Erny hatte nach Chantis Märchenstunde ganz vergessen, sich einen Fisch zum Abendessen zu braten. Das holte er am nächsten Morgen nach. Der Geruch von auf dem Feuer brutzelnden Forellen weckte die anderen.
„Guten Morgen“, sagte Meli mit einem Gähnen und streckte die Arme durch.
„Morgen“, murmelte Chanti. Die Hexe griff nach ihrem Wasserschlauch und musste unwillkürlich an ihr Lebkuchenhäuschen denken. Schlagartig überkam sie starkes Heimweh. Sie vermisste ihre Kochstelle zu Hause. Sie vermisste es, ihren leckeren Spinnenbeinsud zum Frühstück zu löffeln und dabei einen Krimi zu gucken. Sie vermisste ihren Kräutergarten und den Geruch der Nadelbäume im Morgenreif. Betrübt blickte sie ihren kleinen Welpen an. Leos glupschige Augen waren auf sie geheftet, und sofort stahl sich wieder ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen.
Erny nahm seine beiden Forellen vom Feuer. „Wer will ein Stück abhaben?“
Chanti meldete sich mit grummelndem Magen, Meli lehnte grundsächlich Fleisch ab (Ja, Fisch ist auch Fleisch!) und Jess lag auf dem Bauch im Gras und sabberte im Tiefschlaf den Boden voll.
„Jess?“, fragte Erny und rüttelte sanft an ihrer Schulter. „Willst du Fisch zum Frühstück?“
„Wuaahaaas?“, gähnte Jess, ohne sich zu rühren.
„Ob du Fisch willst!“, herrschte Chanti die verschlafene Gestaltwandlerin an.
„Nein“, murmelte diese. „Ich esse doch nichts, was ich selbst sein könnte.“
Und somit taten sich der Zwerg und die Hexe an den Forellen gütlich, während Meli an ein paar Früchten knabberte.
„Unsere Vorräte werden in Kürze zur Neige gehen“, stellte die Fee mit einem Blick in ihren Rucksack fest.
„Dann müssen wir irgendwo unseren Reiseproviant aufstocken“, sagte Erny und pulte sich eine Gräte aus den Zähnen.
Jess kam erst spät in die Gänge. Sie hinkte der Gruppe wieder hinterher und erntete den ein oder anderen Schubser von Nike, wenn sie zu weit zurückfiel. Das Grasland hatte sich gegen Mittag in heckendurchsetztes Felsgebiet verwandelt, das von kantigem Schieferstein durchwirkt war. Der Bach war nach Osten abgebogen.
Meli verlangsamte ihre Schritte, bis Jess zu ihr aufgeschlossen hatte.
„Du siehst scheiße aus“, sagte die Fee und musterte die riesigen Augenringe in Jess´ rundem Gesicht.
„Danke“, raunte Jess, zu müde, um auf Melis ungewöhnlich vulgäre Wortwahl zu reagieren.
„Schlecht geruht?“, mutmaßte Meli und bot ihrem Gegenüber eine Handvoll Nüsse an. Es waren die letzten, die sie noch hatte.
Jess, die das Frühstück verschlafen hatte, nahm die Nüsse wortlos entgegen und stopfte sie sich alle gleichzeitig in den Mund, wodurch sich ihre Pausbäckchen zu richtigen Hamsterbacken aufblähten.
„Ja“, antwortete sie mit vollem Mund, bevor sie schluckte. „Und weißt du auch warum? Weil irgendetwas in der Nacht in unser Lager geschlichen ist und mich angestupst hat! Das schwöre ich! Ich bin davon aufgewacht. Ich habe Schritte gehört, die weggelaufen sind.“
„Äußerst gruselig“, merkte Meli an.
„Allerdings!“, bestätigte Jess. Dann stieß sie die Fee mit dem Ellbogen leicht an die Seite und nickte zu Chanti. „Du, sag mal: Was hat die alte Hexe eigentlich gegen dich?“
Meli folgte ihrem Blick und zuckte dann traurig mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
Wenig später stolperte die Gruppe auf eine breite Handelsstraße. Niemand von ihnen kannte sich gut in der Gegend aus, weshalb sie beschlossen, dem Weg eine Weile zu folgen. Die Vegetation wurde bald wieder üppiger; Birken und Eichen wuchsen nebst Brombeersträuchern und Hagebutten seitens der Straße in die Höhe. Irgendwann bemerkte Chanti am Wegrand ein verwittertes, von Flechten überwuchertes Holzschild mit der Aufschrift Gûnerstadt – 5 km.
Von Gûnerstadt hatte noch keiner der Gruppenmitglieder etwas gehört. Aber weil sie ihren Proviant sowieso bald aufstocken mussten, beschlossen sie, sich dort nach Vorräten umzusehen.
Der besagte Ort entpuppte sich als eine Marktstadt, die von einer dreimeterhohen Wehrmauer mit aufgesetzten Zinnen umrandet wurde. An einem Wimpelspeer flatterte ein grüner Stofffetzen fröhlich im Ostwind.
Chanti, Erny, Meli und Jess kamen an ein großes Steintor, an dem ein junger, von Akne geplagter Jugendlicher in einer grünen Uniform mit weißem Spitzenkragen stand und gelangweilt dreinschaute. Als er die ankommende Gruppe zur Kenntnis nahm, stellte er sich aufrecht hin und begann, mit monotoner Stimme zu predigen: „Willkommen in Gûnerstadt, der schönen und reichen. Willkommen alle Händler und Touristen. Lasst Euch von alten Bauten und bunten Marktzelten faszinieren. Begegnet zahlreichen Zwischenhändlern aus der ganzen Welt und schlagt exotische Schnäppchen aus allerlei Ländern. Ein Spaß für die ganze Familie. Jippie.“ Der Bursche hob träge die Arme in die Luft und ließ sie dann wieder sinken. Mit teilnahmsloser Miene fuhr er fort: „Und nicht vergessen, Euch gegen Abend bei Madame Jean-Marie einzuquartieren. Madame Jean-Marie, ihre Reiseunterkunft des Vertrauens. Das erste Haus in der Nordallee. Madame Jean-Marie.“
Der grüngewandete Bursche drückte Erny im Vorbeigehen noch eine Werbebroschüre in die Hand und ließ dann wieder die Schultern hängen, als hätte man ihm die Luft ausgelassen.
„Nun gut“, sagte Erny, nachdem der seltsame Anpreiser außer Hörweite war. „Ich würde vorschlagen, wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Jeder ist für seinen eigenen Proviant verantwortlich. Wir bleiben nicht über Nacht hier. Und auf gar keinen Fall quartieren wir uns bei Madame Jean-Marie ein! So, ich gehe mit Chanti. Meli geht mit Jess. Und Nike behält Jess im Auge! Sonst geht die uns noch stiften.“
„Ähm“, setzte Meli zögerlich entgegen. „Wäre es möglich, dass ich Chanti an deiner statt begleite? Nike wird selbstredend weiterhin auf die Gestaltwandlerin aufpassen. “
Erny blickt die Fee einen Moment unentschlossen an, gab dann aber sein Einverständnis mit einem Nicken preis. Chanti rümpfte hingegen wenig begeistert die Nase.