Im Schlafzimmer war es dunkel, aber ich hatte keine Lust, die Deckenlampe einzuschalten. Also ließ ich die Tür einen Spalt breit offen. Das Licht aus dem Flur schien auf Simons Knie. Er lag mit dem Rücken auf dem Bett, seine Füße standen aber auf dem Boden. Ich ging zu ihm und setzte mich vorsichtig auf die Bettkante.
Simon lag einfach nur da und reagierte nicht auf mich. Seine Augen waren geschlossen. Ich betrachtete ihn, wie ich ihn lange nicht betrachtet hatte. Seine feinen, dunkelblonden Haare waren frisch geschnitten, vor Weihnachten hatte ich ihn noch zum Friseur geschickt. Ich kannte ja seine Mutter und hatte keine Lust gehabt, mir Sprüche darüber anzuhören, wie ich ihren Sohn herumlaufen ließ. Als ob ein erwachsener Mann sich nicht selbst um einen Friseurtermin kümmern könnte.
Er trug eines der dunklen Hemden, die ich so gern mochte, sein Kinn war glattrasiert. Auf seine Art sah er wirklich gut aus. Nicht charismatisch wie der wunderschöne, stille John oder wie der extrovertierte Sven. Aber er war gepflegt und sportlich und manchmal konnte ich den unbeschwerten Jungen in ihm sehen, in den ich mich verliebt hatte.
Aber sein Kopf war abgewandt. Ich seufzte tief. »Hase?«
Simon antwortete nicht. Ich hörte auf, ihn mit Blicken zu durchbohren und sackte irgendwie kraftlos in mich zusammen. Ich hatte zwei Tage erlebt, an denen es so viele Themen, so viele Fragen und so viel zu bereden gegeben hatte, dass ich mit dem Gefühl abgefahren war, längst nicht alles besprochen zu haben, was ich gern besprochen hätte. Im Detail, in Ruhe, am Küchentisch, während Anna Tee nachschenkte und die Männer darüber nachdachten, wie sie ihre Gedanken und Erfahrungen am besten für mich in verständliche Worte fassen konnten.
Und jetzt saß ich hier. Schweigend. Und ich hatte keine Ahnung, wie man so ein Gespräch überhaupt anfängt.
»Hast du keine Angst, dass jemand die Polizei ruft, wenn du im Garten so ein Geheul veranstaltest?«
Ich sah mich zu Simon um. Er hatte sich mir zwar nicht zugewandt, aber, hey, immerhin konnte er sprechen. Ich grinste tapfer und hoffte, dass er mein Grinsen hören würde. »Falls die hier klingeln, sag ich einfach, dass ich gerade erst nach Hause gekommen bin und nichts gehört habe.«
Simon setzte sich auf, ließ aber den Kopf hängen. Er wollte mich einfach nicht ansehen. »Als du mir geschrieben hast, dass du heulen kannst wie ein Wolf, dachte ich, du machst dich lustig über mich.«
»Was? Wieso sollte ich das tun?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab nicht kapiert, was du damit sagen wolltest. Ich hab es für eine Metapher gehalten.«
Ich strich ihm vorsichtig über den Rücken. »Eine Metapher für was?«
»Keine Ahnung, das hab ich ja nicht kapiert.«
Ich ließ die Hand sinken und blieb einfach erst mal still sitzen. Gar nichts zu tun, war gerade vielleicht besser, als Fehler zu machen. Simon bückte sich und zog seine Schuhe aus, dann blieb er einfach wieder stumm sitzen. Aber wenigstens hatte er wohl nicht vor, wegzulaufen. Langsam machte das Schweigen mich nervös.
