten, weil sie hilflos waren. Ich überflog noch einmal Simons Nachricht und dachte: »Werte das mal nicht ab, Lena, damit wertest du dich selbst ab.«
Dann schrieb ich:
Ich liebe dich. Ich verspreche dir, dass ich mit niemandem schlafen werde. Ich will, dass wir es schaffen, du und ich. Aber ich komme nach Hause, wenn ich so weit bin. Schlaf gut.
Diesmal schaltete ich das Handy aus und legte es fast liebevoll auf den Nachttisch. Ich kroch wieder unter die warme Decke und lächelte, ohne zu wissen, warum. Aber ich fühlte mich so gut wie schon ewig nicht mehr. Bevor ich noch einen einzigen Gedanken fassen konnte, war ich selig eingeschlafen.