Jess lümmelte auf dem pompösen Goldthron, als wäre er ein gemütlicher Ohrensessel, und scheuchte ihre Diener gnadenlos herum. Ihre Füße baumelten in ungesitteter Manier über die Armlehne. Seit vier Tagen ließ sie sich allerlei Köstlichkeiten bringen und genoss die Macht, die ihre neue Gestalt ihr verlieh. Vom Hofgesinde hatte bisher niemand gemerkt, dass der König unauffällig ausgetauscht worden war.
„Diese Orks könnten wirklich bald mal auftauchen“, murmelte Chanti. Die alte Hexe hatte neben dem Thron Stellung bezogen, um Jess zur Seite zu stehen, wenn die Orks mit dem Lichttiegel in die Halle hereinspaziert kämen. Bislang hatte sie sich allerdings nur die Beine in den Bauch gestanden.
„Meinetwegen können sie noch ein paar Tage wegbleiben“, sagte Jess und biss herzhaft in ein Schokoladentörtchen. Ihr ganzes Gesicht war bereits mit Sahne verschmiert, das von dem vielen Gebäck herrührte.
„Je länger wir auf sie warten, desto größer wird das Risiko, dass wir auffliegen. Wir können König Dani nicht ewig im Keller einsperren!“ Chanti sprach leise, weil das Gespräch nicht von den zahlreichen Dienern belauscht werden sollte. Aber Jess konnte die Nervosität der Hexe trotzdem aus ihrer Stimme heraushören.
Die Gestaltwandlerin drehte Chanti den Kopf zu. „Ach was! Meli und Erny leisten ihm schließlich Gesellschaft. Und Nike heizt ihm bestimmt ordentlich ein.“ Sie grinste frech. Dann schnappte sie sich Chantis Arm und klatschte ihr ein Eclair auf die offene Handfläche. „Hier, bring unseren Freunden im Keller ein paar Leckereien. Und Gold! Haufenweise Gold! Wenn du etwas zu tun hast, bist du auch nicht mehr so nervös.“
„Das Gold gehört uns nicht!“, zischte Chanti verärgert.
Jess zog die Augenbrauen hoch. „Wem sollte es sonst gehören? Bin ich nicht der König?“, fragte sie mit einer ausladenden Geste. Ihr angebissenes Schokotörtchen hielt sie immer noch in der Hand.
„Nein, bist du nicht“, schnauzte Chanti und warf dem königlichen Hund das Eclair zu, das Jess ihr gegeben hatte. Peewee verschlang das Gebäck mit einem Happs und döste dann weiter auf seiner Seidendecke. Selbst der verschlafene Rüde hatte nicht mitgekriegt, dass sein Herrchen seit Tagen weg war.
„Spielverderberin“, grummelte Jess.
In dem Moment wurden die Saaltüren aufgestoßen und mehrere Personen traten ein. Zwischen den im Laufschritt marschierenden Wachen erblickte Jess die dunklen Gestalten von Orks. An ihrer Spitze lief der gefürchtete Blutige Hanswurst. Die Kleidung der Ankommenden war von ihrer langen Reise in Mitleidenschaft gezogen worden. Ihre Stiefel strotzten vor Schlamm, die stählernen Helme glänzten matt, die Lederwämser hingen speckig an ihren Leibern herab.
Jess setzte sich aufrecht hin und bemühte sich um einen strengen Gesichtsausdruck, wollte sie doch den Anschein des katzenhassenden, skrupellosen Königs wahren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich Chanti anspannte. Nun war der entscheidende Moment gekommen, der über den Ausgang der Mission entscheiden würde.
„Nehmt ihre Waffen in Gewahrsam“, befahl Jess ihren Wachen. Die Orks schnaubten mürrisch, gaben ihre Waffen jedoch ab. Das war das übliche Protokoll am Hofe.
„Tretet vor.“ Jess winkte die Orks heran. Dabei wurde sie sich des Schokotörtchens gewahr, das sie immer noch fest umklammerte, und legte es auf einem nahen Tisch ab. „Habt Ihr, wonach ich Euch schickte?“
Der Blutige Hanswurst ließ sich auf ein Knie fallen und senkte den Kopf. Seine Schar tat es ihm nach.