»Weißt du, ich war müde und das Wetter war furchtbar anstrengend beim Fahren, die ganze Zeit dieser Schneeregen und dann hab ich online nach einem Zimmer gesucht, um mich erst mal auszuschlafen, du kennst ja Mamas Gästecouch. Und dann bin ich in diesem kleinen, bunten Haus gelandet. Auf dem Buchungsportal stand etwas von Übernachten in der Künstler-WG, aber als ich da angerufen habe, hatten die gar kein Zimmer mehr frei und dann dann haben sie mich zu ihren Freunden nebenan geschickt und ich dachte, na ja, was sich halt so Künstler nennt, diese Zimmervermietungen schmücken sich ja alle mit irgendwelchen Alleinstellungsmerkmalen, um sich interessant zu machen.«
Simon ließ sich wieder auf den Rücken fallen. Ich fragte mich, ob ich ihn langweilte, aber ich musste jetzt einfach erzählen. Das schien mir plötzlich viel besser als das hilflose Schweigen. Ich holte wieder Luft. »Anna ist absolut zauberhaft, sie werkelt und arbeitet da den ganzen Tag in ihrer gemütlichen kleinen Küche herum. Was sie genau macht, hab ich gar nicht rausgefunden, aber John ist Maler. Ein richtig berühmter Maler, der in Amerika und Asien verkauft.«
»Ach, und wie heißt der?«
Simon redete mit mir! Schnell sagte ich: »John O’Irgendwas, ein irischer Name, den ich natürlich vergessen habe. Ich hatte den auch noch nie gehört.«
Simon stöhnte gereizt. »Du warst also bei einem Künstler, der so berühmt ist, dass du dir seinen Namen nicht merken konntest.«
Spürte ich da einen Hauch von Eifersucht? Ich machte weiter. »Sven ist jedenfalls Musiker. Und er hat in dem Häuschen einen ganzen Raum, der ist voll mit Instrumenten und Technik! Trommeln, Gitarren, das volle Programm. Und Sven hat mit mir eine Übung gemacht. Atemübungen und so. Sie haben Musik gemacht und getrommelt und dann haben sie mir gezeigt, wie ich atmen muss, um locker zu werden und dann haben wir geheult wie Wölfe. Wir sind abends im Dunkeln nach draußen auf eine Weide gelaufen und haben geheult wie ein ganzes Wolfsrudel, es war absolut fantastisch.«
Simon murmelte: »Ich hab dir tausendmal vorgeschlagen, dass du einen VHS-Kurs machen kannst, wenn du Musik machen willst.«
Ich lachte auf. Und ich fürchte, es klang ein bisschen spöttisch. Aber ich rüttelte aufgedreht an Simons Bein. »Das war nicht wie ein VHS-Kurs! Das war vollkommen anders, total natürlich und selbstverständlich! Alle waren total ungezwungen und locker und ich wäre mir verklemmt vorgekommen, wenn ich verklemmt gewesen wäre! Also hab ich mich einfach gehenlassen und es selbst ausprobiert! Es war toll!«
Endlich hob Simon den Kopf und sah mich an. »Du wärst dir verklemmt vorgekommen, wenn du verklemmt gewesen wärst?«
Ich nickte. »Weißt du noch im Tanzkurs damals? Als wir alle total gehemmt rumgestanden und gekichert haben? Das war die Hölle, oder?«
Simon ließ den Kopf wieder sinken und starrte an die Decke, aber er gab ein »Hmhm« von sich.
Aus einer Laune heraus fing ich an, mit den Füßen zu baumeln. »Im Tanzkurs waren wir alle total verklemmt. Ich hätte richtig gerne getanzt, mich einfach gehenlassen und mich der Musik hingegeben, aber die ganze Atmosphäre war so steif, dass ich total gehemmt war. Aber bei Sven, Anna und John war das nicht so. Es war die natürlichste Sache der Welt, verspannt zu sein, zu heulen, zu lachen, zu schreien und zu reden. Sven sagt, in ihrem Haus gibt es keine peinlichen Gefühle. Sie alle sind so völlig selbstverständlich damit umgegangen, dass ich vor Liebeskummer total verwirrt war und dass all meine Kanäle verstopft sind und dass es mir schwerfällt, meine ganze Wut und meine Gefühle zuzulassen!«
Simon setzte sich auf. »Du hast denen von unseren Problemen erzählt? Du hast unsere privaten Probleme irgendwelchen wildfremden Menschen erzählt?«
