Trotz Chantis beunruhigender Ausführung über den Untergang Marios hatten die Reisegefährten die Nacht im Eingang der Höhle verbracht. Zu sehr hatten sie befürchtet, dass sich das Tor zu dem sagenumwobenen Zwergenreich bei Sonnenaufgang schließen würde und sie einen ganzen Tag auf das erneute Auftauchen des Mondes warten müssten.
Darauf, in der Nacht durch die unterirdischen Gänge zu rennen, war allerdings keiner von ihnen sehr erpicht gewesen, weshalb sie lediglich ihr Gepäck und ein wenig Feuerholz in Marios Reich verfrachtet und dann ihr Lager am Ende der steinernen Treppe aufgeschlagen hatten.
Am nächsten Morgen weckte sie ein unheilvolles Geräusch, das an das Knirschen eines Mahlsteines erinnerte und in einem dumpfen Schlag endete. Alle Vier drehten die Köpfe zum Eingang der Höhle, doch kein Funken Licht war zu erkennen. Möglicherweise ragte die Treppe bereits zu tief in die Erde, als dass Sonnen- oder Mondlicht bis zu der Gruppe hätte vordringen können. Doch es gab noch eine weitere Möglichkeit, die die Abwesenheit des Tageslichtes erklärte.
„Das Tor hat sich geschlossen“, bemerkte Chanti. Ihre Stimme hallte dumpf an den Felswänden wider. Die Hexe machte sich daran, ihr Gepäck aufzuklauben. Ihren Hund schnallte sie sich ausnahmsweise nicht an den Rücken, worüber Leo im Grunde ganz froh war. So konnte er die unterirdischen Stollen selbst erkunden und sich für eine Weile die Beinchen vertreten.
Obwohl die Gruppe nun von der Außenwelt abgeschnitten worden war, befand sie sich dennoch nicht in völliger Dunkelheit. An den Felswänden glommen feine Linien, die das dunkle Gestein wie lumineszierende Äderchen durchzogen. Von schrillem Grün bis zu dunklem Azurblau durchliefen sie das ganze Farbspektrum.
„Das ist wunderschön“, staunte Meli, der dieses Naturschauspiel zuvor nicht aufgefallen war.
„Das ist Mittrill“, erklärte Erny. „So haben die Zwerge den leuchtenden Stein seit jeher genannt. Er durchläuft das Gefels unter den Bergen und wurde von Händlern der ganzen Welt hochgeschätzt. Doch seit Marios Minen zum Stillstand kamen, kursiert kein Mittrill mehr auf dem Markt.“
Der Gang war von fachmännischen Händen geschlagen worden und bezeugte die Handwerkskraft der Zwerge, die einst in Marios Reich gelebt hatten. In regelmäßigen Abständen waren kleine Nischen in die Wände gehauen worden, die irgendwann Feuerschalen beherbergt haben mussten. Das einstige Gewusel an zwergischen Bergarbeitern, Edelmännern, Schmieden und Händlern war nur schwer vorstellbar, aber seinerzeit musste Marios Reich ein Quell der Kultur und des Reichtums gewesen sein.
In dem glatten Steinboden hatten sich mit der Zeit Mulden und Unebenheiten gebildet, in denen klares Wasser stand. Als die Gruppe den Gang entlangging, platschte Leo vergnügt durch jede einzelne Pfütze. Nike beäugte den Welpen mürrisch, als dieser sich das nasse Fell schüttelte und sich ein Schwall feiner Wassertropfen über die Tigerin ergoss.
Der Gang führte eine ganze Weile geradeaus, bevor er scharf nach rechts abbog und schließlich in einer riesigen, leerstehenden Halle mündete.
Die Gruppe trat staunend vor. Die schwere Decke wurde von Säulen getragen, die sich Reihe um Reihe bis in die scheinbare Unendlichkeit zogen. Auch sie waren von leuchtenden Steinadern durchwachsen, die sich weiter über die Decke verästelten und dabei den Eindruck eines bunten Sternenhimmels vermittelten.
„Marios Hallen“, sagte Erny. „Dass ich einmal die Ehre haben würde, sie mit eigenen Augen zu bestaunen, hätte ich wahrlich nicht gedacht.“
Meli lief zu einer der Säulen und legte die Arme darum. Sie wirkte wie ein winziger Koala, der sich am Stamm eines Mammutbaumes festkrallte. „Diese Säulen sind von solcher Riesenhaftigkeit, dass mindestens fünf Leute sich an den Händen halten und einen Kreis darum bilden könnten“, stellte sie begeistert fest und befreite die Steinsäule wieder aus ihrer Umklammerung.
„Müssen wir jetzt etwa durch die ganze Halle latschen?“, fragte Jess wenig begeistert. Ihr Interesse für die altehrwürdige Zwergenarchitektur hielt sich in Grenzen.
„Nein“, versicherte ihr Chanti. „Hier muss irgendwo der Westausgang sein. Wir müssen ihn nur finden.“
„Führt Erny nicht einen Kompass in seinem vielfältigen Sortiment? Damit hätten wir immerhin die Richtung“, merkte Meli an.
