Sven drückte auf den Lichtschalter und sah dabei zu, wie das Licht durch die Leuchtstoffröhren sprang. Ich sah mich neugierig in dem kleinen Raum um. »Okay? Du bist offensichtlich kein Maler!«
An den Wänden hingen verschiedene Gitarren, aufgereiht an einer Wand standen jede Menge Trommeln, in den Ecken standen Verstärker. Sven machte einen großen Schritt in den Raum, stellte ein paar Hocker und Mikros zur Seite und schob mit dem Fuß Kabel aus dem Weg. Anna schob sich an mir vorbei und stellte eine Flasche Wasser ab. »Svenne ist Skalde, fahrender Musikant und Berufswikinger.«
Ich nickte, als könnte ich mir darunter etwas vorstellen. Sven lockte mich in die Mitte des Raumes. »Komm her, ich will herausfinden, wie du atmest.«
Ich sah ihn verdutzt an und verstand nicht, was er von mir wollte. Anna tauchte neben mir auf und flüsterte mir ins Ohr: »Sven ist unser Körpermensch. John ist der feinsinnige Intellektuelle, aber Sven spürt, wo es im Körper wehtut. Vertrau ihm einfach.«
Anna hob leicht die Arme an und sah für einen Moment aus wie ein Pinguin, der überlegt, wo er sich das Gefieder putzen soll. Sven kam zu ihr und legte ihr die flache Hand auf den Bauch. Wie ein Arzt murmelte Sven: »Schön tief einatmen!«
Anna holte tief Luft, dann kicherte sie. »Möchtest du es noch tiefer, Schatz?«
»Bring mich jetzt nicht aus dem Konzept!« Sven lachte leise, dann gab er mir einen Wink. Ich sah Anna fragend an, dann legte ich ihr die Hand an die Stelle, von der Sven gerade eben seine Hand weggezogen hatte. Sven flüsterte konzentriert: »Ich will nur verhindern, dass du heiser wirst, weil du falsch schreist. Fühl einfach, wo Annikas Atem hingeht und dann atmest du an genau dieselbe Stelle.«
Ich schnappte unbewusst verkrampft nach Luft und zog die Hand von Annas Bauch. Sven nickte und murmelte: »Das hab ich mir gedacht. Total blockiert.«
Während Sven sich nachdenklich an der Schläfe kratzte, schnappte Anna sich ein Tambourin aus einem völlig überladenen Regal und fing an, in einem kleinen Kreis um uns herum zu schlendern. Sven sah mich an. »Als ich gerade in die Küche kam, da hast du Luft geholt wie ein kleines Kind, das kein Eis bekommt.«
»Hab ich?«
Sven nickte, dann holte er mit einem schnellen doppelten Schluchzen tief Luft. Ich nickte. »Ah, okay, ich verstehe. Und das soll ich machen?«
»Hmhm.« Sven nickte. »Aber du sollst es nicht machen, um noch mehr Luft zu holen, sondern um richtig auszuatmen. Hol Luft als würdest du heulen und dann atmest du einfach ganz langsam aus. Richtig aus, bis du dich vollkommen leer fühlst. Dann denkst du wieder dran, dass du kein Eis kriegst«, Sven ahmte wieder meinen dramatischen Doppelschluchzer nach, »und dann wieder raus mit der Luft. Atme so lang aus, bis du das Gefühl hast, dass sogar dein kleiner Zeh sich so schlapp anfühlt wie eine leere Tüte.«
Ich musste lachen. »Und das soll Gesangstechnik sein?«
Sven schüttelte ernst den Kopf. »Das soll die Verspannung lösen und Stress abbauen. Du musst den Stress ausatmen, sonst kommst du über deine Blockade nicht rüber.«
Ich nickte, dann wurde ich ernst. Versuchen konnte ich es ja einfach mal. Ich kicherte noch ein bisschen verklemmt, als hätte ich den Malkurs gebucht und wäre im Schwangerschaftskurs beim Hecheltraining gelandet, aber dann konzentrierte ich mich einfach darauf, so zu atmen, wie Sven es mir gezeigt hatte.