Ich blitzte ihn an. Ich wurde wütend. Und ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Simon steigerte sich rein und schnappte fassungslos nach Luft. »Du hast diesen Leuten erzählt, was bei uns los ist? Oh, ich kann mir richtig vorstellen, wie ihr euch zusammengerottet und über mich gelästert habt! Simon, der untreue Vollversager, der blöde Betrüger, der auch noch so doof ist, sich erwischen zu lassen!«
Simon sprang auf und lief fahrig durchs Zimmer. »Okay, ich wusste, dass es schwierig wird! Ich wusste, dass ich viel wieder gutzumachen habe! Aber dass du dich auf dieses Niveau herablässt, dass du dich von wildfremden Leuten gegen mich einstielen lässt, das ist unfassbar! Wie kannst du mir das antun, Lena? Wie kannst du mir so in den Rücken fallen und dich von Fremden gegen mich aufhetzen lassen?«
Ich sprang auf. »Sie haben mich nicht aufgehetzt! Sie haben mir zugehört! Sie waren für mich da! Sie haben mir das gegeben, was ich von dir gebraucht hätte! John hat mich in den Arm genommen, bis ich mich ausgeweint hatte! Hast du mich auch nur einmal in den Arm genommen, seit das passiert ist? Seit du weißt, dass ich es weiß?«
Simon höhnte: »Oh, der berühmte Maler hat meine Frau in den Arm genommen! Was soll das jetzt werden, Lena, willst du es mir heimzahlen? Willst du mich eifersüchtig machen, ist es das?«
Ich sah ihn entsetzt an. Ganz leise und beschwörend flüsterte ich: »Nein!«
Simon funkelte mich wütend an und schnaubte nur ungläubig. Ich reckte mich nach seiner Hand und zog ihn näher zu mir heran. »Hase, sie haben mich nicht aufgehetzt! Das war gar nicht nötig, ich habe vor Wut gekocht! Ich bin nicht gleichgültig, glaub mir das! Ich hatte nur eine unglaublich blockierende Angst, ich hatte solche Angst, dass du von Scheidung anfangen würdest, wenn ich offen ausspreche, dass ich es weiß!«
Simons Blick wurde weicher, ein ganz kleines Bisschen. »Und das willst du nicht?«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Ich wollte, weil ich dachte, dass ich es muss! Eine Affäre ist das Ende, oder nicht? Aber bei diesen Leuten habe ich begriffen, dass das nicht stimmt. Wir können entscheiden, wie wir damit umgehen wollen, wir beide!«
Simons lachte bitter. »Und du willst jetzt, dass wir Hippies werden? Freie Liebe? Sollen wir alle zusammen ums Feuer tanzen und Friedenslieder singen?«
Ich grinste schief. »Vielleicht wäre das gar kein schlechter Anfang?«
Simon zog seine Hand weg und schnaufte verächtlich. Er nahm seine Wanderung über den Bettvorleger wieder auf. Ich setzte mich bedächtig wieder aufs Bett. »Hase, ich war wütend, ja. Genauso, wie du jetzt wütend bist. Wir haben beide Fehler gemacht. Aber als ich in dieser WG war, da hab ich verstanden, dass die Wut wichtig ist und dass sie raus muss! Weil man danach erst wieder klar sehen kann! Erst, als ich in den Wind geschrien hatte, wie wütend ich auf dich und Annegret bin, hatte ich wieder Platz für meine wahren Gefühle, sie waren einfach nur unter der ganzen Wut verschüttet!«
Simon blieb mit dem Rücken zu mir stehen. »Und was sind deine wahren Gefühle?«
Ich dachte für einen Moment still nach, wie die WG-Bewohner es taten. Ich suchte nach den treffenden Worten. Ganz langsam sagte ich: »Ich liebe dich. Da bin ich ganz sicher. Wir haben uns versprochen, unser Leben miteinander zu verbringen. Und dieses Versprechen will ich halten! Aber wir waren unglaublich jung und wir hatten keine Ahnung, wie lang so ein Leben sein kann, wie sehr Gefühle sich verändern können und wem man begegnen kann. Wir haben uns selbst in dieses starre Konzept gepresst und dann sind wir da irgendwann versteinert, wir haben das Gefühl füreinander verloren, weil wir nur noch Mann und Frau gespielt haben! Du gehst arbeiten, ich kümmere mich ums Haus und die Einladungen und hole deine Anzüge aus der Reinigung und setze halbherzig irgendwelche beruflichen Projekte in den Sand. Wir haben doch nur noch funktioniert, anstatt zu leben!«
