Die Reise zur Großen Stadt dauerte einen Tagesflug. Die Sonne senkte sich bereits, als Chanti an die gewaltigen Pforten des königlichen Palastes klopfte. Wie der Wind war sie herbeigeeilt, um dem König die unheilvolle Botschaft zu überbringen. Die Palastwache schien sich der Dringlichkeit ihres Besuchs jedoch nicht bewusst zu sein, denn sie ließ die Hexe ganze sechzehn Minuten vor den Toren warten. Gerade als Chanti die Pforte mit einem Zauber öffnen wollte, wurde ein winziges, in die massive Eichentür eingelassenes Fenster geöffnet und eine genervte Stimme fragte: „Eh, was is? Was willsdu?“
Die frevelhafte Antwort, die Chanti angesichts dieser Unhöflichkeit auf der Zunge lag, konnte sie sich nur mit Mühe verkneifen. Mit aufgesetzter Freundlichkeit sagte sie: „Ich wünsche ein Audio beim König.“
„Ein Audio?“, fragte die Wache. „Meinste vielleicht eine Audienz?“
„Das habe ich doch gesagt!“, murrte die Hexe.
„Glaubste etwa, dass ich hier jeden reinlasse, wenn der das will?“
„Ich bitte Euch. Ich habe vertrauliche Informationen. Es ist sehr wichtig.“
„Fräulein, ich glaub, es hackt. Verzieh dich!“
„Gut“, murmelte Chanti, „Ihr lasst mir keine andere Wahl. Entweder ich werde hineingelassen oder Ihr könnt den Rest Eures Lebens als Frosch durch die Welt hüpfen.“
Fünf Minuten später schritt sie eine kopfsteingepflasterte und von Buchsbäumen gesäumte Allee hinab. Die Wache führte sie bis zum Thronsaal, wo ihre Ankunft lauthals verkündet wurde. Den roten Teppich, den sie am Morgen im Spiegel gesehen hatte, lag ihr nun in Echt vor den Füßen. Chanti verstärkte den Griff um ihren Besenstiel, als sie auf den Thron zuschritt.
„Wer ist Sie?“, fragte der König gelangweilt und besah sie eines flüchtigen Blickes. Er war in einen Hermelinfellmantel gehüllt, trug eine Krone auf dem Haupt und einen edelsteinverzierten Goldzepter in der Hand. Das Outfit seiner beleibten Majestät fand in den Wollsocken und den Sandalen an seinen Füßen die krönende Vollendung.
„König Henri XIII., ich habe schlimme Neuigkeiten. Der Lichttiegel wurde gestohlen!“, sagte Chanti und fiel vor dem König auf die Knie. Ehrfürchtig neigte sie den Kopf.
„Was erzählt Sie da? Weiß Sie nicht, dass der Tiegel versteckt ist?“
„Jetzt nicht mehr. Eine Gruppe Orks hat ihn gestohlen.“
„Ist Sie eine Hexe? Hexen kann man nicht trauen.“
Chanti hob den Kopf und sah ihrem König in die Augen. „Ja, ich bin eine Hexe. Aber ich sage die Wahrheit.“
„Lüge Sie nicht!“, rief der König barsch. „Hexen versuchen, jeden in die Irre zu führen. Mich führt niemand an der Nase herum. Kehre Sie zurück in das Loch, aus dem Sie kam. Ich falle nicht auf Ihren billigen Zauber herein.“
Chanti stand auf. Vor dieser Ignoranz konnte sie nicht länger knien. „Das sind alte Vorurteile, die Ihr ansprecht. Ihr könntet ruhig etwas toleranter sein.“
„ICH BIN TOLERANT!“, schrie der König erbost auf und stampfte demonstrativ mit seinem Zepter auf den Steinboden. „Sie soll gehen! Sie soll gehen und mich nie wieder behelligen!“
„Aber-“
Chanti wurde von drei Wachmännern an den Armen gepackt und nach draußen gezerrt.
„Ihr begeht einen Fehler! Der Tiegel wurde gestohlen! Unsere Welt ist bedroht!“, rief sie verzweifelt.
Keines ihrer Worte konnte den König umstimmen, und so landete sie wenig später wieder vor den Palasttoren. Die Wachen hatten sie unsanft auf die Straße gestoßen, sodass sie sich erst einmal wieder aufrappeln musste. Mit einem lauten Scheppern fiel das Tor hinter ihr ins Schloss und die Dunkelheit der Nacht umfing sie. Der Welpe auf ihrem Rücken begann zu winseln.
„Leo, mein Süßer. Geht es dir gut?“
Der Hund bellte einmal.
„Prima. Aber was sollen wir jetzt machen? Der König glaubt uns nicht.“
Anstatt zu antworten, riss Leo seine Schnauze zu einem gewaltigen Gähnen auf, wodurch seine niedlichen kleinen Milchzähnchen entblößt wurden.
„Hast recht, mein Junge. Erstmal suchen wir uns einen Platz zum Schlafen. Und morgen früh machen wir uns eben selbst auf die Suche nach dem Lichttiegel.“