Eines schönen Frühlingsmorgens lag das alte Lebkuchenhäuschen in Dunkelheit getaucht am Fuße des Nordhangs. Der dicht bewaldete Fichtenhain, in welchem sich die besagte Residenz befand, war verantwortlich für die ständige Finsternis. Die Nadelbäume sperrten das allmorgendliche Sonnenlicht bis auf ein paar güldene Sprenkel aus. Diesen Umständen war es zu verdanken, dass sich Chanti die Wirre überhaupt hier niedergelassen hatte. Die Hexe war der wuseligen Stadtwelt mit ihren ständig gestressten Einwohnern für den Rest ihres Lebens – wie sie hoffte – in den abseitsgelegenen Wald entflohen. Seit etlichen Jahren lebte sie nun schon fernab der nächsten Zivilisation und fristete ihr Dasein in Einsamkeit. Wobei – ganz einsam war sie doch nicht. In Ermangelung gesellschaftlicher Unterhaltung hatte sie sich vor sechs Wintern einen Welpen zugelegt, welcher niemals ins Erwachsenenalter heranreifen sollte. Sie hatte ihn mit einem Zauber belegt, sodass der kleine Welpe, der auf den Namen Leo getauft worden war, für immer süß, aber dämlich bleiben musste. Mit diesem Begleiter an ihrer Seite wurde sie wie jeden Tag vom Zwitschern der Vögel geweckt.
„Leo, mein Baby, es ist Zeit zum Aufstehen!“
Die altersgebeugte Hexe setzte sich auf, schlüpfte in ihre Holzschuhe und legte sich ihren schwarzen Morgenmantel um.
Das Schlafzimmer lag in der ersten Etage, sodass sich die Hexe mühselig die Treppe ins Erdgeschoss hinabkämpfen musste, um in die Küche zu gelangen. Der Welpe folgte ihr auf Schritt und Tritt. In der Küche angekommen, füllte Chanti zunächst den Napf ihres Hundes, denn eine einzige Sekunde länger hätte sie den Hunger ihres glupschäugigen Welpen nicht verantworten können. Erst als der Vierbeiner sich seinem üppigen Mahl hingab, machte sich die Hexe an ihren eigenen Kessel, welcher über einem kleinen Feuer an der Wand hing. Die Zubereitung ihres Frühstücks kostete zwar eine Menge Zeit, aber davon hatte sie schließlich genug. Außerdem machte ihr das mystische In-den-Topf-Werfen von Zauberzutaten Spaß. Zehn Minuten ließ sie den Brei aus Spinnenbeinen, Hühnerfüßen, Giftpilzen und Tannenrinde köcheln, bevor sie sich eine Kelle davon in eine einfache Holzschüssel umfüllte. Mit der dampfenden Schüssel in der Hand und ihrem Hund auf den Fersen schlurfte sie zu ihrem Ohrensessel hinüber und ließ sich auf dessen speckige Sitzfläche plumpsen.
„Ahhhh….“, seufzte sie. „Mein Leo-Schatz! Was gucken wir uns denn heute an? Die Rosenheimkops? Nein, nein. Davon kenne ich alle Folgen. Mallorca Files? Hab´ ich auch schon gesehen. Profiling Paris? Oder Navi CIS? Vielleicht eine Folge Agatha Raisin? Oder lieber Bones - die Knochenjägerin? Nee, die ganze Staffel lief ja schon. Hmmm… Vielleicht gibt es inzwischen etwas Neues.“
Sie hob die Hand und richtete ihren Zeigefinger auf einen großen Wandspiegel, der sich ihr gegenüber befand.
„Spieglein, Spieglein an der Wand, zeig mir den besten Krimi im Land!“, sprach sie, und sogleich erschien ein Bild im Spiegel. Es zeigte einen Thronsaal aus purem Marmorstein, der von einem edelsteinverzierten Kronleuchter ausgeleuchtet wurde. Ein roter Teppich führte zu einem leicht erhöhten Podest, auf welchem sich ein Thron aus purem Gold befand. Auf diesem Thron saß der König der Flachen Lande und ließ sich von einem Diener die Füße massieren, während er eine billige Sangria aus einem bunten Partybecher durch einen Plastikstrohhalm schlürfte. Chanti runzelte verwirrt die Stirn. Lange war es her, dass sie dieses Gesicht zuletzt gesehen hatte. Der Königspalast war das Herz der Großen Stadt, in der sie einst gelebt hatte. Dann und wann hatte man den König in den billigen Spelunken der Gegend gesehen, wo er einen Pastis oder eine Limo trank. Er dachte stets, dass man ihn in einen einfachen Fetzenmantel gehüllt nicht erkennen würde, aber jeder wusste, dass er es war.