„Der gehört zu meiner Verkaufsware. Wenn ich ihn benutze, kann ich ihn später nicht mehr als neu verkaufen.“
Jess verschränkte die Arme ineinander. „Wäre nicht das erste Mal, dass du deine Kunden anflunkerst. Den kleinen Jungen in Gûnerstadt wolltest du mit einem wertlosen Kaleidoskop bezahlen.“
„Komm schon, Erny“, versuchte es nun auch Chanti. „Sieh es als Test deiner Ware. Wenn der Kompass funktioniert, kannst du den Kunden von seiner Qualität überzeugen.“
Der Zwerg knirschte mit den Zähnen, doch schließlich gab er nach. „Na gut.“
Es dauerte ein Weilchen bis Erny den Kompass in seinem enormen Rucksack gefunden hatte. Seine Reisegefährten hatten sich gespannt um ihn herumgestellt und warteten darauf, dass sich die Nadel endlich beruhigen und ausrichten würde.
„Da ist Westen“, sagte Erny und zeigte in die besagte Richtung. Den Kompass verstaute er rasch wieder in seinem Rucksack.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Leo wuselte zwischen den Säulen herum, während Nike mit angelegten Ohren durch die Halle schlich. Der Welpe schien sich einen Spaß daraus zu machen, der Tigerin hinter einer Säule aufzulauern und unvermittelt neben ihr in eine Wasserlache zu springen, um sie zu durchnässen.
Als die Reisenden das westliche Ende der Halle erreicht hatten, fanden sie sich einer aalglatten Felsmauer gegenüber.
„Lauft die Mauer auf und ab, irgendwo muss es hier weitergehen“, ordnete Chanti an. Sofort teilten sich die Gefährten auf und begannen, die Hallenmauer in beide Richtungen abzugehen.
So liefen sie eine ganze Weile, ohne irgendwelche Durchgänge zu finden. Wie viel Zeit verstrich, ließ sich nicht am Stand der Sonne ablesen, und Erny hatte seine einzig verbliebene Armbanduhr in weiser Voraussicht tief in der Innentasche seines Mantels versteckt und gedachte nicht, sie in absehbarer Zeit wieder hervorzuholen.
Die leisen Schritte der Reisenden hallten an den Steinwänden wider und durchbrachen die Stille, die seit langer Zeit in Marios Hallen vorgeherrscht hatte. Irgendwann mischte sich ein mitleiderregendes Quicken in das monotone Geräusch, gefolgt von einem wütenden Fauchen.
„Das ist mein Leo-Baby!“, schrie Chanti und rannte los. Sie folgte dem Lärm bis zu einem in die Südwand gehauenen Torbogen. Ihre Reisegenossen waren ebenfalls auf die Geräusche aufmerksam geworden, sodass sie alle miteinander durch das Tor preschten und in eine viereckige Kammer gelangten. Dort fanden sie Nike auf, die Leo mit dem Nacken im Maul hielt und ihn ordentlich durchschüttelte. Der Welpe gab herzzerreißende Laute von sich. Als Nike sich der Herbeieilenden gewahr wurde, gab sie das Schütteln auf und stierte ertappt zum Kammereingang.
„Halte ein! Lass ab von dem Welpen!“, befahl Meli ihrer Großkatze.
Nike öffnete das Maul und Leo fiel wie eine reife Frucht zu Boden. Dort angekommen rappelte sich das Hündchen sofort auf und lief kreischend in die Arme seiner Herrin. Chanti hob Leo auf und wiegte ihn beruhigend im Arm.
„Deine Katze hätte beinahe meinen Liebling gefressen!“, herrschte sie Meli an.
„Dürfte ich kundgeben, dass dein Spross wiederholt das klatschnasse Fell in Nikes Nähe geschüttelt hat oder durch die Pfützen gesprungen ist, um meine Katze zu provozieren?“, entgegnete Meli.
Chanti sah zu ihrem Hund. „Wenn das so ist, dann hast du es dir selbst zuzuschreiben.“ Sie setzte ihn wieder auf den Boden, wo er sich beleidigt hinlegte.
Erny war von Chantis Reaktion überrascht. Er hätte erwartet, dass Chanti und Meli das Betragen ihrer Haustiere zum Aufhänger nehmen würden, sich gegenseitig anzugiften. Doch stattdessen lächelten sie sich friedfertig an. Tatsächlich hatten sich die Hexe und die Fee seit ihrer Aussöhnung in Gûnerstadt nicht mehr gestritten.
„Was ist denn das für eine olle Besenkammer?“, fragte Jess und sah sich in dem kleinen Raum um. An der Decke befand sich ein Schacht, durch welchen blasses Tageslicht hineinfiel. Das Licht traf genau auf einen Tisch in der Mitte des Raums, der aus einem einzigen rechteckigen Block bestand, und der von einer schweren, weißen Steinplatte bedeckt wurde.
„Das ist Marios Grabmal“, antwortete Erny ehrfürchtig.