Ich sank mit einem der letzten Doppelschluchzer auf die Küchenbank und schämte mich einfach mal still in Grund und Boden. Der plötzliche Heulanfall war mir einfach wahnsinnig peinlich. Aber Anna hatte mich mit unendlicher Geduld tröstend gestreichelt, leise Geräusche gemacht und mir ein Taschentuch nach dem anderen gereicht.
Jetzt hatte sie mich überredet, noch einen Tee zu trinken und vielleicht einfach mal die Männer um Rat zu fragen. Denn so viel hatte sie aus meinem geheulten Gestammel verstanden: dass es um einen Mann ging. Meinen Mann.
Die Küche war wie durch Zauberei schon wieder blitzblank und ordentlich, die Spülmaschine brummte zufrieden. Vom stillen John war aber nichts zu sehen. Von Sven auch nicht. Das war mir auch ganz recht so. Für einen irrwitzigen Moment hatte ich die Hoffnung, dass die Männer von meinem dramatischen Nervenzusammenbruch nichts mitgekriegt hatten.
Noch irrwitzer war der Gedanke, wie ungerecht die Welt ist. Anna hatte gleich zwei Männer, die die Küche aufräumten. Ich würde bald keinen mehr haben. Wenn es richtig schlecht lief, würde ich auch keine Küche mehr haben. Denn dann würde Annegret in meiner Küche für Simon kochen. Und dann würde sie sich darüber aufregen, dass er die Küche nie aufräumte.
Schon wieder blubberte diese diffuse Wut in mir hoch. Keine Wut auf Simon, so weit war ich noch nicht. Aber Wut auf mein Leben, auf die ganze Welt, auf die Weichen, die ich gestellt hatte.
Anna fing an, Teewasser zu kochen und kramte im Schrank nach einer Kanne und Tassen. »Digger?«
Ich zuckte zusammen, weil sie ohne Vorwarnung so laut gerufen hatte. Als keine Antwort kam, steckte sie kurz den Kopf in ein angrenzendes Zimmer und zupfte sich unsichtbare Kopfhörer aus den Ohren. Von Sven kam ein entspanntes: »Hm?«
»Sag mal, Digger, hast du noch ein bisschen Zeit für uns? Wir könnten einen Fachmann für vertüdelte männliche Gefühle brauchen.«
»Klar, Fachmann kommt sofort!«
Anna nickte zufrieden und kam wieder in die Küche. Langsam fing der Wasserkocher an zu stöhnen. Anna verteilte vier Tassen auf dem Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sven schlenderte herein. Inzwischen steckte der riesige durchtrainierte Kerl in einer Jogginghose und band sich gerade wieder die Haare zusammen. »Okay, wo ist der Patient?«
Ich hob mit dem hoffentlich allerletzten lautlosen Schluchzer zaghaft den Finger. Als Sven mich fragend ansah, wurde mir bewusst, dass ich furchtbar aussehen musste. Ich hob die Hand wie ein Promi, der einen Paparazzo im Gebüsch entdeckt hatte, und drehte den Kopf weg. Sven ging an mir vorbei zu seinem Stammplatz und rieb mir kurz beruhigend die Schulter. »Kein Grund, sich zu schämen, kleene Krabbe, in diesem Haus gibt es keine peinlichen Gefühle.«
Fast hätte ich gelacht. Kleene Krabbe. So hatte mich noch nie jemand genannt. Aber es fühlte sich irgendwie warm und schön an. Sven setzte sich und sah uns abwechselnd an. »Was ist jetzt Sache?«
Anna deutete auf mich, dann sprang sie wieder auf, um weiter in ihrer zauberhaften kleinen Küche zu rascheln. »Lena muss erzählen, ich weiß nichts und das ist ihre Geschichte.«
Ich wischte mir noch einmal über die Augen. Verlegen murmelte ich: »Ich weiß gar nicht, was ich euch erzählen soll! Leute wie ihr können mein Problem doch gar nicht verstehen!«
Sven beugte sich interessiert zu mir. »Nur zum Verständnis: Wer sind Leute wie wir?«
Ich zuckte verlegen die Schultern. »Na ja, Anna hat mir erzählt, dass ihr es mit der Treue nicht so genau nehmt. Ihr wisst doch dann gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn man eifersüchtig ist!«
Sven und Anna tauschten einen Blick, der verdächtig geduldig aussah. Sven rieb sich die Bartstoppeln, um ein Grinsen zu verstecken. »Hm, okay, solche Sachen hören wir oft. Aber glaubst du nicht, dass gerade wir wissen, wie Eifersucht sich anfühlt?«