Sven und Anna machten es mir leicht. Sie beachteten mich gar nicht. Anna rasselte leise mit dem Tambourin und drehte ihre Ründchen, Sven fummelte etwas an irgendwelchen Kabeln und ging prüfend die Trommeln durch. Und ich atmete. Ich schluchzte. Und ich atmete. Und langsam spürte ich, was Sven gemeint hatte. Mit dem kleinen Zeh. Ganz langsam bekam ich ein Gespür dafür, dass ich mich von innen angefühlt hatte, wie ein mit Gips ausgegossener Ballon. Ich fragte mich, wie lange ich dieses Gefühl wohl schon mit mir herumgetragen hatte, ohne es zu merken.
Ohne mich anzusehen, murmelte Sven: »Merkst du, wie deine Atmung ruhig und tiefer wird?«
Ich neigte erstaunt den Kopf. Er hatte Recht! Allein dadurch, dass ich mich aufs Atmen konzentrierte, löste sich etwas in mir, ich fing intuitiv an, zu der Stelle zu atmen, die Sven und Anna mir gezeigt hatten. Auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Anna ließ das Tambourin gegen ihr Bein scheppern und nahm einen Rhythmus auf, der immer schneller wurde. Mit gesenktem Kopf lief sie so um mich herum, dass ich mich von dem Rhythmus fast umzingelt fühlte.
Als sie wieder vor meiner Nase vorbeikam, hörte ich erst ein dumpfes Grollen, dann hob sie den Kopf und stimmte ein wildes Wolfsgeheul an. Sven stimmte ein. Beide fingen einen Wolfsgesang an, der zum Fürchten war. Sie begannen mit tiefen Tönen und schraubten ihre Stimmen hoch zu einem wilden Geheul, das mit übermütigem Gebell endete.
Ich bekam Gänsehaut und war völlig fasziniert. Sie waren mir so nah in dem kleinen Raum, dass ich die Schwingungen der Töne zu spüren meinte. Anna fing an, sich wie ein Derwisch um sich selbst zu drehen und jagte das Tambourin in einer so schnellen Frequenz um mich herum, dass mir schwindelig wurde. Alles fühlte sich an wie in einem surrealen Traum mit atemberaubenden Tempo.
Anna blieb vor mir stehen, warf den Kopf in den Nacken und ihre wilden Haare flogen ihr übers Gesicht. Sie heulte mich an. »Ajuuuuuuuuuuu!«
Ich presste ein verklemmtes Krächzen aus dem Hals. Sven fing hinter mir an, einen wilden Rhythmus zu trommeln. Der ganze Raum bebte. Anna schlängelte sich sinnlich in Svens Rhythmus und ließ die Hand über ihren schmalen Körper gleiten, um mir zu zeigen, welchen Weg mein Atem nehmen musste. In diesem Moment begriff ich, wieso Männer alles taten, um in der Nähe dieser Frau zu sein. Sie hatte eine unglaublich erotische Präsenz, sie war ungezähmt. Wild und frei.
Ich brachte ein mickriges »Ajuuu!« zustande.
Das Trommeln hinter mir brach ab und Sven verschwand aus dem Raum. Während ich mich noch verwirrt umsah, tauchte er schon wieder auf und legte mir eine riesige, warme Jacke um die Schultern. Knapp befahl er: »Annika, sie muss raus, sie projiziert nicht. Sie braucht Weite.«
Anna lachte. Heiser, rau, laut. Übermütig. »Digger, das ist arschkalt!«
Sven kommandierte nur mit einem Kopfnicken: »Nika, Schal und Jacke!«
Anna ahmte mit einem tiefen Brummen Svens volle Stimme nach. »Schal und Jacke!«
Sven lachte dröhnend, dann hauchte er mir ins Ohr: »Hörst du das Volumen? Das ist ihre nicht domestizierte Stimme. Die findest du auch.«
Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch, dann stolperte ich hinter Sven und Anna her, nach draußen. Anna war immer noch damit beschäftigt, sich einen viel zu langen bunten Schal um den Hals zu wickeln, was ein wildes Scheppern auslöste, da sie immer noch das Tambourin in einer Hand hielt.
