Chanti zog heiter durch die Straßen von Burg Katzenschreck. Die einfältigen Gesichter der Einwohner konnten ihre gute Stimmung genauso wenig trüben wie der aufbrausende Wind, der durch die Gassen wehte und an ihren Haaren zerrte. Sie kam sich zehn Jahre jünger vor und nahm das Gewicht des Welpen auf ihrem Rücken kaum wahr. Wie auf Wolken schritt sie durch den Ostbezirks der Burganlage, auf dem Weg in die muffige Gaststätte, in deren Keller ihre Reisegefährten gespannt der Neuigkeiten harrten. Jess war derweil im königlichen Palas zurückgeblieben und hatte berittene Boten ausgesandt, die das Orakel des Obersten Gerichts nach Burg Katzenschreck einladen sollten. Vorläufig verblieb sie in der beleibten Gestalt König Danis und spielte ihre Rolle. Dass dies nicht zu ihrem Leidwesen geschah, verriet das verschmitzte Funkeln, das beim Gedanken an die königliche Tafel in ihren Augen flackerte.
Chanti hatte das Kellergewölbe erreicht und klopfte dreimal an der Holztür. Erny öffnete und las bereits an Chanits Miene ab, dass die Mission ein voller Erfolg war.
„Wie geht es unserem Gast?“, fragte die Hexe, als sie die Tür mit einem Quietschen hinter sich schloss.
„Sieh selbst“, antwortete der Zwerg und trat beiseite.
König Dani saß ungefesselt in der Mitte des Raumes auf dem Boden. Seine Aufmerksamkeit galt Melis Tigerkatze, die wohlig schnurrend auf dem Rücken lag, alle viere von sich gestreckt, und sich vom König das Bäuchlein kraulen ließ. Meli hockte in einer Ecke auf ihrer zusammengefalteten Decke und sah den Streicheleinheiten verzückt zu.
„Der ist offenbar von seinem Katzenhass kuriert“, stellte Chanti belustigt fest.
Als König Dani ihre Anwesenheit bemerkte, hielt er in seinen Bewegungen inne und sah mit strahlendem Gesicht auf. „Ich schulde Euch Dank, werte Frau Hexe. Ihr habt mir die Augen geöffnet! Ich war voller Hass und Zorn auf eine Spezies, die doch so anders ist, als ich erwartet habe. Doch die letzten Tage in diesem trostlosen Loch haben mich wachgerüttelt und ich habe diese possierlichen Tierchen lieben gelernt.“
Nike räkelte sich auf dem Boden, um König Danis Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen und weitergekrault zu werden. Dabei gab sie ein entzückendes Maunzen von sich.
„Ja, meine Süße!“, sagte König Dani mit einer peinlichen Babystimme. „Ja, wo ist sie denn? Meine Schmusekatze! Hat Dani dich noch nicht genug gekrault? Da magst du es gerne, nicht wahr? Dutzi dutzi duuu!“
Die Hexe räusperte sich lautstark. Hass hatte sie für Katzen noch nie empfunden, aber diese 180-Grad-Wendung, die König Dani nun an den Tag legte, fand sie dann doch ein bisschen übertrieben. So toll waren Katzen jetzt auch wieder nicht!
Dani beendete das Kuscheln mit der Tigerdame und kam ächzend auf die Füße. „Ich weiß nicht, was mich geritten hat, als ich mich mit dem Blutigen Hanswurst zusammengetan habe. Ich bin jetzt ein völlig anderer Mensch. Was ich getan habe, war nicht rechtens, und ich werde mich vor Gericht für meine Tat verantworten.“
Chanti beäugte den Mann vor ihr, der nichts mehr mit einem König gemein hatte. Vielleicht spielte er seine neugewonnene Einsicht nur vor, um einer Strafe zu entgehen? Nein, das Schuldbewusstsein in seinen Augen war aufrichtig. Daher beschloss Chanti, König Dani reinen Wein einzuschenken. Sie erzählte von der Gestaltwandlerin, die seinen Platz eingenommen hatte, und von den Orks, die in den Kerkern unter dem Palas vor sich hin schmorten. Als Chanti erzählte, dass das Orakel auf dem Weg nach Burg Katzenschreck war, huschte ein reumütiger Schatten über König Danis Gesicht, aber er protestierte nicht.