Ich zog verwirrt die Stirn kraus. Sven seufzte tief, aber als er dann sprach, klang seine Stimme ganz warm und sanft. »Krabbe, wir sind Profis, wenn es darum geht, verletzte Gefühle zu entwirren und zu verstehen, vor welchen Betonpfosten wir jetzt wieder gerannt sind. Also gib uns einfach eine Chance.«
Ich schniefte misstrauisch. Plötzlich kam mir ein beunruhigender Gedanke. »Ich lass mich aber nicht dazu bequatschen, so zu werden wir ihr! Ich bin nicht bereit dazu, meinem Mann zu sagen, dass er Pizza mitbringen soll, wenn er von seiner Geliebten kommt! Ich bin kein …«, für einen Moment hing wieder der Ausdruck »schwuler Hippie« in der Luft, dann grinste Sven und stellte gutmütig fest: »Da ist aber jemand auf Krawall gebürstet!«
Anna stellte die Teekanne auf ein Stövchen und setzte sich. »Svens Lieblingsgeliebte lebt in Berlin. Wenn er von ihr Pizza mitbringen würde, wär die ja ganz kalt!«
Sven sah Anna nachdenklich an. »Ich könnte Tiefkühlpizza mitbringen, wenn ich das nächste Mal aus Berlin komme. Du weißt schon, die mit diesen winzigen Käsekügelchen und diesen roten Dingern, die erst scharf werden, wenn du zu viel davon isst.«
Anna neigte den Kopf, als würde sie tatsächlich von Pizza träumen. »Stimmt, die kriegt man hier nirgendwo! Ich kann aber auch mal gucken, ob ich die kriege, wenn ich mit Lothar aus Berlin komme, dann packen wir mal die Truhe voll. Dann müsste ich nur diese komische Kühltasche im Auto anschließen.«
Meine Wut brodelte zischend hoch wie ein Wassertropfen, der aus dem Kochtopf auf die heiße Herdplatte perlt. »Macht ihr das jetzt mit Absicht?«
Beide sahen mich erschrocken an und fragten gleichzeitig: »Was?«
Ich knurrte: »Ihr macht euch lustig über mich!«
Anna bekam vor Schreck ganz große Augen. Schnell beteuert sie: »Nein, absolut nicht! Unser Gefasel ist nur der Tatsache geschuldet, dass diese trübe Woche zwischen den Jahren uns immer irgendwie mürbe macht.«
Sven nickte. »Bei dem finsteren Wetter und der Langeweile denken wir irgendwie nur ans Essen!«
Misstrauisch knurrte ich: »So seht ihr aber nicht aus!«
Anna strich Sven zärtlich über den Arm und flüsterte: »Wir lassen Lena jetzt einfach mal erzählen und halten die Klappe.«
Ich stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Ich kannte diese Menschen doch gar nicht! Als hätte er meine Gedanken gelesen, murmelte Sven: »Manchmal fällt es ja leichter, mit Fremden zu reden.«
Ich holte tief Luft und sah auf. »Ich will euch aber echt nicht die Zeit stehlen mit meinen Problemen!«
Anna und Sven neigten nur synchron die Köpfe und sahen mich abwartend an. Ich holte wieder tief Luft. »Also, die Sache ist die. Mein Mann und ich, wir kennen uns schon seit der Schule. Wir haben uns schon als Teenager verliebt! Und irgendwie war für uns immer alles klar! Wir haben unsere Ausbildungen gemacht, sind gemeinsam nach Hannover gegangen, haben geheiratet, das Haus gebaut … wir waren glücklich, richtig glücklich! Wir haben uns einen Freundeskreis aufgebaut, sind in den Urlaub gefahren, all das. Wir wussten einfach von Anfang an, dass wir zusammengehören!«
Anna nickte wild. »Hmhm, wir auch! Wir kennen uns auch aus der Schule!«
Sven neigte sich leicht zu Anna und strahlte sie an. »Ich hab mich in dich verknallt, weil deine Schultüte größer war als du, weißt du noch, Kleene?«
Anna schlug stöhnend die Hände vors Gesicht. »Oh, Gott, und ich musste dieses scheußliche rosa Kleidchen tragen, ich sah so scheiße aus!«
Sven beugte sich zu Anna und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe. »Ich hab nur deine Rattenschwänze gesehen und war verloren!«
Anna kicherte leise, dann räusperte sie sich und setzte sich artig zurecht. »In der Schule kennengelernt, weiter!«
Ich sah die beiden mit offenem Mund an. »Ihr habt euch als Kinder kennengelernt? Und ihr seid heute noch zusammen?«
Anna nickte eifrig. »Ihr doch auch!«
Ich lehnte mich erschlagen zurück und sah an die Decke. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob wir noch zusammen sind.«
»Was ist passiert?« Annas Stimme klang ganz weich und so mitfühlend, dass ich fast wieder in Tränen ausgebrochen wäre.