Ich spürte die eiskalte Luft in den Lungen und rief atemlos: »Ihr wollt aber jetzt nicht hier draußen Krach machen, oder?«
Sven breitete die Arme aus und sog tief die eisige Abendluft ein. Mir fiel auf, dass er keine Jacke trug. Wahrscheinlich, weil er mir seine Jacke übergeworfen hatte. Er lachte gegen den Wind. »Ostfriesland! Unsere Leute im Nachbarhaus sind gewarnt, der Rest der Zivilisation ist zwei Kilometer entfernt und Kummer gewohnt! Die wundern sich nicht, wenn die schwulen Hippies ausrasten!«
Diesmal prustete ich los. Die schwulen Hippies würden mich wohl nie wieder loslassen. Anna war über das vereiste Gras im Garten zu einem Weidetor gehoppelt und ließ es weit aufschwingen. Übermütig rief sie: »Keine Angst, der Stier ist nicht zu Hause!« und rannte auf die verlassene Kuhweide hinterm Haus.
Plötzlich stimmte sie ein ohrenbetäubendes »Lululu!« an, wie die arabischen Stämme in »Lawrence von Arabien«, wenn sie in den Kampf stürmten. Sven murmelte hingerissen: »Oh, ich liebe es, wenn sie das tut!«
Ich musste lachen. »Ich versteh schon, was du an ihr findest.«
Sven lachte laut auf, dann stapfte er hinter Anna her auf die Wiese. »Na, komm schon, Lenchen, schmeiß mir deine Stimme an den Kopf! Schrei mich in Grund und Boden!«
Der Wind riss an Svens Stimme, aber ich hörte ihn laut und deutlich, wie in einer Kathedrale. Plötzlich wollte ich das auch können. Krach machen. Laut sein. Ungehemmt sein. Das Potenzial meiner eigenen Stimme entdecken. Ich senkte den Kopf und konzentrierte mich. Ich atmete tief ein. Dann warf ich den Kopf in den Nacken, wie Anna es getan hatte. Und plötzlich brach das Heulen aus mir heraus. »A-a-a-a-a-ajuuuuuuuuuuuuu!«
Ich heulte, bis ich keine Luft mehr in den Lungen hatte. Anna sprang irgendwo auf der dunklen Wiese herum und rief übermütig: »Ist schon wieder Vollmond? Digger, wir haben einen Werwolf erschaffen!«
Sven lachte nur dröhnend. Ich setzte wieder an. »Ajuuuuuuuuuuuuuuuu!«
Das wurde immer besser! Ich sah, wie Anna ihrem Sven mit einem geschmeidigen Satz auf den Rücken sprang. Sven trabte mit der kleinen Frau auf dem Rücken los, als wäre sie ein Rucksack und fing an, wilde Haken zu schlagen. Anna wurde durchgeschüttelt und lachte aus vollem Hals.
Als ich gerade neu ansetzen wollte, heulte hinter mir ein anderer Wolf los. Ich fuhr herum. Der stille John war absolut nicht mehr still. Offenbar kannte er diese »Übung«.
John heulte so leidenschaftlich, als hätte er sein Rudel verloren. Vielleicht hatte er das sogar irgendwie, denn sein Rudel tobte irgendwo in der Dunkelheit über die Weide. Ich starrte ihn atemlos an. John ließ den heulenden Ton ausklingen, dann grinste er mich verschämt an und zuckte die Schultern.
Sven schrie gegen den Wind: »Komm schon, Krabbe! Was nervt dich an dem verdammten Scheißkerl?«
Ich wirbelte wieder herum und ballte die Fäuste. Jetzt verstand ich, wieso sie das mit mir taten. Sie wollten mir helfen, die verdammte Wut loszuwerden! Ich hätte heulen können vor Glück, weil ich Menschen getroffen hatte, die so vollkommen selbstlos für mich da waren. Aber ich kochte gleichzeitig über. So was von über. Ich brüllte gegen den Wind: »Der Scheißkerl hat mir mein Leben gestohlen!«
Unschuldig und verwundert rief Sven aus der Dunkelheit: »Was hab ich denn gemacht?«
Ich beugte mich vor und brüllte aus vollem Hals: »Ich hab dich geliebt! Ich hab dir vertraut! Und du verrätst alles, woran wir geglaubt haben und vögelst diese«, ich zappelte vor Wut und boxte in die Luft, »scheiß Annegret! Diese bildungsferne Praktikantin einer Klofrau, diese Fimo-Bastelmutti mit ihrem praktischen Kurzhaarschnitt und den dicken Titten und ihrem ordinären Wackelarsch! Du brichst mir das Herz, um dieser läufigen Hündin mit dem IQ einer Cocktailtomate hinterherzurennen! Und du lügst mir offen ins Gesicht, dass alles in Ordnung ist, weil du einfach nicht die Eier hast, mit mir in den Ring zu steigen und es auszufechten!«
Ich holte wieder tief Luft, dann brach ich erneut heulend zusammen. Aber diesmal vor Wut. Es fühlte sich an, als würde eine riesige Flutwelle alles mitreißen, was ich in den letzten Tagen, vielleicht sogar in den letzten Monaten und Jahren in mich reingefressen hatte, um nett lächeln zu können. Um nicht unbequem und lächerlich zu sein. Um mir nicht eingestehen zu müssen, dass eine leise Stimme in meinem Kopf immer wieder fragte, ob das jetzt alles gewesen sein sollte. Mein Leben.
