Langsam wurde es still in der Scheune. Die Bühnen-Ecke wurde jetzt von Scheinwerfern angestrahlt und immer noch klapperten hinter uns Türen auf und zu. Ich schnappte ein paar Fetzen Russisch auf. Simon tauchte ganz nah hinter mir auf, legte mir die Hände an die Taille und flüsterte: »Hast du Vadim und die singenden Komsomolzen schon kennengelernt?«
Ich genoss seine Berührung und kicherte. »Ich hatte bis jetzt nur das Vergnügen mit Wikingern, Elvis und einem ostfriesischen Lord Byron!«
Simon hauchte erstaunt: »Ich glaube, wir kriegen heute hier richtig was geboten!«
Anna und der Bärchen tauchten auf der Bühne auf, tuschelten wichtig und bogen an einem Mikrofon herum. Hinter ihnen huschten die Nordmänner zu ihren Instrumenten. Ich sah mich um. Im Partyvolk erkannte ich jetzt schon ein paar bekannte Gesichter. Steffi tuschelte angeregt mit ein paar Freunden, hinten an einer Wand standen John und Lilly ähnlich wie wir – ein Liebespaar, das sich gern berührt. Mich durchströmte ein ganz warmes Gefühl.
Anna räusperte sich und warf einen strengen Blick in die kleine, bunte Menge. »Jetzt ist aber hier mal Ruhe im Karton!«
Der Bärchen nickte und verschränkte die Hände auf dem Rücken wie ein Streifenpolizist. »Wer jetzt noch tuschelt, muss hundert Liegestützen machen!«
Erst breitete sich Gekicher aus, dann wurde es still. Anna atmete tief durch. »Ja, öhm, Ladies and Gentlemen, Freunde, Gäste, Künstler und Schnorrer! Die meisten von euch werden uns kennen, wir sind die Frau Schnulze und der Herr Bärchen, die Rampensäue des Flying-Kluntje-Videokanals und wir sind gezwungen …«
Der Bärchen unterbrach sie: »Gebeten, wir sind gebeten worden!«
Anna rollte mit den Augen. »Wir sind gebeten worden, diese possierliche kleine Silvester-Gala zu moderieren.«
Der Bärchen drängte sich nach vorne ans Mikro. »Ganz herzlich begrüßen möchten wir unseren hauseignen Elvis, Keno, den Kutter-King von Bensersiel! Und natürlich Vadim und die singenden Komsomolzen, die extra angereist sind, um Frau Schnulze mit Klängen aus ihrer Heimat …«
Hinter uns erhob sich ein volltönender, klarer Bariton, der »Kalinka« zu singen begann. Anna ging auf der Bühne stöhnend in die Knie. Der Bärchen hob mahnend die Hände. »Stopp, stopp! Russland ist groß und der Zar ist breit, aber bevor wir uns den folkloristischen Elementen widmen, wird es Zeit für die jährliche Silvester …«
Alle, die schon einmal hier gewesen waren, riefen im Chor: »Fucking-Hell-Klischee-Dance-Battle für Stoppelhopser!«
Lauter Applaus und begeisterte Rufe ertönten. Ich sah, wie Sven sich hinter Anna mit einer E-Gitarre auf einem Barhocker niederließ. Er ließ den Blick durch die Menge schweifen. Als er mich entdeckt hatte, schenkte er mir sein sattes Grinsen und ließ die Gitarre kurz aufheulen. Als ich die ersten Takte von Footloose erkannte, schlug ich lachend die Hände vors Gesicht. Offenbar hatte sich schon rumgesprochen, wie viel Ahnung ich vom Tanzen hatte.