Nachdem alle Karten offen auf dem Tisch lagen, war es nicht länger nötig, sich in dem ungemütlichen Kellergewölbe der Gaststätte zu verstecken. Die griesgrämige, alte Inhaberin staunte nicht schlecht, als sie ihren König Seite an Seite mit einem Tiger zur Tür hinaustreten sah. Den Palas betraten sie durch einen geheimen Hintereingang, damit das Gesinde den hiesigen Herrscher nicht in doppelter Ausführung zu sehen bekam.
In einem der Wohnräume, die an den Saalbau grenzten, quartierten sie sich ein. Es handelte sich dabei um eine gemütliche, weiträumige Kemenate im dritten Stock, mit Ausblick auf die weite Hügellandschaft der Hohen Lande. In der Ferne reckten sich die Unheilsberge in den blassen Himmel. König Dani erklärte, dass für gewöhnlich Gäste in diesen Räumlichkeiten übernachteten und zu diesen durften sie sich nun zählen.
Während Erny und Meli sich in dem Zimmer einrichteten, machte sich Chanti auf den Weg in den Thronsaal, wo Jess inmitten leerer Chipstüten auf dem Thron faulenzte. Die Hexe forderte Jess dazu auf, ihr in das behagliche Gästezimmer zu folgen. Jess schnappte sich beiläufig noch ein Glas mit Schokomousse, das sie unterwegs auslöffelte; und schließlich fanden sich die vier Reisegefährten und ihre Haustiere wieder vereint.
„Du kannst jetzt deine richtige Gestalt wieder annehmen“, sagte Chanti zu Jess.
Die Gestaltwandlerin seufzte gequält, waren ihre glücklichen Tage als Landesoberhaupt nun vorbei, verwandelte sich aber widerspruchslos wieder in die pausbäckige, hochgewachsene Frau zurück und überreichte König Dani die schwere Krone.
Bis zum Eintreffen des Orakels verbrachten die Gefährten eine schöne Zeit in der königlichen Residenz. König Dani hatte seinen Platz auf dem Thron wieder eingenommen und sorgte dafür, dass es seinen neuen Freunden an nichts fehlte. So manchen Nachmittag amüsierten sie sich bei Trunk und Musik, oder schlugen die Zeit mit einer Kartenpartie tot. Chanti bewies ihre Kochkünste, indem sie ihren Freunden einen Fliegenpilzeintopf köchelte, und Meli ließ an der Spitze ihres Zauberstabs winzige Funken entstehen, die den Eindruck einer Wunderkerze vermittelten. Jess verwandelte sich zur allgemeinen Belustigung in allerlei Tiere, und sogar einmal in Erny.
Nach drei Wochen wurde ihnen die Ankunft des Orakels verkündet und sie fanden sich alle in dem prunkvollen Thronsaal ein. Während Nike, Leo und Peewee jeweils auf Kissen aus erlesenen Stoffen ruhten, standen Erny, Meli und Jess freudig gespannt an König Danis Seite neben dem Thron und beobachteten den Empfang, der mit viel Tamtam erfolgte.
Das Orakel wurde in einer offenen Sänfte von vier Halbriesen hereingetragen. Ein ganzer Hofstaat begleitete sie; Männer und Frauen unterschiedlicher Völker trudelten nacheinander in den Saal ein, bis dieser fast zum Bersten voll war. Das Gefolge des Orakels bestand vor allem aus Gelehrten und Schreiberlingen, die allerhand Gesetzesbücher und Schreibkram mit sich herumschleppten. Üblicherweise bezeugten sie die Anhörungen und führten Protokoll über die Prozesse. In seltenen Einzelfällen mussten konkrete Gesetztestexte nachgeschlagen werden. Zusammen mit dem Orakel und dessen halbriesigen Sänftenträgern bildeten sie das Oberste Gericht. So zogen sie durch die Lande und erschienen, wo auch immer ein Verbrechen verübt worden war, um Gerechtigkeit zu üben.
Das Urteil des Orakels wurde niemals angezweifelt, weil sie der Hellseherei kundig war. Sie erfasste das tiefste Innere eines jeden Wesens, das sich in ihrer Nähe befand, und kannte somit die uneingeschränkte Wahrheit.
