Simon legte Holz im Kamin nach, dann kam er wieder zu mir unter die Sofadecke. Er rieb sich die Hände und griff nach seinem Becher Tee. »Der Spaziergang hat echt gutgetan. Wie lange haben wir das eigentlich nicht mehr gemacht?«
Ich zupfte ihm zärtlich am Pullover herum. »Viel zu lange.«
Mein Mann sah verträumt ins Feuer und streichelte gedankenverloren mein Bein. Draußen wurde es schon wieder dunkel. Simon murmelte: »Ich hatte Angst, dass du mit den verrücktesten Ideen nach Hause kommen würdest, aber an dieses Reden und Tee trinken kann ich mich gewöhnen.«
»Hmhm.« Ich blies über meine dampfende Tasse und neigte den Kopf. Mir war ein Gedanke gekommen. »Was machen wir eigentlich Silvester?«
»Das ist schon übermorgen, oder?« Simon sah mich verwundert an, dann stöhnte er. »Ich hab die Bolkonskijs eingeladen. Ich hab völlig vergessen, dir das zu sagen!«
Ich prustete los. »Die Besuchows! Die Bolkonskijs heißen Besuchow!«
Eigentlich hießen die Besuchows Heckenschmidt, aber wir hatten sie nach »Krieg und Frieden« benannt, weil sie mit Vornamen Pierre und Natascha hießen. Irgendwann war uns dann bei einer Wiederholung der Verfilmung aufgefallen, dass wir die Bolkonskijs falsch getauft hatten, denn Fürst Andrej hieß Bolkonskij, geheiratet hatte Natascha aber am Ende Pierre. Und der hieß Besuchow. Simon war stur bei »Bolkonskij« geblieben, ein Spitzname war ein Spitzname.
Ich hatte immer darauf bestanden, unseren peinlichen Irrtum zu korrigieren und nannte dieses etwa schräge Paar aus der Nachbarschaft stur »die Besuchows«. Natürlich wussten die beiden nichts von ihrem Glück. Natascha hatte ihren Mann auch eher nach Dostojewski benannt, jedenfalls nannte sie ihn oft nur »Der Idiot«, wenn sie bei mir auf einen Kaffee am Nachmittag hereinschneite. Nachmittags, wenn die Hausfrauen im Viertel sturmfreie Bude hatten und in kleinen Dosen Dampf ablassen konnten. Ich hatte diese Mentalität nie gemocht und immer nur schweigend quittiert.
Ich zauste meinem Mann verspielt die Haare und lächelte wehmütig. »Schon irgendwie typisch für uns, dass ich darauf bestehe, mich an die Vorlage zu halten und ihnen den richtigen Namen zu geben, während du es einfach so machst, wie du magst.«
Simon blickte noch eine Weile ins Feuer, dann holte er ruckartig tief Luft und sah mich an. »Liebes, ich hab nicht einfach gemacht, was ich wollte.«
Ich sah ihn aufmerksam an. »Denkst du, dass wir so weit sind? Können wir darüber reden?«
»Bist du so weit, es zu ertragen?«
Ich sah mich um. Die prachtvollen Rosen standen jetzt mitten auf dem Sofatisch, im Kamin brannte ein gemütliches Feuer, wir hatten eine kuschelige Decke und saßen aneinander geschmiegt da. Wir hatten eine Nacht und einen Tag geredet, gelacht, geweint, Annegret umschifft, und als wir eingeschlafen waren, hatten wir uns an den Händen gehalten.