Simon lachte mir ins Ohr. »Galt das dir?«
Ich spürte seine Wärme und lehnte mich lachend gegen ihn. Anna fauchte streng: »Digger, jetzt hör doch mal auf, den Unterricht zu stören!«
Sven grinste schuldbewusst, dann legte er die Hand auf die Saiten. Anna grunzte zufrieden, dann wandte sie sich wieder an ihr Publikum. »Butter bei die Fische! Wir rufen das Team Rot auf die Tanzfläche!«
Fast die ganze Scheunenbesatzung stürmte in die Mitte des Raumes. Einige kicherten nervös, andere prusteten jetzt schon vor Lachen. Ich drehte mich fragend um. Simon hielt eine rote Kugel hoch und grinste mich erleichtert an. »Sind wir im selben Team?«
Ich nickte wild und zog ihn mit einem breiten Grinsen auf die Tanzfläche. Meinen Mann, der seit unserem Hochzeitswalzer nicht mit mir getanzt hatte.
Irgendjemand rief: »Gehört eigentlich irgendjemand zum Team Blau?«
Der Bärchen setzte sich einen Cowboyhut auf und beugte sich übers Mikro. »Team Blau muss die kleinen Schwäne aus Schwanensee tanzen. Da wir aber heute echte Russen zu Gast haben, wollten wir euch die Schmach ersparen und haben nur rote Kugeln in den Beutel getan.«
Anna kicherte verschmitzt. »Wer nicht im Team Rot ist, hat gar keine Kugel gezogen.«
Schon wieder brandete übermütiges Gelächter auf. Neben uns tauchten Lilly und John auf. John schien sich genauso widerwillig auf die Tanzfläche ziehen zu lassen wie mein Simon, aber ich fragte mich, wieso er so verschämt grinste. Irgendwas würde er aus dem Hut zaubern. Ich sah irritiert an ihm herab. Trug er Tanzschuhe?
Anna holte tief Luft und kommandierte: »Line-Dance, meine Damen und Herren! Alle stellen sich jetzt mal lecker in Reihen auf!«
Einige stöhnten auf, andere grölten und klatschten. Simon jammerte neben mir leise. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern, während wir uns sortierten und uns aufstellten wie eine Kompanie auf dem Kasernenhof.
Der Bärchen hob die Arme und rief: »Haltung! Wir kneifen die Arschbacken zusammen, als wollten wir einen Cent einklemmen!«
Simon klappte vor Lachen zusammen, aber dann stellte er sich artig neben mich. Anna winkte John nach vorne. »Unser Klischee-Ire wird euch jetzt kurz zeigen, was ihr zu tun habt, dann proben wir alle gemeinsam die Schrittfolge!«
Die Wikinger raschelten auf der Bühne und tuschelten. Während John sich mit gesenktem Kopf einen Weg durch die Menge bahnte, ertönte eine irische Flöte, dann setzte eine Trommel ein und plötzlich legte eine Fiedel los. Simon stöhnte fast lautlos: »Oh, mein Gott!«
John blieb mit gesenktem Kopf vor der vordersten Reihe stehen und atmete tief und gleichmäßig. Langsam verwandelte sich der stille John. Er richtete sich kerzengerade auf. Ich reckte gespannt den Kopf.
Plötzlich klapperten seine Füße rasend schnell los. Er drehte sich um sich selbst, dann breitete er die Arme aus und steppte getrieben von der schnellen Musik mit atemberaubender Eleganz vor der ersten Reihe hin und her. Die Wikinger fiedelten und trommelten, als ginge es um ihr Leben.
Die Menge grölte und klatschte.
Lilly winselte hingerissen: »Oh, ich steh drauf, wenn er den Klischee-Iren macht!«
Plötzlich brach die Musik ab. John riss kurz die Arme hoch, dann verkrümelte er sich von der Tanzfläche in eine stille Ecke, ohne auf den tosenden Applaus zu achten. Der Bärchen trat wieder vor und rief: »Danke! Danke! Das Malerchen ist noch die ganze Woche hier!«
Anna drängelte sich wieder nach vorne und grinste frech. »So, jetzt habt ihr das alle mal kurz gesehen, jetzt können wir das auch nachmachen!«
Simon lachte verzweifelt. »Das meint sie nicht ernst, oder? Ich will ins Team Blau!«
Lilly und ich prusteten los. Ich fragte mich, wann ich Simon zum letzten Mal so gelöst und unbeschwert erlebt hatte. Bei unserer Abi-Feier? Wann war ich selbst so locker und ausgelassen gewesen?