»Simon hat sein Handy vergessen, als er zur Arbeit gefahren ist. Ich wollte nicht schnüffeln, ehrlich nicht, ich wollte nur gucken, wer da die ganze Zeit versucht, ihn zu erreichen!« Ich setzte mich angespannt auf. »Erst hab ich gar nicht kapiert, was los ist! Ich hab diese Nachrichten überflogen und einfach gar nichts verstanden! Ich vermisse dich? Du fehlst mir wahnsinnig? Ich muss ständig an gestern denken, das war fantastisch? Ich freu mich so drauf, wenn die frustrierte Ziege endlich zu ihrer Mutter fährt, dann hab ich dich ganz für mich allein?«
Ich sah Sven und Anna anklagend an. Sven murmelte: »Aua.«
Ich ließ den Kopf sinken und rieb mir müde die Stirn. »Ich hab das Gefühl, dass mir mein ganzes Leben weggenommen wurde. Als hätte ich von einer Sekunde auf die andere alles verloren, woran ich geglaubt habe. Ich hab es bei den Nachbarn erlebt, bei Freunden, in der Familie, aber ich dachte, uns trifft das niemals. Simon würde mich niemals betrügen, niemals.«
»Und was hast du gemacht?« Anna sah mich aus ihren grünen Kulleraugen gespannt an.
»Gar nichts.« Ich stöhnte leise. »Ich war zu feige. Als er nach Hause kam, hab ich ihn gefragt, wie sein Tag war, er sagte, alles wäre wie immer gewesen, ein bisschen langweilig. Und das war’s. Das war unser ganzes Gespräch über das Scheitern unseres gemeinsamen Lebens. Ich war zu feige, die Sache offen anzusprechen.« Ich sah auf und warf ein entschuldigendes Lächeln in die Runde. »Ein paar Tage später bin ich dann zu meiner Mutter gefahren. So machen wir das jedes Jahr. Heiligabend bei seinen Eltern in Braunschweig, dann fahre ich zu Mama nach Emden. Und jetzt bin ich hier. Ich wollte einfach noch nicht nach Hause und hab ihm geschrieben, dass ich ein paar Tage länger bleibe.«
Sven und Anna sahen mich verwirrt an, dann wechselten sie wieder diesen Blick. Anna räusperte sich. »Du hast deine ganze Wut runtergeschluckt und völlig versteinert Weihnachten überstanden? Du hast alles in dich reingefressen und dieser Mono-Bitch das Feld überlassen?«
Unsicher fragte ich: »Mono-Bitch?«
Sven rieb sich mit einem tiefen Seufzer den Arm und erklärte: »Eine monogame Frau, die anderen Frauen den Mann ausspannen will. Das bezeichnet Annika als ›Mono-Bitch‹. Eigentlich sind wir da nicht so, Sister vor Mister, aber Beziehungen zu sprengen, das geht gar nicht!«
Ich runzelte verwundert die Stirn. »Ich dachte, Menschen wie ihr nehmen das nicht so genau.«
Anna schnaubte böse. »Ja, das sind wieder die Vorurteile über uns Poly-Frauen! Wir vögeln mit jedem Kerl, den seine Frau nicht rechtzeitig im Keller einsperrt! Wir kennen keinen anderen Gedanken, als uns in harmonische Ehen zu drängen! Kein Wunder, dass du abhauen wolltest, als du dachtest, dass ich Sven mit John betrüge, mit so einer würde ich auch nicht an einem Tisch sitzen wollen, das würde mich rasend machen!«
Sven lachte unbekümmert auf. »Sie dachte, ihr würdet mich betrügen?«
Anna nickte wild und pustete sich atemlos eine Locke aus der Stirn. »Deswegen wollte sie weg! Weil sie dachte, dass ich genauso eine Bitch bin wie diese böse Hexe Männerklau, die an ihrem Mann rumgräbt!«
Mein Gesicht zuckte für einen Moment verkrampft, dann prustete ich los. Es war einfach umwerfend niedlich, wie Anna sich auf mein Schlachtfeld stürzte und meinen Kampf aufnahm. Sven schüttelte grinsend den Kopf, dann sah er mich abschätzend an. »Hast du dir schon Luft gemacht? Dampf abgelassen?«
Ich murmelte resigniert: »Wie denn? Unterm Weihnachtsbaum bei meinen Schwiegereltern?«
Sven zog mit einem Seufzen das Handy aus der Tasche. Anna legte neugierig den Kopf an seinen Arm. »Was machst du?«
Ich scannte neidisch, wie unbefangen sie in sein Handy blickte, während ich mich seit Tagen fühlte wie eine miese kleine Schnüfflerin. Aber welche Geheimnisse sollte ein Mann in einer offenen Beziehung schon haben?
Sven tippte und murmelte: »Ich sag nur kurz den Nachbarn, dass sie sich keine Sorgen machen sollen, wenn es laut wird.«
Anna kicherte. »Wenn wir eine spontane Schrei-Therapie machen, wollen Steffi und Moni bestimmt auch rüber kommen!«
Sven verschickte seine Nachricht und steckte das Handy wieder weg. »Nichts da, geschlossene Gesellschaft.«
Ich rutschte gespannt hin und her. »Okay, und was machen wir jetzt?«
Sven grinste satt. »Eskalation, kleene Rübe! Wann bist du zum letzten Mal so richtig ausgeflippt?«