Ich nickte entschlossen. »Ich glaube, ich bin so weit. Ich würde es gern verstehen.«
Simon nippte an seinem Tee, dann lächelte er mich unsicher an. »Ich möchte dir nur nicht das Gefühl geben, dass ich dir irgendetwas vorwerfe. Ich hab das verstanden, dass es keine Täter und Opfer gibt, ich finde das richtig. Aber ich hab keine Ahnung, wie ich gewisse Dinge sagen soll, ohne sie wie einen versteckten Vorwurf klingen zu lassen.«
Ich spürte ein kribbeliges Unbehagen, das sich fast wie Angst anfühlte. Aber ich zog die kuschelige Decke ein bisschen fester um mich und versprach: »Sobald ich mich angegriffen fühle, bitte ich um eine Pause.«
»Okay.« Simon nickte langsam, dann sah er wieder ins Feuer. »Als du gestern gesagt hast, dass wir nur noch funktioniert haben, da hatte ich so ein Klingeln in den Ohren. Ich wäre nicht auf die Formulierung gekommen, aber genauso hat es sich angefühlt. Schon lange. Ich funktioniere und ich darf auf keinen Fall damit aufhören. Das ist jetzt wirklich kein Angriff, wir wollten das beide, aber wir haben den Kredit für das Haus aufgenommen, ich hab mich in die Praxis eingekauft, ich bin bis zum Kragen verschuldet. Manchmal fühle ich mich wie ein Automat, der Leistung bringen muss und keinen Ausweg sieht, keinen Freiraum, nichts. Immer nur Verpflichtungen und Alltagstrott.«
Ich flüsterte betroffen: »Du musst dem Briefträger eine neue Niere kaufen.«
Simon sah mich aus den Augenwinkel an, grinste aber. »Ist das wieder eine deiner seltsamen Künstler-Metaphern?«
Ich musste lachen. »Ungefähr, ja. Anna hat mich damit zum Lachen gebracht, dass sie völlig überzogen dargestellt hat, was verheiratete Männer für Verpflichtungen vorschieben, um ihre Geliebte hinzuhalten.«
Simon seufzte tief, neigte aber den Kopf zu mir. Das hatte er lange nicht getan, dass er in so kleinen Gesten meine Nähe gesucht hätte. »Diese Anna ist ein ziemlich schräger Vogel, kann das sein?«
Ich spitzte nachdenklich die Lippen. »Ja, vielleicht. Aber sie hatte ein unglaublich sicheres Gespür dafür, wann ich mich in meinen Gedanken festgefahren hatte und wann es Zeit war, die Situation mit ihrem schrägen Witz aufzulockern.«
Trocken stellte Simon fest: »Also habt ihr doch über mich gelacht.«
Ich kicherte schuldbewusst und kuschelte mich an ihn. »Ein bisschen vielleicht. Aber auch über uns selbst. Vor allem schafft Anna es, nie verletzend oder abwertend zu sein. Sie macht nur menschliche Fehler sichtbar, aber sie bleibt immer warmherzig dabei.« Geistesabwesend fügte ich hinzu: »Ich wüsste zu gern, was aus der Sache mit Dem Henker seine Hure geworden ist.«
Simon lachte. »Mit wem sein was?«
Ich winkte lächelnd ab. »Das erzähle ich dir später. Ich bin gerade mutig, also erzähl mir, wie das mit Annegret passiert ist.«
Simon seufzte tief und rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Bevor ich selbst begriffen hatte, was mit mir passiert, steckte ich schon mitten in einem heftigen Flirt. Erst ging es gar nicht mal so um sie als Person, es ging nur darum, auszubrechen. Nicht der zuverlässige, immer funktionierende Simon zu sein, sondern einfach … jemand anders. Ich fühlte mich wie ein unbeschriebenes Blatt, ich war frei, mich selbst neu zu erfinden. Und dann …«, Simon schlug stöhnend die Hände vors Gesicht, »dann hab ich mich verliebt. Sie war so neu und aufregend! Und am Anfang hat sie nichts von mir verlangt, nichts erwartet, sie war einfach …«
