Dunkelheit legte sich über das Wiesenland, als die Gruppe im Schein des Lagerfeuers zusammen unter dem Birnenbaum saß. Im Hintergrund plätscherte leise der Bach, in welchem Erny die Fischfalle ausgelegt hatte. Jess lag mit auf den Armen abgestütztem Oberkörper im Gras, während Meli sich an Nike lehnte, um sich an deren kuscheligem Fell zu wärmen. Erny stocherte mit einem Ast in der Glut des Feuers herum und legte ein paar trockene Äste nach. Die ersten Sterne schimmerten am Firmament.
„Hör gut zu“, setzte Chanti mit rauer Stimme an. „Hört mir alle gut zu! Vor Anbeginn der Zeit gab es eine göttliche Macht, die die Form eines Kindes annahm. Dieses Kind erschuf unsere Welt. Zuerst formte es einen Ball aus Erde, den warf es in den Himmel, wo er bis heute herumschwebt. Dann formte es Berge und Täler, Seen und Wälder und anschließend alle Tiere und Menschenwesen. Hierauf fügte es der Welt einen Hauch Magie hinzu. Aber die Tiere und die Menschenwesen waren starr und unbeweglich. Sie brauchten eine Aufgabe, einen Sinn, ein Ziel. Und so formte das Kind das Schicksal. Das gute Schicksal wie auch das böse Schicksal. Beides war in zwei Tiegel gesperrt: Den Schattentiegel und den Lichttiegel. Zuerst öffnete es den Schattentiegel und alles Schlechte strömte heraus und legte sich über die Welt. Aber die Tiere und Menschenwesen blieben noch immer starr und lethargisch. Erst als das Kind den Lichttiegel öffnete und Glück und Hoffnung in die Lebewesen hineinfuhren, erwachten sie aus ihrer Unbeweglichkeit und begannen, wahrlich zu leben.“
Flackernder Feuerschein tanzte auf Chantis Gesicht und schenkte ihr ein altehrwürdiges Erscheinungsbild. Der Welpe in ihrem Schoß war eingeschlafen und schnarchte leise. Erny zwirbelte ehrfürchtig lauschend an seinem ergrauenden Bart herum, obwohl er die Legende bereits kannte. Auch Meli und Jess hingen gebannt an Chantis Lippen.
„Der Schattentiegel“, fuhr die Hexe fort, „gilt als verschollen. Manche sagen, er wäre zerstört worden. Andere sagen, das göttliche Kind hätte ihn bei sich aufbewahrt. Jedenfalls weiß niemand, wo er steckt. Der Lichttiegel ist jedoch gefunden worden… und man hat versucht, ihn zu verstecken. Es wurde ein unterirdisches Labyrinth gebaut, mit Fallen und Rätseln und verschachtelten Gängen. In einer steinernen Kammer lag der Lichttiegel viele Jahrtausende sicher aufbewahrt. Dann wurde der Palast des Königs der Flachen Lande direkt darauf gebaut und bei den Bauarbeiten wurde das versteckte Labyrinth gefunden. Nur wenige wissen davon… Offensichtlich ist der König der Hohen Lande einer davon. Er hat den Blutigen Hanswurst angeheuert, den Tiegel zu stehlen und zu ihm zu bringen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und ich habe es König Henri gemeldet, aber der hat mir nicht geglaubt. Deswegen kümmern wir uns nun persönlich um die Sache.“
Jess runzelte die Stirn. „Aber was ist denn so schlimm an dem Lichttiegel? Er wurde bereits geöffnet, also ist er leer. Und außerdem enthielt er Glück und Hoffnung.“
„Genau!“, antwortete Chanti. „Er wurde bereits einmal geöffnet! Und wenn man ihn ein zweites Mal öffnet, fließt sämtliches Glück dieser Welt wieder darin zurück und alles, was bleibt, ist die ewige Dunkelheit. Wer den Lichttiegel besitzt, hat die Macht, unsere Welt ins Chaos zu stürzen. Gegen eine solche Macht kann kein Reich dieser Welt ankommen. Der König der Hohen Lande wäre unbesiegbar.“
Das Feuer knackte laut und zahlreiche Funken stoben in den Nachthimmel. Aus weiter Ferne ertönte der Ruf eines einsamen Kauzes, welcher Chantis Ausführungen dramatisch untermalte.
Erny sah zu Jess hinüber. „Aus diesem Grund können wir die Orks auch nicht angreifen. Sie müssten nur damit drohen, den Tiegel zu öffnen, und schon fressen wir ihnen aus der Hand. Nun… darum müssen wir sie austricksen.“
„Jawoll!“ Meli bestätigte Ernys Aussage mit einem eifrigen Nicken.
„Und dafür braucht ihr mich“, schlussfolgerte Jess.
„Jawoll“, wiederholte Meli.
Chanti verlagerte ihr Gewicht von einer Gesäßhälfte auf die andere, ohne Leo dabei zu wecken, dann erläuterte sie: „Wir versuchen, die Orks einzuholen und die Hohen Lande vor ihnen zu erreichen. Dann schmuggeln wir uns in die Königsresidenz und müssen irgendwie an den König herankommen. Du wirst ihn berühren und dich als er ausgeben. Dann wirst du den Blutigen Hanswurst und seine Orkschar empfangen, dir den Tiegel überreichen lassen und die königlichen Wachen auf sie hetzen. Anschließend schleppen wir sie alle miteinander vor das Oberste Gericht.“
Jess fiel die Kinnlade herunter. Erst nach ein paar Augenblicken konnte sie sich wieder besinnen und rief: „Habe ich das richtig verstanden? Ihr wollt den König kidnappen?“
„Jawoll“, summte Meli freudig.
„Ihr habt sie doch nicht mehr alle“, kommentierte Jess kopfschüttelnd.
Chanti verengte die Augen zu kleinen Schlitzen. „Die ganze Welt hängt von diesem Plan ab, ob es dir passt oder nicht. Sollten wir scheitern, bedeutet das das Ende des Friedens.“