Anna lachte dreckig. »Jetzt habt ihr ein bisschen Angst gekriegt, seid ehrlich!«
Wieder machte sich kollektives Kichern breit. Der Bärchen trat vor und hob beruhigend die Hände. »Vier Schritte, Leute! Ganze vier Schritte, das schaffen wir!«
Hinter den beiden fing jetzt einer der Wikinger an, mit Klanghölzern einen geschmeidigen Rhythmus zu klappern, der an das Hufgetrappel von Pferden erinnerte. Zum Glück waren es entspannte Pferde, keine irischen Vollblüter!
Sven stand auf, kramte herum und setzte sich wieder. Diesmal hatte er eine andere Gitarre auf dem Schoß. Simon flüsterte fasziniert: »Hat der eine richtige Western-Gitarre?«
Lilly wisperte stolz: »Sven hat mehr Gitarren als Frauen!«, als wäre das eine erstaunliche Leistung. Simon und ich hielten uns an den Händen und versuchten, nicht vor Lachen in Schnappatmung auszubrechen.
Anna klaute dem Bärchen den Cowboyhut und setzte ihn selbst auf. Sie sprach mit gesenktem Kopf, im Rhythmus des Hufgetrappels. »Also, Leute. Wichtiger als die Schrittfolge ist euer Mindset. Wir wollen ein Klischee von euch sehen! Ihr seid jetzt verklemmte monogame Heten aus Montana mit mächtig dicken Eiern. Männlich, weiß, homophob, alles klar?«
Simon flüsterte stolz: »Das schaff ich!«
Lilly und ich prusteten wieder los und versuchten, Annas völlig verwandelte Körpersprache nachzuahmen. Ihre Stimme fiel in eine Art Sprechgesang und sie nahm einen amerikanischen Akzent an. »Ihr seid hüftsteife Kerle, die den ganzen Tag im Sattel gesessen haben. Jetzt habt ihr ein paar Gallonen süffiges Bier gezischt, um euch locker zu machen. Zum Tanzen hebt ihr nicht die Füße vom Boden, noch nicht mal dann, wenn ihr die Füße vom Boden hebt! Dazu seid ihr zu cool! Und das wichtigste«, Anna machte einen Schritt zurück, tippte mit dem Fuß auf und machte noch einen Schritt, »ist eure Gürtelschnalle! Ihr wisst nämlich sonst nicht, wohin mit euren Pfoten!«
Sie klatschte laut, drehte sich einmal um sich selbst und legte die Hände an eine unsichtbare Gürtelschnalle. »Eure Gürtelschnalle ist monströs! Gigantisch! Dagegen ist euer Sattelknauf ein Goldnugget! Aaaalso: Hände an den Gürtel und: Schritt, Tapp, Schritt, Tapp, Klatschen und die Drehung!«
Die Western-Gitarre fing an, eine melancholische Melodie zu wimmern. Anna und der Bärchen tanzten sich ein. Wie in Trance vollführten sie immer wieder die Schrittfolge, als wären sie ein eingespieltes Tanzpaar. Wahrscheinlich waren sie das sogar.
Jetzt kam tatsächlich rhythmische Bewegung in unsere chaotische Bande. Lilly tanzte los, als wäre sie in einem Saloon aufgewachsen. Aber der absolute Oberknaller war mein hüftsteifer Simon. Mit einem verwegenen »Howdy!« zwinkerte er mir zu, dann tanzte er, als hätte er den ganzen Tag im Sattel gesessen. Für eine verklemmte monogame Hete hatte er einen verdammt heißen Hüftschwung.
Er klatschte im Takt, ging in die Drehung und grinste mich breit an. »Und wann findet der Kurs fürs Wolfsgeheul statt?«
Lilly legte den Kopf in den Nacken. »A-a-a-ajuuuuuuuuuuu!«
Wir tanzten, bis wir uns völlig außer Atem lachend in die Arme fielen.