Ich holte sofort wieder tief Luft und brüllte in die Nacht: »Ich hatte auch Angebote, du Arsch! Ben hat schon tausendmal mit mir geflirtet und als ich noch den Laden hatte, gab es da einen sehr attraktiven Lieferanten, der mich immer wieder zum Essen einladen wollte! Aber ich hab abgelehnt! Ich hab verzichtet! Mein Mann vertraut mir, hab ich gedacht! Ich bin nicht so eine, die heimlich mit anderen ins Hotel geht! Ich hab mein halbes Leben verpasst, weil ich dich nicht verletzen wollte!«
Hinter mir hörte ich einen sanften Laut, dann tauchte John vor mir auf und nahm mich sanft in die Arme. Ich verbarg das Gesicht in seinem weichen Hemd, schlang hilfesuchend die Arme um ihn und fing an zu weinen. Aber diesmal weinte ich auf die Art, auf die Katzen schnurren, wenn sie sich selbst heilen. Leise und beruhigend. Ich weinte wie ein müdes, erschöpftes Kind, das sich gehenlassen kann, weil es nicht allein ist. Weil es gehalten wird. Johns Wärme tat mir unglaublich gut.
Sven lachte irgendwo leise. »Level successfully completed.«
Anna schimpfte: »Aber jetzt ist sie doch heiser geworden!«
Ich spürte Johns leises Lächeln. Er strich mir sanft über die Haare. Sven flüsterte ganz in meiner Nähe: »Siehst du? Ich hab gleich gesagt, wir brauchen die irische Geheimwaffe! Keiner kann Frauen so zum Weinen bringen wie John!«
Anna prustete los. Ich musste selbst lachen und stellte fest, dass ich Johns kariertes Flanellhemd gnadenlos nass gemacht hatte. Der arme Kerl musste ganz furchtbar frieren. Ich sah zerknirscht zu ihm auf. Er sah mich forschend an und flüsterte: »Ich glaub, ich hab mich noch nicht richtig vorgestellt. Ich bin John.«
Ich sah hingerissen zu ihm auf und fragte mich, wieso ich eigentlich monogam war. Für eine klitzekleine und böse Sekunde wünschte ich, dass Simon mich sehen könnte. Hier, mit diesen Leuten, in den Armen dieses Mannes. Ich trat zurück, dann lachte ich verschämt. »Ich bin Lena. Euer B&B-Gast.«
John nickte abgelenkt, weil Sven, Anna immer noch huckepack, um uns herum galoppierte. John wischte sich über die Augen. »Ich bin eigentlich nur raus gekommen, um euch zu sagen, dass ich den kleinen Snackisnack aufgebaut hab. Der Tee wird langsam kalt.«
Fröhlich sang Anna »Snackisnack, Snackisnack!« und trieb Sven mit den Schenkeln an wie ein träges Pony. In einem komplizierten Schrittmuster trabte Sven zum Haus, als würde er Kästchenhüpfen spielen. Ich grinste John verlegen an. »Was ist ein Snackisnack?«
John deutete mit einem Nicken zum Haus. »Siehst du gleich. Steht in der Küche.«
Anna fluchte und schimpfte, weil Sven mit ihr auf dem Rücken nicht durch die Tür passte, dann lachten die beiden wieder übermütig los. Sven drehte sich rückwärts durch die Tür, dann waren die beiden verschwunden.
Ich grinste. »Wie hältst du das mit den beiden bloß aus?«
John zuckte die Schultern. »Wenn sie mich nerven, mache ich ihnen Netflix an. Dann schlafen sie meistens beim Kuscheln ein.«
Ich sah ihn ungläubig an, dann stolperte ich mit einem überdrehten Lachen hinter Sven und Anna ins warme, bunte Haus.