„Leo, das ist kein Krimi. Jedenfalls glaube ich kaum, dass unser König unter die Schauspieler geraten ist. Das hier ist echt!“, meinte Chanti zu ihrem Hund. Der schwarzweiße Welpe hatte sich neben ihren Füßen breitgemacht und beäugte verträumt seine Herrin. Was im Spiegel lief, interessierte ihn herzlich wenig.
Chanti widmete sich wieder dem abgebildeten Thron-saal.
Das Bild wanderte vom König zum Marmorboden und dann in den Raum darunter. Die Räumlichkeiten unter dem Thronsaal lagen tief unter der Erde. Es war so dunkel, dass Chanti die Augen zusammenkneifen musste, um etwas erkennen zu können. Man munkelte, dass ganze Katakomben unter der Stadt verliefen. Tiefe Schächte, enge Gänge, gewundene Steintreppen und geheime Tunnel, die alle ein unüberblickbares Labyrinth bildeten. Der Legende nach waren die Katakomben zum Schutz des Lichttiegels gebaut worden, welcher tief unter den Palastböden in einer geheimen Kammer versteckt lag.
Chanti verschluckte sich an ihrem Frühstücksbrei, als der dunkle Gang, welcher nun im Spiegel zu sehen war, plötzlich von nahendem Feuerschein beleuchtet wurde. Eine grobschlächtige Gestalt trat ins Bild. Sie hielt eine Fackel in der Hand, welche die kantigen Gesichtszüge eines Orks offenbarte. Er schien riesig in dem niedrigen Gang und musste den Kopf einziehen, um sich nicht zu stoßen. Der Ork hielt kurz inne und lugte über seine Schulter.
„Schneller, ihr Hunde!“, grunzte er.
Aus der Schwärze tauchten weitere Orks auf. Sie waren in dreckige Lederwämser gehüllt und an einigen blinkten stählerne Kettenhemden und Eisenhelme. Alle trugen Messer, Äxte und Beile bei sich.
„Warum die Eile? Wir haben doch, was wir wollten!“, beschwerte sich ein Ork von kleiner, aber stämmiger Statur. An seinem linken Ohr blitzten zahlreiche Silberohrringe im Licht des Feuers.
„Erst außerhalb der Stadtmauern sind wir sicher“, schnauzte der große Ork mürrisch.
„Aber heute werden wir doch erst noch in der Stadt bleiben, nicht wahr? Unsere Reise wird lang und beschwerlich sein, da will ich wenigstens noch eine Nacht in einem anständigen Bett schlafen!“, sagte der kleine Bullige.
„Du willst schlafen?“, fragte der Große. Der kalte Ton in seiner Stimme ließ Chanti erschaudern. Der Ork zückte ein rostiges Messer und stach es dem Bulligen in den Bauch. Dieser kippte sogleich mit einem pfeifenden Röcheln zur Seite und blieb regungslos am Boden liegen. „Jetzt kannst du schlafen!“, höhnte der Große und wischte sich das Messer an seinem Oberteil ab. „Hat sonst noch jemand Einwände? Nein? Gut, dann bringen wir den Lichttiegel jetzt zu unserem Auftraggeber. Los, ihr Maden! Bewegung!“
Die Gruppe verfiel in Laufschritt und lief aus dem Bild. Eine Weile waren ihre trampelnden Schritte und ihre klirrenden Waffen noch zu hören, aber mit dem zunehmend schwindenden Feuerschein wurden auch die Geräusche leiser. Dann war es schließlich still.
„Leo“, sagte Chanti heiser, „Leo, wir sind gerade Zeugen einer Straftat geworden! Leo, die haben den Tiegel! Die haben den Lichttiegel! Der Lichttiegel wurde gestohlen!“ Wie von der Tarantel gestochen erhob sich die Hexe aus dem Sessel. „Leo, wir müssen den König warnen. Ich muss in die Große Stadt zurückkehren und dem König Bescheid geben. Der Tiegel wurde gestohlen. Die Macht droht aus dem Gleichgewicht zu fallen. Ich muss etwas unternehmen!“
Chanti packte das Nötigste in eine lederne Bauchtasche und kramte ihren alten Flugbesen aus ihrer Besenkammer hervor. Das verstaubte Ding hatte sie ewig nicht mehr benutzt. Wozu auch? Hier im Wald hatte sie die lästige Fliegerei nicht nötig gehabt. Doch jetzt war sie im Begriff, den Ort aufzusuchen, dem sie für immer zu entfliehen geglaubt hatte. Und dazu musste sie fliegen.
Sie eilte aus dem Lebkuchenhäuschen in ihren Kräutergarten. Die Bauchtasche schnallte sie sich um die Hüfte, den Hund wickelte sie mit einem Leinentuch an ihren Rücken und den Besenstiel klemmte sie sich zwischen die Pobacken. Zwei Sekunden später hoben ihre Füße vom Boden ab.
Und so zog die alte Hexe in die Große Stadt.