Ihre Sänfte kam mit einem Ruckeln zum Stehen, und sie stieg aus. Sie war eine junge, glatzköpfige Frau, deren Körper über und über mit Tattoos bedeckt war. Fast machte es den Anschein, sie selbst wäre einem Gesetzbuch entsprungen, so voll war sie mit Schriftzügen und alten Runen. Sie trug einen violetten Umhang mit Armschlitzen, sodass ihre nackten Arme zu sehen waren. Ihre Augen waren hinter einer eisernen Maske versteckt, die über ihrer Nase spitz zusammenlief und den lächelnden Mund aussparte. Sie konnte unmöglich etwas durch die Maske sehen – allerdings dürfte ihr das als Hellseherin nicht allzu viel ausmachen. Die mysteriöse Aura, die sie umgab, war beinahe so greifbar wie dichte Nebelschwaden. Mit grazilen Bewegungen sah sie sich im Saal um, als trüge sie keine Metallmaske, und blickte dann zu König Dani auf.
„Heilise Bimbom, Tschipfel! Hier müschte aber mol mit nem Wissnippel dursgewisst werden!“, sagte sie mit einer überraschend tiefen Stimme.
König Dani legte irritiert die Stirn in Falten. „Wie bitte?“
„O lo lo! Da hamwa jo den Übeltäter! Aufm Thron schitschen tut er, wahr?“
König Dani schüttelte den Kopf. „Ich verstehe kein Wort.“
„Sie kommt aus dem Norden“, erklärte Chanti leise. „Dort spricht man so.“
Das Orakel drückte sich kurz die Finger an die Schläfen, bevor sie die Hände wieder sinken ließ und laut Luft holte. „Scho, is schehe wasch hier losch ischt. Du do hascht nen Ork angestiftet, den Listtiegel tschu holen. Aber is schehe auch, dasch du dis mittlerweile wieder eingekriegt hascht. Im Gegenschatsch tschu den Blödbommeln im Kerker. Ahhh! Is schehe, dasch schie schis Eintrittschkarten insch Dischneyland erhofft haben. Du, do weisch is aber eine gute Strafe! Wat haltet ihr davon, wenn wir den Orksch ein paar Schotschialstunden aufbrummen? Schie schollen im Dischneyland für drei Wochen den Boden fegen!“
Eilig kratzen die Federn der Schreiberlinge über das Papier, um das Urteil festzuhalten.
„Und nun tschu dir, du Tschipfelkönig!“, sagte das Orakel und zeigte mit dem Finger auf König Dani. „Du warscht wohl früher ein bischel bollo bollo? Wat machen wir denn do mit dir?“
König Dani erhob sich, um seine Verteidigung einzuleiten. Mit fester Stimme verkündete er: „Bevor Ihr ein Urteil fällt, oh große Hellseherin, will ich Euch mitteilen, dass ich das Amt des Königs mit sofortiger Wirkung aufzugeben gedenke.“ Er hob die Hände zu seinem Haupt und nahm sich die Krone ab. Ehrfürchtig drehte er sich zu seinem Thron um, wo er die Krone vorsichtig auf der Sitzfläche niederlegte. Dann wandte er sich wieder der versammelten Menge zu. „Ich bin der Krone nicht würdig. Soll ein Nachfolger sie tragen. Wenn Ihr erlaubt, oh großes Orakel, dann würde ich mich fortan in das beschauliche Leben eines einfachen Bürgers zurückziehen. Ich werde mir einen Wohnwagen zulegen, ein Weib finden, und zusammen mit meinem Peewee auf Reisen gehen.“
Das Orakel verharrte einen Augenblick reglos auf der Stelle. Die Schreiberlinge warteten gespannt auf eine Reaktion; ihre Federn verhielten erwartungsvoll über dem Papier.
Dann schließlich zuckte das Orakel mit den Schultern. „Allesch klaro. Do drück is mol ein Auge tschu. Meinetwegen sollscht du do herumreischen. Hauptschache, du häl-scht dis ab schofort an die Regeln, Mischter!“
„Danke! Bis dann meine Freunde! Gehabt euch wohl!“ Dani bahnte sich einen Weg durch die versammelte Menge, pfiff seinen Rüden herbei, verschwand durch die offenen Saaltüren und ward in den Hohen Landen nie wieder gesehen.
„Scho, damit ischt der Protschesch wohl vorbei“, sagte das Orakel und verscheuchte ihr Personal mit wehenden Handgesten aus der Halle. „Ihr könnt eus alle verkrümmeln. Alle, auscher eus vier. Mit eus red is erscht noch ein mol.“
Sie wartete, bis alle den Saal verlassen hatten und einzig Chanti, Erny, Meli und Jess übriggeblieben waren. „Ihr habt alscho gantsch allein die Orksch aufgehalten? Nist slest! Dann tscheigt doch mol her, den Tiegel!“
Jess kramte das Goldkästchen aus ihrer linken Hosentasche. Seit der Blutige Hanswurst ihr den Lichttiegel ausgehändigt hatte, verwahrte sie ihn sicher bei sich. Zögerlich hielt sie dem Orakel das Gefäß hin, und als ihre Hände sich kurz berührten, fuhr die Gestaltwandlerin unmerklich zusammen.