Ich hatte angefangen zu weinen. Ich weinte leise, unfassbar traurig, aber still. Simon murmelte: »Wir waren so unglaublich jung, Lena. Manchmal, wenn ich die Jungs nach dem Training in der Kabine reden höre, dann frag ich mich, ob ich der einzige Idiot war, der sich gebunden hat, ohne sich die Hörner abzustoßen. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein und ich will hier nichts relativieren, aber Dennis und Jan, die haben ständig Affären! Und ich war dir immer treu, wirklich, ich hab nie ernsthaft an andere Frauen gedacht, aber da war immer dieses Vakuum, dieser blinde Fleck in meinem Leben.« Simon blickte mich an. »Hast du dich nie gefragt, wie es wäre, Erfahrungen mit anderen zu machen?«
Ich nickte ruckartig und wischte mir über die Augen. »Ab jetzt tut es richtig weh.«
Simon schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß, ich hab kein Recht zu jammern, aber weißt du, was richtig, richtig wehgetan hat? Als du mir gesagt hast, dass diese Fremden dir gegeben haben, was du dir von mir gewünscht hast. Wenn ich mir vorstelle, dass dieser Maler da dich im Arm gehalten und getröstet hat, dann frage ich mich: Simon, du Idiot, wo warst du, als du gebraucht wurdest? Hab ich überhaupt noch ein Recht, dein Mann zu sein?«
Etwas in mir machte ganz leise ›klick‹. Ich hatte es wieder getan, ich hatte wieder die Augen verschlossen. Und mit Sicherheit hatte der kleine Waffenstillstand gutgetan, aber jetzt war er vorbei, genau in diesem Augenblick. Simons Selbstmitleid war keine Sekunde länger zu ertragen.
Ich sprang vom Sofa und zischte wie eine böse Viper: »Du Arsch!«
Simon sah entsetzt zu mir auf. Kleinlaut ging er in seinen Verteidigungswinkel, rückwärts, mit eingezogenem Schwanz. »Siehst du? Deswegen wollte ich nicht, dass wir drüber reden! Weil ich wusste, du würdest mich angreifen!«
Ich riss die Augen auf, dann schnappte ich nach Luft. Fassungslos stemmte ich die Hände in die Hüften und keifte: »Ich hab ein Recht, anzugreifen! Bist du auch nur für eine Sekunde auf die Idee gekommen, über all diese Dinge erst mal mit mir zu sprechen? Ich bin nämlich deine Frau, ich bin diejenige, die es betrifft!«
Simon sah geknickt zu mir auf, dann zischte er vorwurfsvoll: »Wie gut man mit dir reden kann, sehe ich ja gerade wieder!«
Ich arbeitete mich aus der Sofaecke. Ich brauchte Abstand zu diesem Mann. Ich krächzte nicht, ich projizierte meine Stimme in den großen kahlen Raum. Ich schrie: »Und anstatt zu Hause einen Konflikt wirklich auszutragen, gehst du dann lieber heimlich fremdvögeln! Hast du keine Eier? Hast du das Wort ›Augenhöhe‹ überhaupt schon mal gehört?«
Jetzt war es Simon, der schreiend vom Sofa aufsprang. »Ach ja? Augenhöhe? Bitte, wenn du willst, dann geh doch mit einem von deinen Künstlern ins Bett! Dann steht es 1:1, wir sind endlich quitt und ich bin diese beschissenen Schuldgefühle endlich los!«
Ich klappte acht Finger hoch. »Bevor du versucht, einen Gleichstand zu erzielen, solltest du erst mal zählen, mein Lieber! Acht Monate ging das! Und wenn Annegret sich nicht verplappert hätte, dann hättest du mir erzählt, dass es gar nichts zu bedeuten hat und dass es eine einmalige Sache war! Siehst du, was passiert, wenn man nicht redet und sich feige durchmogelt? Wenn man so lange lügt und immer nur den Weg des geringsten Widerstands geht? Dann glaubt dir nämlich irgendwann niemand mehr! Wer sagt mir denn, dass du mit den Jungs in deiner stinkenden Umkleidekabine nicht fleißig mithältst?«
