Ein hell erleuchtetes Haus! Eines dieser schnuckeligen, typisch ostfriesischen roten Häuschen mit kleinen Fenstern und einer »eingebauten« Scheune. Ich atmete auf, zog meine Tasche aus dem Kofferraum und stapfte los durch den Vorgarten.
Die Haustür stand schon offen und eine Frau erwartete mich. Kein Kurzhaarschnitt, sondern strubbelige, lange Locken, die wohl braun waren, aber im Schein einer bunten Lichterkette über der Haustür rot, blau und grün leuchteten. Jedenfalls war das keine Annegret.
Plötzlich wurde mir bewusst, wie erschöpft ich war. Ich wollte wirklich nur noch in ein warmes Bett, mich leise ausheulen und dann schlafen, am liebsten für den Rest meines Lebens. Also platzte ich sofort los. »Hallo, ich bin Lena Braun, ich hatte angerufen und mit einer Steffi aus der Künstler-WG gesprochen. Sie hat gesagt, dass in der WG nichts mehr frei wäre, aber dass ich bei den Nachbarn …«
Ich blieb atemlos stehen und stützte mich am Türrahmen ab. Die Frau nahm mir die Tasche ab und nickte. »Hmhm, das sind wir. Wir sind der Außenposten der WG, aber wir haben dir noch schnell ein Bett freigemacht. Steffi hat gesagt, dass du in Not bist, weil dein Hotelzimmer unter Wasser steht. Ich bin übrigens Anna!«
Anna. Das war ja fast so schlimm wie Annegret. Aber als ich dieser Anna zum ersten Mal wirklich ins Gesicht sah, stellte ich fest, dass ich sie einfach mögen musste. Obwohl ich nicht in der Stimmung war, irgendjemanden zu mögen. Aber Anna hatte ein wunderhübsches Gesicht mit einer etwas zu kurzen Stupsnase und etwas zu großen grünen Kulleraugen. Sie war die Sorte Frau, die perfekt unperfekt auf die Welt gekommen war. Ihr Alter hätte ich unmöglich schätzen können. Sie war zierlich und klein wie ein junges Mädchen, was noch von dem viel zu großen Kapuzenpulli, in dem sie steckte, unterstrichen wurde. Aber etwas in ihrem Blick verriet mir, dass sie eine uralte und weise Seele hatte.
Anna neigte den Kopf. »Mann, du siehst echt müde aus! Komm erst mal rein! Musstest du lange fahren bei diesem Schietwetter?«
Ich schüttelte den Kopf und folgte Anna vorsichtig in den kleinen Flur. Mir war schwindelig, mir war einfach alles zu viel. Ich registrierte, dass das kleine Haus von innen weiß und bunt war. Weißbunt war genau das richtige Wort für diesen Einrichtungsstil. Im Flur tauchte ein Mann auf, der den fröhlichen Puppenhauscharakter dieses Heims noch verstärkte, denn er war breitschultrig und so groß, dass er sich intuitiv duckte, wenn er durch eine Tür ging.
Anna schleppte meine Tasche an mir vorbei und stellte vor: »Das ist der Svenne. Unser Hauswikinger.«
Ich sah misstrauisch zu dem grinsenden »Hauswikinger« auf. Dieser »Svenne« hatte die Schläfen rasiert und das blonde Deckhaar am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden. In einer History-Serie hätte ich diesen Mann wohl angeschmachtet, in einem ostfriesischen Hausflur fand ich ihn ein bisschen beunruhigend. Er war eben einfach so verdammt groß. »Schwule Hippies« hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Als Anna mich verdutzt ansah und Sven so satt loslachte, dass ich mich fragte, wo der Verstärker an diesen Mann angeschlossen ist, merkte ich, dass ich den Gedanken laut ausgesprochen hatte. Anna wippte mit meiner Tasche vor den Knien auf den Zehenspitzen wie ein kleines Mädchen. »Ah, okay, du hast mit den Eingeborenen gesprochen! Wer hat dich denn vor uns gewarnt?«
Verlegen rieb ich mir die Augen. »Tut mir leid, ich wollte das gar nicht laut sagen! Ich hab ja nichts gegen Schwule! Also, um ehrlich zu sein, kenne ich gar keine, aber diese Dame vom Hotel meinte, dass diese schwulen Hippies in der Künstler-WG mit der Zimmervermietung wirklich nett sind.«
Sven und Anna grinsten sich breit an, offenbar hatten sie mir den Patzer nicht übel genommen. Sven murmelte warm: »Wirklich schwul ist hier tatsächlich nur Annika, die steht voll auf Kerle!«
Anna stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich, um Sven ein Küsschen zu geben. Zärtlich flüsterte sie: »Ick liebe dir, Digger!«, dann schob sie sich an Sven vorbei zum Fuß der Treppe.