Chanti wusste genau, warum Jess plötzlich so nervös war. Die junge Frau hatte ihr Brot jahrelang nicht gerade auf ehrliche Art und Weise verdient und fürchtete sich nun vor möglichen Konsequenzen. Sicherlich wusste das Orakel längst über Jess´ kriminelle Vergangenheit Bescheid. Allerdings wirkte die wunderliche Hellseherin alles andere als grausam, sodass sie angesichts der jüngsten Ereignisse mit etwas Glück über die krumme Erwerbstätigkeit der Gestaltwandlerin hinwegsehen würde. In der Tat verlor das Orakel kein Wort darüber, sondern beäugte lediglich den Lichttiegel interessiert.
„Was passiert nun mit dem Tiegel?“, wagte Chanti zu fragen.
Das Orakel ließ ihn in einer Tasche ihres weiten Umhangs verschwinden. „Jo mei, den behalte is fürsch Erschte mol bei mir. Wir müschen bald eine Vollverschammlung der Landeschoberhäupter einberufen. Die Ekschischtentsch desch Tiegelsch ischt nist länger geheim. Jedesch Volk scholl vertreten schein. Und dann halte is esch für dasch Beschte, wenn der Listtiegel tscherstört wird. Wenn schis alle einverstanden geben, dann müschen wir eine Gruppe loschsicken, die den Tiegel an den eintschigen Ort bringt, wo er vernistet werden kann: Im Feuer desch Snicksnackbergesch!“
„Im Feuer des Schnickschnackberges?“, wiederholte Chanti ehrfürchtig. „Nur gut, dass wir dann nicht mehr hier sein werden!“
„Freut eus nist tschu früh“, widersprach das Orakel mit einem geheimnisvollen Grinsen. „Ihr scholltet alle bei den kommenden Verhandlungen anweschend schein. Immerhin vertretet ihr bereitsch vier Völker. Is schehe noch Groschesch auf eus tschukommen. Wie dem auch schei: Is werde jetscht jedenfallsch ein bischel durs die Burg bummeln, do is so mol hier bin. Wir schehen unsch noch.“
Damit drehte sie sich um und ließ die Gefährten verdattert in dem leeren Saal zurück. Im Vorhof des Palas warteten die vier Halbriesen mit der Sänfte, in die das Orkal einstieg, bevor sie außer Sicht getragen wurde.
Chanti rührte sich als Erstes wieder. „Tja, ich würde sagen: Friede, Freude, Pustekuchen!“
„Aber wie hat sie das gemeint?“, murmelte Jess, die die Worte der Hellseherin beunruhigt hatten.
„Ach“, meinte Erny. „Die wollte sich bestimmt nur wichtigmachen.“
„Jawoll“, pflichtete Meli dem Zwerg bei.
„Ja, und jetzt?“, fragte Jess. Zum ersten Mal seit Wochen mussten sich die Gefährten über die Verantwortung des Lichttiegels keine Gedanken mehr machen. Nun waren sie frei zu tun, was immer sie wollten. Und trotzdem wirkte die plötzliche Stille erdrückend.
„Ihr habt das Orkal vernommen“, antwortete Meli. „Lasst uns an der kommenden Versammlung teilnehmen!“
„Ich weiß nicht“, wandte Erny ein. „Nachher werden wir noch in irgendwelche haarsträubenden Abenteuer hineingezogen. Dabei haben wir gerade erst eine aufregende Reise hinter uns.“
„Über eines sind wir uns hoffentlich einig“, sagte Chanti mit fester Stimme. „Was auch immer noch kommen mag, wir bestehen es zusammen!“ Sie griff nach Ernys Hand, welcher nach Jess´ Hand griff, die wiederum Melis Hand umschloss. Nike kletterte von ihrem Kissen und stupste Melis freie Hand mit dem Kopf an, während Leo sich zu Chantis Füßen niederließ. Und so standen unsere Helden da: Wild entschlossen, jedwedes noch kommende Abenteuer gemeinsam zu meistern. Aber das ist eine andere ulkige Geschichte.
Ende