Ich starrte Simon voller Wut an. Als er Luft holte, machte ich einen Satz nach vorne, stach ihm fast mit dem ausgestreckten Zeigefinger ein Auge aus und schrie weiter. »Und wenn du glaubst, dass es mir ums Vögeln geht, dann kapierst du nicht mal ansatzweise, was ich mit Augenhöhe meine! Es geht um Respekt, kapierst du das? Wenn es schwierig ist, dich mit mir auseinanderzusetzen, dann ist das eben so, aber ich verdiene diese Wertschätzung, geht das in deinen verdammten Schädel? Du machst dich lustig über die Freie Liebe und darüber, dass ich mit Hippies ums Feuer tanze, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sven und John zu feige wären, um mit Anna zu reden, bevor sie mit einer anderen Frau ins Bett steigen!«
Simon starrte mich einen Augenblick völlig entgeistert an, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging zur Garderobe. Während er seine Jacke anzog und den Autoschlüssel griff, knurrte er: »Und du wunderst dich, wenn ich zu einer anderen gehe!«
Für einen Moment flitzte mir der Satz durch den Kopf: »Wenn du jetzt gehst, dann brauchst du gar nicht wiederzukommen!«, aber mir wurde sofort bewusst, dass ich verloren hätte, wenn ich jetzt doch noch auf dieses Fernseh-Sketch-Niveau herabsank. Genauso gut hätte ich rufen können: »Ich zieh zu meiner Mutter!«
Aber Simon kannte Mamas Gästecouch. »Ich zieh zu den Hippies!« hätte sich aber auch irgendwie nicht passend angehört. Denn in diesem Moment wollte ich nirgendwohin. Ich ruckte mit dem Kopf wie Commander Data auf der Enterprise, wenn ein Gedanke sich in seinem Androiden-Gehirn verankert. Ich wollte einfach nur, dass Simon ging, damit ich frei atmen und meine Mitte wiederfinden konnte.
Diesmal brach ich nicht in Tränen aus, als die Haustür zuflog. Ich atmete einfach nur auf. Ich war mir nicht sicher, ob ein Großwildjäger einen Betäubungspfeil auf mich abgeschossen hatte oder ob ich irgendwie high war von der ganzen Anspannung. Aber wie in Trance ging ich zum CD-Regal und fing an zu kramen. Normalerweise war ich mehr so der Vivaldi-beim-Essen-Typ, aber nicht jetzt. Jetzt nicht. Simon hatte doch da so eine Abteilung mit »Männer-Musik« im Regal. Die hörte er normalerweise nur mit Kopfhörern.
Wie um mich selbst zu beruhigen gab ich ein »Tututu …« von mir und zog ein paar CDs aus dem Regal. Ich überflog die Titel auf den Covern. Aha, Do what I say, das schien irgendwie passend. Ich legte die CD ein und startete den Song.
Ich hörte mich in den Rhythmus ein. Ich wippte mit dem Kopf. Das klang doch schon mal ganz vielversprechend. Als eine E-Gitarre losheulte, kicherte ich überdreht, weil ich mich fragte, ob Sven das wohl auch kann. Dann löste ich ganz langsam meine Haarspange.
Ich drehte die Lautstärke auf bis zum Anschlag und fing ein bisschen zaghaft an zu tanzen. Ich schmiss probeweise meine Haare wild durch die Luft. Noch ein Argument gegen einen Kurzhaarschnitt!
Ich legte los und tobte durch mein riesiges kahles Wohnzimmer, bis ich vor Erschöpfung atemlos lachend zusammenbrach. Alles lief scheiße, aber ich fühlte mich sagenhaft lebendig.
Für alle, die jetzt einfach mal mit Lena ausflippen wollen: Ich hab euch mal den Remix zum Song rausgesucht, der ist nicht ganz so, äh, krawallig. :-)
https://www.youtube.com/watch?v=U77SUm2JLhc