Ich wandte verletzt den Blick ab. Ein glückliches Pärchen war das Letzte, was ich jetzt sehen wollte.
Anna hüpfte mit meiner Tasche los nach oben. »Digger, deckst du schon mal den Tisch? Ich zeig Lena noch eben ihr Zimmer!«
Sven brummte genügsam, dann trollte er sich aus dem Weg und ich folgte Anna die enge, steile Treppe hinauf. Schwach protestierte ich: »Ich brauche heute eigentlich gar nichts mehr zu essen, aber eine Flasche Wasser wäre ganz schön.«
Anna war oben angekommen und drehte sich zu mir um. »Aber es gibt Elchköttel nach Svens Spezialrezept! Mit Preiselbeeren und allem Schnickschnack! Oder bist du vegan, laktosefrei, glutenfrei oder so was? Wir können dir alles zaubern, die Speisekammer ist rappelvoll!«
Geistesabwesend fragte ich: »Was sind Elchköttel?«
Mein Blick schweifte durch die gemütliche kleine Diele im ersten Stockwerk. Die Wände waren weiß, auf dem hellen Holzboden lagen kleine bunte Flickenteppiche und an jedem freien Stück Wand standen Bücherregale, die aus allen Nähten platzten. Nur an einer Wand, direkt gegenüber der Treppe, hing ein atemberaubend schönes, abstraktes Gemälde. Ich blieb stehen. »Wow, das ist wirklich schön.«
Anna öffnete die Tür neben dem Gemälde. »Yap! Das hat einer unserer schwulen Künstler gemalt.«
Anna lachte unbeschwert auf und lockte mich mit einer einladenden Geste in das kleine Dachzimmer. Ich sah mich um. Alles war sehr hell und freundlich und sehr minimalistisch. Ein kleiner weißer Schreibtisch stand an dem Sprossenfenster, wieder ein bunter Teppich, und unter der Dachschräge wartete ein breites, französisches Bett auf mich. Ich ließ mich vorsichtig in den gemütlichen Lesesessel sinken. »Tut mir leid, dass ich diesen saudummen Spruch gebracht habe. Ist wohl irgendwie nicht meine Woche.«
Anna stellte meine Tasche auf dem unbezogenen Bett ab und grinste mich an. »Wusstest du, dass Delfine schwule Haie sind?«
Ich sah sie verdutzt an, dann musste ich lachen. Anna nickte zufrieden. »Eine Flasche Wasser bringe ich dir gleich noch und frisches Bettzeug und Handtücher auch. Das Bad ist direkt gegenüber und du hast die Etage heute Nacht für dich, wir schlafen unten und stören dich nicht. Das WLAN-Passwort ist in der Schublade im Nachttisch. Du solltest dir aber das Essen echt nicht entgehen lassen! Wenn du willst, kannst du ja auch nur Nachtisch nehmen, wir sind da nicht so.«
Ich blinzelte verwirrt. »Äh, was war das noch mal mit den Elchkötteln?«
»Köttbullar! Sven ist unsere ssswedissse Koch und hat die ganze Tage in die Küche gestanden!« Anna summte dieses Smörebröd-Römpömpömpöm aus der Muppet-Show und schwenkte einen unsichtbaren Kochlöffel. Ich musste wieder lachen. Irgendetwas in mir fing an zu bröckeln und sich zu lösen. Ich bekam aber Angst, dass meine Fassade zusammenbrechen würde, sobald ich auch nur das kleinste Gefühl zuließ, und sei es Freude. Ich bekam Angst davor, dass der Schockzustand nachlassen könnte, wenn mein innerer Krampf sich löste. Ich spürte diesen Krampf jetzt, seit ich in Simons Handy gesehen hatte.
Von unten rief Sven: »Annika, wo steckst du? Ich krieg das verdammte Glas nicht auf!«
Anna neigte den Kopf und gluckste leise. »Sven und Preiselbeeren, ein nie enden wollendes Drama! Bist du sicher, dass du dich nicht wenigstens noch ein bisschen zu uns setzen willst? Du störst uns nicht, ehrlich!«
Plötzlich wollte ich auf gar keinen Fall allein sein. Allein mit meinen Gedanken und meinem ausgeschalteten Handy. Ich lächelte dankbar. »Okay, ich komm dann gleich. Ich mach mich nur noch ein bisschen frisch.«