Tonlos stellte Simon fest: »Das klingt jetzt, als wolltest du dich für eine Affäre rechtfertigen.«
Ich sprang auf und stellte mich hinter ihn. Ich hätte ihn gern umarmt, fürchtete mich aber vor einer Zurückweisung. Vorsichtig flüsterte ich: »Ich hab mich als das betrogene Opfer betrachtet. Aber in Annas Küche hab ich verstanden, dass es in der Liebe keine Täter und Opfer gibt. Diese Affäre ist uns beiden passiert, als Paar. Aber es gibt keinen Schuldigen. Ich will nicht, dass wir uns gegenseitig mit Schuldzuweisungen erwürgen, ich will, dass wir uns gegenseitig verstehen.« Ich lächelte traurig. »Ich hätte gern meinen besten Freund zurück. Den Simon, mit dem ich über alles reden, mit dem ich alles teilen kann. Aber diese ganzen Tabus und diese Heimlichtuerei, die haben meinen Simon verschüttet und ich hab keine Ahnung, wie ich dich wieder erreichen soll!«
Ich fing leise an zu weinen. Simon drehte sich ganz langsam um. Hilflos flüsterte er: »Liebes, ich bin die ganze Zeit hier! Aber da ist dieser riesige Berg aus Schuldgefühlen, an dem ich einfach nicht vorbeikomme! Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt habe, ich weiß das! Und ich bin unglaublich wütend auf mich! Ich kann dir seit Monaten nicht mehr richtig in die Augen sehen, aber ich vermisse dich! Ich vermisse meine Frau und ich hasse mich, weil ich dir das angetan habe!«
Ich sah mit zitternder Unterlippe zu ihm auf. »Ich weiß. John hat es mir erklärt.«
Simon sah auf mich herab und zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. »Das hat der dir also erklärt.«
Ich schniefte und grinste schief. »John ist auch oft fremdgegangen, er weiß, wie ein Mann in dieser Zwickmühle sich fühlt.«
»Ach, und der redet das schön oder was?«
Ich schüttelte ganz langsam den Kopf und sah Simon dabei tief in die Augen. »Nein, er redet nichts schön. Aber er hat mir geholfen, dich zu verstehen. Er hat mir geholfen, wieder dieses warme, liebevolle Gefühl für dich zu bekommen.« Ich legte mir die Hand aufs Herz. »Hier, ganz tief hier drinnen!«
Simons Blick wurde weich und gefühlvoll, dann nahm er mich endlich in den Arm. Voller Liebe drückte er mich an sich und flüsterte: »Ich dachte, du würdest mich hassen!«
Ich sog seinen vertrauten Duft ein und lachte dumpf in sein Hemd. »Ja, ich hasse dich. Weil ich dich liebe. Weil du der wichtigste Mensch in meinem Leben bist und niemand mich so auf die Palme bringen kann wie du!«
Simon drückte mir mit einem übermütigen Knurren fast die Luft ab und schaukelte mich wild hin und her. »Du bist unglaublich, weißt du das?«
Ich lachte überdreht auf. In diesem Moment war ich wahnsinnig glücklich. Ab jetzt konnten wir anfangen, unsere Ehe zu retten. Ab jetzt würde sich unser Haus wieder wärmer anfühlen. Ich sah hingerissen zu ihm auf. »Weißt du, was ich jetzt wahnsinnig gern tun würde?«
Simon legte den Kopf in den Nacken und sah abwartend auf mich herab. Ich grinste breit. »Weißt du, was ein nächtlicher Snackisnack ist?«
Simon schüttelte misstrauisch den Kopf. Ich löste mich aus seiner Umarmung und machte einen Hüpfer. »Ich möchte die ganze Nacht mit dir am Küchentisch sitzen, den Kühlschrank leer futtern und reden, bis wir heiser sind!«
»Lena, warte!« Ich wollte nach unten stürmen, aber Simon hielt mich am Handgelenk zurück. Er lächelte entschuldigend. »Denkst du, dass wir diese eine Sache erst mal ausklammern könnten? Ich will mich nicht aus der Verantwortung stehlen, aber jetzt gerade würde mir ein Waffenstillstand wirklich gefallen.«
»Okay!« Ich strahlte ihn an, dann hopste ich los. »Sag mal, haben wir eigentlich noch irgendwo Teebeutel im Schrank? Irgendwie hab ich mir Tee angewöhnt!«