Am nächsten Morgen erschien ihnen der Heulende Wald nicht mehr so unheimlich. Das Grauen, das in den Büschen gelauert hatte, konnte sie nicht länger beunruhigen. Die Killer-Yorkies hatten in Atani ein sanftmütiges Alphatier gefunden, das die Reisenden gewiss nicht angreifen würde. Und mit dieser erleichternden Erkenntnis hatte der Wald jegliche Bedrohlichkeit verloren. Die Kiefern waren nicht weniger groß und die Düsternis war nicht weniger durchdringend als die Tage zuvor, aber trotz alldem war der Heulende Wald nur ein gewöhnlicher Wald.
Frohen Mutes schritten Chanti, Erny, Meli und Jess voran; sie erfreuten sich der im Nebel glitzernden Spinnweben und lauschten dem Knarzen der Bäume. Der Geruch von feuchtem Moos, Harz und Pilzen war dem des Fichtenhains, wo Chantis Lebkuchenhäuschen stand, gar nicht so unähnlich, sodass die Hexe das wohlige Gefühl von Vertrautheit überkam.
„Du bist also eine Prinzessin?“, fragte Jess und stieß Meli sanft mit dem Ellbogen an. Ihre Stimme verklang im Nebel des Waldes.
„Ja“, gab Meli zu. „Ich bin die Prinzessin der Lande-der-in-der-Sonne-glitzernden-Wasserfälle. Meine Eltern hatten vor, mich standesgemäß mit irgendeinem Fürsten zu verheiraten. Doch, wie du dir denken kannst, entzog sich diese Planung meines Einverständnisses. Ich bin nicht sehr bewandert in Herzensangelegenheiten. Meine Interessen sind anderer Natur.“
„Und welcher Natur sind sie?“, bohrte Jess nach.
Meli warf einen kurzen Blick auf ihre Tigerkatze und lächelte. „Ich ziehe es vor, eine verrückte Katzen-Lady zu sein.“
„Kann ich total nachvollziehen“, meinte die Gestaltwandlerin und stimmte in das Lächeln der Fee mit ein.
Noch vor Einbruch der Nacht hatten sie den Rand des Heulenden Waldes erreicht. Nun, da die Bäume nicht länger die Sicht versperrten, offenbarten sich ihnen die Unheilsberge, die wie gewaltige Wolfszähne in den feurigroten Abendhimmel ragten. Die Sonne hatte die Bergspitzen bereits überschritten, sodass sich das Gebirge dunkel gegen das schwindende Licht abzeichnete.
Die Gruppe war stehengeblieben und betrachtete die anmutigen Höhen, die so riesenhaft vor ihnen lagen.
„Wow“, staunte Erny.
„Ein wahrhaft hoheitsvoller Anblick“, stimmte Meli zu.
„Ja, ist ganz okay“, meinte Jess und zuckte mit den Achseln. Dann überkam sie ein anderer Gedanke: „Und wie sollen wir es da rüber schaffen?“
„Wer sagt, dass wir drüber gehen?“, sagte Chanti und blickte Jess verschmitzt lächelnd an.
Die Gestaltwandlerin beobachtete Chanti mit krauser Stirn, als diese nach vorne trat und gegen die felsige Wand zu klopfen begann. Der Pfad, der die Gruppe durch den Heulenden Wald geführt hatte, endete an ebenjener Felswand abrupt. Einen Gebirgspass schien es nicht zu geben. Also wohin hatte der gewundene Pfad sie geführt, wenn es hier nicht weiterging? Wozu war der Weg durch den Heulenden Wald ursprünglich ausgelegt worden?
Das Sonnenlicht verlor rasch an Stärke, die Schatten der Berge wuchsen mit jeder Sekunde an. In weiter Ferne leuchteten die Baumkronen noch im goldenen Abendlicht, doch schließlich lag auch der Wald in Dunkelheit getaucht. Bauschige Wolken trübten den Blick auf die Sterne.
