Die Sonne war gerade untergegangen, als sich Erny Rosträtchen durch das Gestrüpp des Waldes kämpfte. Mit seiner Zwergenaxt schlug er sich einen Weg durch Brombeerbüsche, Brennnesselsträucher und Ginsterhecken. Er hatte eine Abkürzung querfeldein genommen und dabei nicht mit der zähen Vegetation gerechnet. Eigentlich hatte Erny gehofft, die Große Stadt vor Einbruch der Dunkelheit schon längst erreicht zu haben. Doch wie es aussah, musste er wohl eine weitere Nacht in der Wildnis verbringen, bevor er sich endlich eine Herberge suchen und in einem mit Stroh gestopften Bett schlafen konnte. Weit entfernt konnte sein Ziel jedoch nicht mehr sein. Spätestens am nächsten Morgen müsste er vor der äußeren Ringmauer der Stadt stehen.
Erny lauschte in die Stille der anbrechenden Nacht hinein. Die Schritte, die ihm schon seit Tagen folgten, waren auch jetzt zu hören. Leise nur, aber unbestreitbar. Der Zwerg blickte sich um und machte in den Schatten der Bäume ein Augenpaar aus, das ihn beobachtete. Er wusste, dass es eine Atan war. Eine Wüstenwölfin von hundeähnlicher Gestalt, grazil wie ein Reh, braun wie Wüstensand, mit langen dünnen Beinen. Sie war harmlos und hatte es vermutlich auf seinen Proviant abgesehen. Seit Tagen lief sie ihm nun schon hinterher. Hin und wieder ließ Erny absichtlich ein Stück Brot oder einen Knochen fallen, weil sie ihm leidtat. Der Wald war nicht ihre Heimat; sie musste sich verlaufen haben oder von ihrem Rudel verstoßen worden sein. Wahrscheinlich fühlte sie sich genauso einsam wie er.
„Ich kann dich sehen, Atani!“, grummelte der Zwerg, woraufhin die scheue Wüstenwölfin ins Unterholz davonhuschte.
Erny stützte sich auf seiner Axt ab und stieß schnaufend Luft aus der Nase. Den ganzen Tag war er gewandert, ohne Rast und ohne Ruh. Und seit Wochen hatte er nichts verkauft. Aber das würde sich ändern, wenn er erst einmal in der Großen Stadt war.
Der Zwerg sah sich nach einem geeigneten Lagerplatz um, als ihm ein Lichtschein im Wald auffiel. Neugierig setzte er sich wieder in Bewegung. An fremden Lagern ließ sich gerne etwas verkaufen. Aber zuerst musste er wissen, mit wem er es zu tun hatte. So leise wie möglich schlich er sich an die unbekannte Lichtquelle heran und schon bald waren kratzige, missgelaunte Stimmen zu vernehmen. Hinter einer alten Eiche kam der Zwerg zum Stehen. Er linste hinter dem Stamm hervor und blickte geradewegs in das Lager einer Orkhorde.
Sieben kräftige Orks saßen um ein Feuer herum und schlemmten Fleisch undefinierbarer Herkunft. Nicht alle sahen dabei glücklich aus.
„Dass du Paul-Günther umgebracht hast, war unnötig“, meinte ein grünhäutiger Ork, der in der Glut des Feuers herumstocherte.
„Er hat meine Autorität in Frage gestellt“, brummte ein gewaltiger Ork, der sich abseits des Feuers niedergelassen hatte. „Ich bin euer Anführer und ihr habt mir zu gehorchen!“
„Aber Paul-Günther hatte doch recht. Wir hätten die Nacht ruhig in der Großen Stadt verbringen können. Vom Schlafen auf dem harten Waldboden kriege ich Rückenschmerzen“, wandte ein anderer Ork mit Augenbrauenpiercing ein.
„Jens-Michael, du hörst dich an wie ein Weib“, kicherte der grünhäutige Ork und pulte sich anschließend mit einem blankabgenagten Knochen zwischen den Zähnen herum.
„In der Großen Stadt sind wir nicht sicher“, knurrte der Anführer.
„Von den Stadtleuten weiß doch niemand von unserem Diebstahl“, sagte Jens-Michael und kratzte sich an seinem Augenbrauenpiercing.
Ein wütendes Grollen entstieg dem Anführer-Ork. „Unser Auftrag ist erst dann zu Ende, wenn der König der Hohen Lande es in den Händen hält! Wir sind nicht zum Bummeln hier!“ Niemand wagte, zu widersprechen.
Diesen Zeitpunkt hielt Erny für geeignet, sich der Orkhorde vorzustellen. Er hatte erst kürzlich eine Weiterbildung in punkto psychologische Handelsführung abgeschlossen und war sich sicher, die missmutige Stimmung der Orks so manipulieren zu können, dass sie ihm etwas abkauften.
Mit einem lauten Räuspern trat er aus seinem Versteck hervor und sprach mit fester Stimme: „Ihr lieben Leute, ich bin Erny Rosträtchen und stamme aus den Zwergenminen von Ehlerange. Was macht ein Zwerg so weit weg von seiner Heimat, fragt ihr euch? Das Schicksal hat mich hierhergeführt. Ich bin mir sicher, dass unsere Begegnung kein Zufall ist. Gewiss seid ihr auf der Suche nach einem bestimmten Gegenstand. Sagt mir: Was ist es, das euer Herz begehrt? Eine Uhr? Eine Ersatzschraube? Einen Kompass? Oder vielleicht einen Dosenöffner? Ihr habt Glück, ich trage all das und noch viel mehr bei mir. In echter Zwergenqualität! Und weil ihr alle etwas angespannt seid, gebe ich euch 15% Rabatt auf alles! Das kühlt doch die Gemüter, oder nicht? Na? Na? Wer will?“
Die Orks starrten den Zwerg aus finsteren Augen an und schwiegen.
Allmählich begriff Erny, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte und die Orks nichts kaufen würden. Der Anführer-Ork gab ein kehliges Knurren von sich, das Erny das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vorsichtig trat der Zwerg einen Schritt zurück.
„Also gut… Wenn niemand Interesse hat, dann… dann gehe ich jetzt wieder.“
Als der Anführer-Ork sein Messer, welches bisher lose auf seinem Schoß gelegen hatte, in die Hand nahm, drehte sich Erny weg und lief, so schnell es seine Zwergenbeine erlaubten, davon. Erst, als er den Feuerschein des Orklagers nicht mehr sehen konnte, blieb er stehen und stützte die Hände an den Knien ab. Er rang ein paar Augenblicke nach Atem und wartete, bis sich sein Puls wieder normalisiert hatte.
„Wenn jemand danach fragt“, sagte der Zwerg zu sich selbst, „dann habe ich mich mit allen sieben Orks geprügelt und sie fertiggemacht. Genau. Ich hab sie verprügelt.“
Danach setzte er sich nieder und schlief an eine Buche gelehnt ein.