„Wir haben, was Ihr verlangt habt, Eure Majestät.“
Der Anführer der Orkbande hob seinen Blick wieder. Hinter seinem Lederwams holte er einen kleinen Gegenstand zutage, den er mit ausgestreckten Armen demütig vor sich hielt. Es handelte sich um ein kleines, ausgebeultes Goldkästchen, dessen Aufmachung in keiner Weise auf seinen wahren Wert schließen ließ. Ein einfacher Schließmechanismus verhinderte, dass der Deckel aufsprang.
Jess streckte sich vor, um es entgegenzunehmen, und lehnte sich anschließend wieder zurück. Neugierig musterte sie das unscheinbare Gefäß. Alles in ihr schrie danach, den Riegel zur Seite zu schieben und den Deckel zu öffnen, doch sie konnte dem Drang geradeso widerstehen. Der Lichttiegel musste unbedingt geschlossen bleiben!
Jess warf den Tiegel lässig in die Luft und fing ihn einhändig wieder auf. „Yo, Dankeschön! Ähm… Was genau hatte ich euch noch gleich dafür versprochen?“
Der Blutige Hanswurst erhob sich aus seiner knieenden Position und blickte Jess direkt in die Augen. „Eintrittskarten ins Disneyland, Eure Majestät.“
Jess hielt dem Blick des Orks ein paar Sekunden stand, bevor sie laut losprustete. „Was? Ihr habt mir den größten Schatz dieser Welt gebracht im Austausch gegen Eintrittskarten für einen Vergnügungspark?“
Der Blutige Hanswurst legte wütend die Stirn in Falten und knurrte. „So lautete unsere Abmachung! Bernd-Rüdiger wollte schon immer mal ins Disneyland. Und Jens-Michael auch. Genauso wie Volker-Rudi, Albert-Friedrich, Karl-Frederick und Robert-Heinrich. Und es ist mein ganz persönlicher Kindheitstraum, bootzufahren und dabei It´s a small world zu singen!“
Jess wischte sich eine Lachträne aus den Augen. „Ihr hättet den Tiegel auch einfach behalten und euch mit seiner Macht den ganzen Disneyland-Park erkaufen können.“
Der Blutige Hanswurst stutzte verblüfft. Es war ihm im Gesicht abzulesen, dass diese Idee ihm zuvor nicht in den Sinn gekommen war.
„Sei´s drum“, sagte Jess und blickte auf die Orkschar nieder. „Wachen, ergreift sie!“
Es kam Bewegung in den prunkvollen Saal. Mehr als zwanzig Wachen kesselten die Orks ein, die sich nicht kampflos ergeben wollten. Sie waren zwar ihrer Waffen beraubt, nutzen aber alles an Körperkraft, das sie aufbieten konnten, um sich mit den Wachleuten einen energischen Kampf zu bieten.
Der Blutige Hanswurst stierte Jess ein paar Sekunden lang hasserfüllt an, bevor auch er sich ins Kampfgetümmel stürzte. Chanti zischte jedes Mal, wenn ein Fausthieb sein Ziel traf und zuckte zusammen, wenn jemand polternd zu Boden geworfen wurde. Jess beobachtete alles gelassen und nahm sich ihr abgestelltes Schokotörtchen wieder zur Hand. Gelangweilt biss sie hinein.
Obwohl die Wachen mit ihren Hundeschlappohren-Mützen nicht viel hermachten, waren sie in der Kampfkunst hinreichend bewandert, um die Orks schließlich zu überwältigen. Außer dem ein oder anderen blauen Auge war niemand zu Schaden gekommen.
„Steckt sie in den Kerker“, befahl Jess mit vollem Mund. Sie hatte endlich das ganze Schokotörtchen aufgegessen und lutschte sich noch die Krümmel von den Fingern.
„Das werdet Ihr mir büßen!“, brüllte der Blutige Hanswurst, als er mit seinen Anhängern abgeführt wurde. Seine zornigen Protestschreie waren noch eine ganze Weile zu vernehmen, bis sie endlich verstummten.
Jess und Chanti sahen sich an.
Die Mission war geglückt; der Lichttiegel war vorerst in Sicherheit.