Erny, Meli und Jess hatten sich am Fuß des Berges niedergelassen. In der Dämmerung würden sie ja doch keinen Weg finden, dann konnten sie auch ihr Lager hier aufschlagen und bis zum Morgengrauen warten, um sich über den Fortgang der Reise Gedanken zu machen. Einzig Chanti machte es sich nicht gemütlich, sondern inspizierte weiterhin die Felswand, als würde sie nach etwas suchen. Was genau sie trieb, verriet sie ihren Reisegenossen jedoch nicht.
Erny machte sich daran, ein kleines Feuer zu entzünden, während Jess sich auf dem Boden ausstreckte, um ihren geschundenen Gliedmaßen endlich ein wenig Ruhe zu vergönnen. Es dauerte keine drei Sekunden, bis sie eingeschlafen war. Meli hatte sich neben Jess in den Schneidersitz gesetzt und kraulte ihre schnurrende Tigerkatze. Ihr Blick war auf die Hexe gerichtet, die ruhelos umherging.
„Was sie wohl zu finden erhofft?“, fragte sich Meli leise.
„Was auch immer es ist, in der Dunkelheit wird sie es wohl kaum finden“, meinte Erny und warf seinerseits einen Blick auf die Hexe. „He, Chanti, willst du dich nicht zu uns gesellen?“
Chanti hielt inne. „Jeden Augenblick ist es so weit. Dann wird es sich offenbaren!“
„Es?“, stutzte Erny. „Was meinst du mit es?“
In diesem Augenblick bahnte sich das Vollmondlicht einen Weg durch die Wolken und fiel in hellem Schein auf die Felswand vor Chanti. Die Hexe trat einen Schritt zurück. Auf dem glatten Stein begannen sich leuchtende Linien abzuzeichnen, die das kalte Mondlicht reflektierten. Sie vereinten sich zu einem blau flimmernden Torbogen, der eine verschnörkelte Inschrift beherbergte.
„Das Tor“, hauchte Chanti.
Erny legte seinen Zündstock beiseite und stand auf, den Blick starr auf die Felswand gerichtet. „Natürlich. Das Tor zu Mario! Wie konnte ich die alten Bergstollen von Mario vergessen!“
Auch Meli war nun aufgestanden und reihte sich neben den Zwerg ein. „Ob ihr wohl die Güte besäßet, mich ins Bilde zu setzen?“
Erny holte tief Luft, bevor er zu erzählen begann: „Mario war ein Zwergenfürst, der vor vielen Jahren ein Zwergenreich unter den Unheilsbergen errichtet hat. Gold, Silber, Erz und Edelsteine. All diese Schätze trugen die Berge unter sich begraben. Und die Zwerge haben seit jeher nach Bodenschätzen gegraben. Sie trieben Handel mit den Hohen Landen, jenseits der Berge. Doch auch diesseits müssen sie seinerzeit gehandelt haben, sonst gäbe es den Pfad durch den Heulenden Wald nicht. Und das Tor. Das Tor, das nur das Mondlicht offenbart, weil Zwerge untertage kein Sonnenlicht sehen und es Reisende auf die Dunkelheit der Stollen vorbereiten soll.“ Erny trat einen Schritt näher und fuhr mit den Fingern über die Schnörkelschrift. „Es heißt, dass ein jeder, der das Reich Marios betreten will, sich vor dem Eingang in Demut üben soll. Und dass nur jene das Passwort kennen, die die alte Schrift zu lesen vermögen.“ Er fuhr herum und tauschte einen ernsten Blick mit Chanti. „Den Zwergen in Ehlerange wird die alte Schrift nicht beigebracht. Ich kann sie nicht lesen. Tut mir leid.“
Chanti lächelte sanft. „Du kannst sie vielleicht nicht lesen. Aber ich kann es.“
Meli besah die Hexe mit einem gespannten Blick. „Und was steht auf dem Tor geschrieben?“
Chanti hob den Kopf und begann mit fester Stimme vorzulesen: „Sprihidefich ihidefich bihidefin eiheidefein ihidefidihidefiohodefot uhudefund trihidefitt eiheidefein.“